Logik

Ich möchte statt dessen den Faden weiter verfolgen von der Sprache in Richtung Logik, Wissenschaftslogik, Wissenschaft. Fangen wir mit einem Beispiel an, Mario Nizolio.

Mario Nizolio

Valla hat in der ersten Hälfte des 15. Jh gelebt, Mario Nizolio ist ein Philosoph des 16. Jh. Ein sehr wichtiger Philosoph übrigens, mit Wirkung auf bedeutende Autoren des 17.Jh wie Leibniz. Sein bekanntestes Werk trägt den Titel “De veris principiis et vera ratione philosophandi contra pseudophilosophos”. Der Titel verrät schon eine polemische Grundeinstellung, es geht um das Bestreiten einer Kompetenz. Nizolio steht in der Tradition von Valla, Petrarca, letztlich Cicero: Die Natur als solche verbirgt sich eigentlich, sie verbirgt ihre Schätze vor uns, und erst das Wort kann da Licht hinein bringen, erst durch das Wort wird offenbar, was die Natur für uns bereit hält. Eine oft zitierte Stelle aus Cicero[1]:

Nam cum omnis ex re atque verbis constet oratio, neque verba sedem habere possunt, si rem subtraxeris, neque res lumen, si verba semoveris.

[1] De oratore, III, 5

Also insofern hat er zu den traditionell philosophischen Fragen einen ähnlichen Zugang wie Valla. Was wir bei Nizolio aber ansprechen wollen, sind jetzt Konsequenzen, die sich aus dieser gemeinsamen Haltung für Fragen ergeben, die schon mehr in die Wissenschaftstheorie hineinreichen bzw das Gebiet, das man später “Erkenntnistheorie” genannt hat.

Beweis und Beispiel

Ich sage in aller Kürze ein paar Worte, die seine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Beweises, mit der aristotelischen Beweistheorie, betreffen. Der allgemeinere Begriff, den man braucht in diesem Zusammenhang ist “Syllogismus”, Schluß. Man kann das auf verschiedene Arten und mehr oder weniger genau erklären, aber eine Möglichkeit ist, daß man sagt: Ein Syllogismus ist eine Menge von drei Sätzen von der Art, daß wenn die Konjunktion der ersten beiden wahr ist, der dritte gar nicht falsch sein kann. In der ersten Analytik hat Aristoteles eine Theorie entwickelt, die auf formale Weise jene Satz-Tripel charakterisiert, auf die das zutrifft. Eine formale Charakterisierung der gültigen Schlüsse könnte man das nennen. Entscheidend für den Begriff der Gültigkeit ist natürlich das “wenn” in jener Formulierung: “Wenn die Konjunktion der ersten beiden wahr ist...”. “Alle Tomaten sind Autohändler. Alle Autohändler sind Menschen. Also sind alle Tomaten Menschen” - das ist der Form nach ein gültiger Schluss. Aber natürlich ist die Konklusion nicht wahr; sie muß es nicht sein. Sie müßte nur dann wahr sein, wenn die beiden Prämissen wahr sind (weil nur dann die Konjunktion der beiden Prämissen wahr ist). Also es ist wichtig, daß wir zwischen Wahrheit und Gültigkeit unterscheiden, auch wenn die offenbar in sehr engen Beziehungen stehen. Man könnte sich für diese Beziehungen näher interessieren, um ihrer selbst willen - dann kommt man in Überlegungen, die die Grundlagen der Logik betreffen. Man kann aber auch einfach terminologisch festhalten, daß es offenbar unter den gültigen Schlüssen zwei Gruppen gibt, diejenigen, bei denen die Wahrheit der Konklusion feststeht, und die, bei denen das nicht so ist. Genau um diesen Unterschied geht es uns ja mit dem Begriff der Wissenschaft: Was wir in einer Wissenschaft wollen, sind wahre Sätze. Und zwar wollen wir da nicht irgendwie nur einzelne wahre Sätze finden, deren Wahrheit zB durch das Zeugnis der Sinne oder durch glaubwürdige Berichte etc verbürgt ist. Von einer Wissenschaft erwarten wir, daß sie systematisches Wissen ist, und mit diesem fürchterlich pompösen Wort ist zunächst einmal etwas ganz einfaches gemeint: Nämlich daß wir zumindest bei manchen Sätzen ihre Wahrheit aus der Wahrheit anderer Sätze ableiten können. Ein wissenschaftlicher Syllogismus ist einer, dessen Prämissen wahr sind. Das ist natürlich keineswegs eine hinreichende Definition, da fehlen noch einige Bedingungen, wie zB (bei Aristoteles sehr wichtig) die höhere Allgemeinheit der Prämissen.

Man könnte auch darauf eingehen, warum es nicht sinnvoll ist, einfach die Wahrheit der Konklusionen zu fordern. Aber das lassen wir auch beiseite, abgesehen von der Nebenbemerkung, daß es hier natürlich um eine von vielen Stellen der Abgrenzung gegenüber der Rhetorik geht. Sie müssen bedenken, daß ja auch ein politischer Redner zB auf Dauer nicht erfolgreich sein wird, wenn er zu oft falsche Konklusionen empfiehlt; darin liegt der Unterschied zur Wissenschaft nicht, er liegt viel eher beim Verhältnis von Prämissen und Konklusion, daß der Redner nämlich die Prämissen nicht danach aussucht, ob sie wahr sind, sondern danach, ob sie plausibel sind, einleuchtend. Es gibt noch einen anderen Unterschied als den zwischen Wissenschaftler und Redner, nämlich den zwischen Schurken und anständigen Leuten. Anzunehmen, daß Rhetoren eo ipso Schurken seien, ist auf jeden Fall eine Schurkerei. Wir nehmen das nicht an. Und das heißt, daß Wissenschafter und Rhetoren natürlich gleicherweise darauf aus sind, wahre Sätze zu empfehlen bzw als Konklusionen darzustellen. Bei den Prämissen scheiden sich die Geister: Wissenschaftern geht es direkt und ausdrücklich darum, wahre Prämissen zu finden, eben wegen jenem Motiv der Systematik, man könnte auch sagen: Weil der Gedanke des Beweises zur Wissenschaft gehört, oder der Gedanke der Begründung. Ein Redner aber hat oft zB einfach nicht die Zeit darauf zu warten, daß die Forschung einen Beweis für etwas erbringt, wovon er sowieso intuitiv sieht, daß es wahr ist. Dann kommt es aber trotzdem darauf an, diejenigen Prämissen zu finden, die es auch den anderen - dem Auditorium - am leichtesten machen, dieser These zuzustimmen. Also sucht er primär plausible Prämissen.

So, und wenn man sich jetzt eine Situation vorstellt, in der ein solcher wissenschaftlicher Beweis gegeben wird, wie sieht das aus? Typischerweise ist das eine Situation, in der ein Satz vorgelegt wird wie unser Beispielsatz “Alle Tomaten sind Menschen”, und jetzt ist die Frage, ob das begründet werden kann. Sagen wir, der Fragesteller weiß nicht genug, insbesondere nicht genug über Tomaten und Menschen, und daher möchte er sich das jetzt von der Wissenschaft erklären lassen. Aus dieser Perspektive kann man den vorgelegten Satz als das Problem bezeichnen. Das Unklare, das, dessen Wahrheit gerade in Frage steht. Und jetzt macht Aristoteles ein paar einleuchtende Annahmen über diese Art von Situation, Grundannahmen seiner Wissenschaftstheorie. Einfache Annahmen, aber wenn man sie zusammen nimmt ergeben sich auch Spannungen.

Die erste dieser Annahmen ist, daß wenn in solchen Situationen überhaupt erfolgreiche Beweise geführt werden, daß sie dann aus Gründen geführt werden müssen, die bekannter und vertrauter sind als das Problem selbst. Sie müssen von Elementen, heute würde man vielleicht sagen: items her geführt werden, die besser bekannt sind. Es wäre einfach unsinnig, etwas Unklares durch etwas zu erklären, was noch weniger verstanden, noch weniger bekannt ist. Das ist eine Binsenweisheit und es ist auch durch negative Erfahrung immer wieder zu bestätigen - vor allem in der Philosophie. Man stellt irgendeine harmlose Frage, und schon kommt der Andere mit absolut obskuren Sachen daher, die man noch viel weniger verstehen kann. Das ist keine gute wissenschaftliche Vorgehensweise.

Anderseits aber muß man leider sagen, daß wenn die Gründe bekannter sind, ja wenn sie überhaupt bekannt sind, daß dann die Sache ja schon erklärt ist. Was will ich denn noch wissen? Dieser Gedanke ist natürlich vor allem relevant, wo es um den Nutzen der wissenschaftlichen Erkenntnis als solcher und insgesamt geht, und nicht nur eine Einzelfrage. Wenn wissenschaftliches Vorgehen im Innersten dadurch bestimmt ist, daß die jeweiligen Erklärungsgründe schon bekannt sind, dann ist das eine extrem statische Vorstellung von Wissenschaft und vor allem auch nicht wirklich realistisch. Wir denken uns doch die Wissenschaft eher als einen Prozeß, in dem etwas bekannt wird oder bekannt gemacht wird. Das ist eine genau so plausible Anforderung wie die erste.

Aristoteles hat, um der Spannung gerecht zu werden, eine Unterscheidung an dem Begriff “bekannt” vorgenommen. Zuerst einmal nimmt er offenkundig (und vernünftigerweise) an, daß es da um graduelle Unterschiede geht. Und dann unterscheidet er ein “der Natur nach Bekannteres” von einem “für uns Bekannteren”. Vielleicht haben Sie Schwierigkeiten, diese Unterscheidung zu akzeptieren - denn schließlich, was soll es heißen, von einer Bekanntheit zu reden, die nicht für jemanden, sondern nur an sich besteht? Aber letzlich ist sein Vorschlag vielleicht ganz plausibel. Er meint sehr wohl, daß jenes “der Natur nach Bekanntere” etwas ist, was erst gefunden werden muß, aber wenn man es hat, dann ist es das Klarere, Einfachere, leichter zu Verstehende. Dh seine Auffassung ist eigentlich die: Wir stehen in einer Situation, die sowohl vertraute und verstandene Elemente, wie auch unverstandene enthält. Die vertrauten Elemente sind “das für uns Bekanntere (eigentlich: Bekannteste)”; sie reichen aber, auch wenn wir sie noch so oft hin und her drehen, nicht aus, das Unverstandene aufzuklären. Wir können aber natürlich auch nicht sagen, daß wir dieses Unverstandene schließlich durch etwas erklärt haben werden, was noch weniger verstanden ist. Sondern wir werden es - im Erfolgsfall - sehr wohl durch etwas besser Verstandenes erklärt haben, wobei das halt in der Erkenntnissituation des Fragenden gleichsam noch nicht realisiert war; es war samt seiner besseren Verständlichkeit nur “der Natur nach da.”.

Es gäbe viel über diese Dinge zu sagen, ein Aspekt ist zB sicher, daß wir in unserer faktischen Erkenntnissituation oft gerade die Dinge für klar, einfach und bekannt halten, die es gar nicht sind, sondern die sehr kompliziert sind in Wahrheit. Und etwas anderes, was wir gar nicht sehen, was wir sozusagen habituell übersehen, ist viel einfacher. Eine simple Beobachtung, die uns die Auffassung des Aristoteles näher bringen kann, eine Beobachtung, die typischerweise von Philosophen in den Vordergrund gerückt wurde, die dem gewöhnlichen, dem nicht-theoretischen Verständnis einen hohen Wert zuerkennen, wie Pascal oder Wittgenstein. Ein anderer Punkt ist, in wie auffälliger Weise eine solche Erläuterung eigentlich gerade keine Antwort gibt auf die Frage, wie nun konkret ein Problem gelöst wird. Es wird ja überhaupt nicht gesagt, wie dieses der Natur nach Bekannte zugänglich gemacht werden kann von dem “für uns Bekannten” aus. Dieser zweite Punkt ist schon einer der wesentlichen Kritikpunkte des Nizolio, aber wir steuern das nicht so direkt an. Uns - und das heißt vor allem dem Nizolio - geht es zunächst um eine vielleicht noch grundlegendere Sache, die negative Ausschaltung einer Möglichkeit, einer Alternative in dieser Frage.

Nizolio sagt, einen Dialog mit der Natur, in dem dasjenige, was nach ihren Maßstäben klarer ist, auch zu einem für uns Klareren gemacht werden kann, den gibt es einfach nicht. Man kann mit der Natur keine Argumentation führen, in der sie das offenbart. Wenn eine Argumentation für mich einsichtig sein soll, dann kann das immer nur heißen: Es wird auf Gründe rekurriert, die für mich bekannter, klarer, einfacher etc sind. Und daher muß die Frage, wie etwas bekannt wird, was vorher unbekannt war, noch einmal aufgenommen werden, diesmal, ohne daß man in das Unbekannte eine sog “natürliche Bekanntheit” hineinschwindelt. Aber natürlich auch, ohne daß man nun tatsächlich Unverstandenes durch noch weniger Verstandenes erklärt.

Die Antwort des Nizolio in dieser Frage ist der Begriff Beispiel (exemplum). Zur Klärung einer unklaren Sache komme ich nur dadurch, daß ich die wesentlichen Züge oder den “Kern” des Sachverhaltes konkret, eben exemplarisch, darstelle. Es gibt einen ersten Schritt oder eine erste Stufe der Gemeinsamkeit mit Aristoteles: Ich bin in einer Situation, wo mir etwas unklar ist, ich weiß oder kenne gewisse Faktoren nicht, die den Sachverhalt in seinem Wesen ausmachen oder determinieren. Und natürlich kann man sagen: die Klärung muß dann von etwas kommen, was jetzt, so wie die Lage beschrieben ist, noch nicht klar liegt. Aber von diesem Punkt an gehen die Wege auseinander, denn Nizolio meint, das Bekanntwerden dieses relativ Unbekannten könne nur so vor sich gehen, daß ich mir konkret vor Augen führe, was ich bisher nicht gesehen habe, also indem ich den Sachverhalt erweitere, oder zergliedere, indem ich zusätzliche Evidenzen berücksichtige, Verbindungen herstelle etc. Ich muß mehr zu sehen trachten. Während bei Aristoteles, da ginge es im Grunde immer nur um Abstraktion. Einen Schritt hin zu einem Allgemeinen, das schon gewonnen worden ist in einem Prozeß, der als ganzer einfach verschwiegen wird. Die wahre Demonstration, sagt Nizolio, stützt sich nicht auf Bekanntes, sondern macht bekannt. Demonstration ist nicht Ableitung, sondern Exemplifizierung. Wichtig ist, daß Sie hier nicht nur eine mächtige Tendenz zum Empirismus iA sehen, sondern daß er das Exempel als Argument betrachtet, also sowas Ähnliches wie Induktion. Der Begriff des Arguments wird dadurch verändert: Das ist nicht mehr eine genaue formale Struktur, sondern das Argument ist einfach der Grund (was immer es im Besonderen sein mag), durch den eine unklare oder zweifelhafte Sache klarer oder glaubhafter wird. Aber wenn man von hier aus zurückblickt, dann sieht man, daß der Begriff des wissenschaftlichen Syllogismus jetzt seine Schärfe verloren hat und ein Kontinuum von Wissenschaft und Rhetorik sich herstellt.

Da liegt der Zusammenhang mit den allgemeinen humanistischen Trends: Es geht gegen die abstrakt-allgemeine Wahrheit, auf die man außerhalb des Diskussionszusammenhanges, des rhetorischen Zusammenhanges zurückgreifen könnte. In diesem Begriff des Exempels steckt sehr viel von dem, was wir Evidenz nennen - und es ist wichtig sich klar zu machen, bis zu welchem Grad auch das noch in die rhetorische Dimension gehört. Das kann durchaus ein Zitat sein, etwas was andere über die Sache schon gesagt haben.

Mit dem Begriff des Exempels kommen wir, das werden Sie selbst bemerkt haben, an eine Art Nahtstelle von Rhetorik und Naturphilosophie. Bei Nizolio selbst steht im Vordergrund die rhetorische Seite, nämlich die Aufwertung des Einzelnen in der wissenschaftlichen Argumentation. (Es war auch schon bei Aristoteles ein Charakteristikum des rhetorischen Schlusses, daß in ihm singuläre Terme vorkommen können). Das Exempel ist einfach ein Königsweg, um Einzelnes in die Argumentation einzubringen. Auf der andern Seite aber hat das natürlich gewaltige Affinitäten zum wissenschaftlichen Experiment. Wir haben gesagt: Den Sachverhalt konkret vor Augen führen, ihn erweitern, seine Beziehungen aufzeigen, eventuell die Sache zerlegen etc. Das ist auch schon Beschreibung von Zielen in der experimentellen Praxis. Das heißt, wir haben in diesem Stück Motive kennengelernt, die auch außerhalb der eigentlich humanistischen Strömung bedeutend sind, in der Veränderung des wissenschaftlichen Denkens als solchen. Und da werden wir finden, daß was bei Nizolio ein Einwand gegen Aristoteles ist, bei anderen Autoren auftauchen kann als Element einer immanenten Entwicklung der aristotelischen Wissenschaftstheorie.

Definition

Ich möchte noch ein paar Worte sagen zu einem anderen Lehrstück des Nizolius, das irgendwie sogar noch näher an der sprachphilosophischen Thematik liegt, also ich hätte das vielleicht besser umgekehrt gemacht und erst nachher über den Beweis geredet. Seine Auffassung von Definition. Ich stütze mich da auf das Buch von Matthias Wesseler, Die Einheit von Wort und Sache. Der Entwurf einer rhetorischen Philosophie bei Marius Nizolius. Also Sie können übrigens leicht sehen, warum Wesselers Buch da wichtig ist, denn die Definition ist ja - haha, Sie müssen nicht lachen - fast definitionsgemäß der Punkt, wo man sprachlich direkt und entschlossen auf die Sache losgeht (ob man da lacht oder nicht hängt ein bißchen davon ab, wie man das Verhältnis von Blaise Pascal und Aristoteles sieht: Pascal war ja der erste, der eine in sich geschlossene und radikale Theorie der Definition als Nominaldefinition aufgestellt hat; aber natürlich waren auch vorher nicht alle Philosophinnen von der aristotelischen Auffassung überzeugt, daß eine Definition das Wesen der Sache gibt und umgekehrt - daß das Wesen der Sache ihre Definition ist. Na ja Schluß der kryptischen Nebenbemerkung).

Nizolius jedenfalls hat gegen die an Aristoteles orientierte gewöhnlich Auffassung von Definition - daß sie durch genus und differentia gegeben wird - einige sehr interessante Einwände. Oder sagen wir: er nimmt daran Veränderungen bis zur Unkenntlichkeit vor. ZB sagt er statt Differenz: proprium. Eine Sache wird definiert durch Gattung und proprium.

Sie wissen, was ein proprium ist, aber weil ich sonst nicht wüßte was ich sagen soll wiederhole ich kurz den wichtigen Punkt: Ein proprium, griechisch idion, ist eine Bestimmung über eine Sache oder eine Art, durch die diese Sache oder Art vor anderen herausgehoben ist, durch die sie wie ich sagen würde charakterisiert werden kann, aber ohne daß das eine Wesensbestimmung ist. Also daß die Menschen Geometrie treiben können, das ist ein proprium an ihnen. Es ist kein Wesensmerkmal, es gibt auch Menschen die es nicht können. Aber im Großen und Ganzen und im Prinzip können sie es, und alle anderen können es nicht: die Zahnputzbecher können es nicht, die Alpenbäche können es nicht, die Kühe und die Winternächte können es auch nicht. Die Bestimmung proprium als solche steht also irgendwie in einer Reihe bzw in Konkurrenz mit den Bestimmungen Gattung, Art, Differenz, Akzidenz. Eine akzidentelle Bestimmung hat mit einer Propriums-Bestimmung das Negative gemein, daß sie beide keine Wesensbestimmungen sind; aber sie ist nicht charakteristisch (Beispiel: die Stupsnäsigkeit des Sokrates).

Interessant ist natürlich das Verhältnis zur Differenz. Und da muß man als erstes ganz einfach sagen, daß das Proprium vor allem positiv ist. Wir meinen damit etwas, was mehreren Dingen gemeinsam zukommt, nicht so sehr, was sie von anderen unterscheidet. Vielleicht sagt man überhaupt am besten: Mit dem Wort proprium ist vor allem die positive Hinsicht gemeint, in der einer Sache eine Charakteristik zugesprochen wird. Nicht gemeint ist eine besondere Klasse von charakteristischen Eigenschaften, die man an sich die “Propriums-Eigenschaften” nennen könnte, und die dann irgendwie auf bestimmte Dinge verteilt sind, und andere Dinge haben sowas nicht, sondern nur Differenzen. Das wäre völlig daneben. Von ihrem Inhalt her kann ein und dieselbe Prädikation sowohl Proprium als auch Differenz sein, und zwar sogar in Bezug auf ein und dieselbe Sache oder Art. Sinneswahrnehmung, das ist jetzt ein Beispiel von Nizolio, ist in Bezug auf die Menschen, sofern sie Lebewesen sind, ein proprium, das sie mit den Tieren gemeinsam haben, und es ist in Bezug auf die Menschen eine Differenz, die sie von den Pflanzen unterscheidet.

Das erste wichtige Resultat einer solche Überlegung betrifft gar nicht so sehr die Frage, ob die Definition nun durch die Differenz oder durch das Proprium gegeben wird, sondern den tiefer liegenden Umstand, daß das auf jeden Fall nur davon abhängt, in welcher Perspektive und Hinsicht die relevanten Vergleiche vorgenommen wurden. Indem Nizolio erkennt, daß man ja genau so gut das Proprium wie die Differenz nehmen kann, erkennt er, daß das, worauf es eigentlich ankommt der Vergleich, der Wechsel der Perspektiven, das Zusammensehen der Dinge, das Auseinandersehen der Dinge sind. Also Vergleich ist da halt das Schlüsselwort. So kriegt aber natürlich der noch allgemeinere Begriff, den wir da verwendet haben, nämlich “Bestimmung”, einen neuen Sinn. Das ist jetzt nicht mehr primär etwas abstraktes, ein conceptus oder eine determinatio oder eine notio, sondern das ist jetzt eine Aktivität im allerbuchstäblichsten Sinn. Die Sache mal dem gegenüberstellen, dann wieder dem usf. Von dem abgrenzen, dann von jenem usf. Das ist jetzt schon viel konkreter, das ist eine Auffassung der Erkenntnis als solcher, eine erste Antwort auf die Frage: Was passiert da wirklich? Ich lese Ihnen eine Stelle vor und dann die Übersetzung bei Wesseler:

... haec omnia sunt contra stultam et ineptam Dialecticorum opinionem, qui propria et differentias sic immobilia esse putant, ut unum et idem subiectum simul non possit esse et differentiam et proprium, mutata scilicet, ut dixi, comparatione. Cum nec differentiae nec propria nec adeo species neque genera sint, id quod dicuntur, nisi certa quadam collatione, qua mutata desinunt esse id quod erant, et in aliam quasi naturam transformata, amittunt pristinum nomen, et aliud novum acquirunt

Das alles richtet sich ... gegen die törichte und alberne Meinung der Dialektiker, die der Ansicht sind, daß Eigentümlichkeiten und Unterschiede so unbeweglich seien, daß ein und derselbe Gegentand nicht sowohl Unterschied als auch Eigentümlichkeit sein kann, selbstverständlich, wie gesagt, bei verändertem Vergleich. Vielmehr sind Unterschiede und Eigentümlichkeiten und ebenso Arten und Gattungen nur in einer bestimmten, festen Zuordnung das, als was sie bezeichnet werden. Ändert sich diese Zuordnung aber, dann hören sie auf, das zu sein, was sie waren, und werden gleichsam in eine andere Natur verwandelt. Sie verlieren ihren ehemaligen Namen und verschaffen sich einen anderen, neuen.

Also wir könnten versuchen einen Kunstausdruck zu bilden, der ein Allgemeines zu Differenz und proprium wäre, sagen wir: “Spezifikation”. Das ist es ja, was beide funktional gemeinsam haben, daß sie innerhalb der Gattung, die das Allgemeine ist, eine Besonderung leisten. Und was das proprium dann auszeichnet gegenüber der Differenz, ist diese gewisse Positivität in der Hinsicht, aber fundamental ist auf jeden Fall die Einsicht in die Rolle des Vergleiches. Nun geht die Geschichte aber so gut wie von selbst weiter. Wenn man so einen Inhalt betrachtet, der sowohl Differenz wie auch proprium sein kann - dann sieht man, daß er natürlich auch Gattung sein kann. Wenn man das vorangegangene Argument verstanden hat, dann wird man auch das Allgemeine als solches auf Vergleiche zurückführen. Zumindest ist das eine naheliegende Tendenz. Also in Wahrheit ist das natürlich schon ein kritischer Punkt, und da ist auch ein bißchen die Frage, ob man sich wirklich auf Aristoteles beziehen möchte oder nur auf eine scholastische Tradition, die sich mit gewissem Recht auf ihn beruft. Wenn man sich auf Aristoteles selbst bezieht, dann sind die Begriffe von Gattung und Art mit der Allgemeinheit allein nicht hinreichend bestimmt. Gattung ist letztlich nicht nur als eine gemeinsame Eigenschaft oder cluster gemeinsamer Eigenschaften faßbar bei ihm. Aber woanders mag das anders aussehen, und der Universalienstreit hat sehr stark die logischen Dimensionen dieser Begriffe in den Vordergrund gestellt, und da dominiert dann tatsächlich die Allgemeinheit. Und es wäre auch nicht ganz unverständlich, wenn Nizolius dabei bliebe: Denn immerhin ist ja auch beim Vergleichen immer die Frage, wo und warum bestimmte Grenzen gezogen werden. Also daß ich sage: Aha, da haben wir also diese Dinge, die haben das und das gemeinsam. Im Grund könnte ich immer noch weiter gehen, und andere Dinge mit einbeziehen; hier ist es eine mögliche und sehr verlockende Antwort, daß man sagt: Es gibt halt sowas wie gewisse Allgemeinheiten, die sich auf natürliche Weise nahelegen. Das sind dann sowas wie primäre Gattungen oder dgl.

Aber das macht Nizolius nicht, sondern er bezieht die Allgemeinheit von Gattungsbestimmungen in diese Analyse mit ein. Auch sie sind nur Resultat oder Kürzel von Vergleichen. Aber dann wird natürlich die Frage höchst unbequem, die wir gerade aufgeworfen haben, nach den Grenzen des Vergleichens - warum endet nicht jeder Vergleich dabei, daß alles eins ist? (Wie beim Heurigen). Hier kommen wir auf den eigentlich wichtigsten Punkt. Mir scheint er hat hier in gewisser Weise den Spieß umgedreht und sich sowas Ähnliches gedacht wie das Folgende: Da offenbar die Sacherkenntnis durchgängig auf dem Vergleichen beruht, und da aber zweitens irgendwie erklärt werden muß, wie und auf welcher Grundlage im Vergleichen jene Grenzen gezogen werden, die überhaupt die Bildung von Allgemeinheiten ermöglichen - so muß ich annehmen, daß es in der kognitiven Aktivität des Vergleichens etwas gibt, was genau diese Funktion erfüllt, und was man als ein eigenes Moment hervorheben kann. Und das nennt er comprehensio - Zusammenfassung.

Es gibt eine eigene kognitive Fähigkeit des Zusammenfassens, und die liefert sozusagen für alle Vergleiche den Hintergrund, vor dem sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten abheben. Man möchte sagen: sie liefert eine erste und fundamentale Allgemeinheit - nur ist es keine Allgemeinheit. Allgemeinheit kann man immer erklären durch Abstraktion vom Einzelnen: das an dieser Rose, was sie mit allen anderen (auch wenn es faktisch keine anderen geben sollte) gemeinsam hat. Comprehensio kann man so nicht erklären; sie ist ein “Sehen des Vielen als Einheit”, aber nicht so, daß darin das Einzelne verschwindet, sondern eher so, daß es im Zusammenhang verbleibt.

Motto

Nur am Schluß noch etwas ganz Positives von Nizolio, etwas fürs Herz: die fünf Anforderungen, die seiner Meinung nach die wichtigsten sind für Philosophen: Sie müssen Griechisch und Latein können; sie müssen die rhetorische Tradition kennen; sie müssen sowohl die Klassiker gelesen haben (also etwa Homer), als auch die Umgangssprache beherrschen; sie müssen viertens Offenheit der Wahrnehmung und Unabhängigkeit des Urteils haben; und fünftens müssen sie Klarheit in ihren Gedanken sowohl wie im Ausdruck suchen.