Vorlesung 10. Logik und Wissenschaft

Wir sind vorige Woche von dem Thema Sprache schon ein bißchen zugegangen auf das Thema Wissenschaft. Nizolio's Auffassung vom Beweis, in ihren Abweichungen von dem traditionell-aristotelischen Lehrstück, war der eine Punkt. Das ist eine Frage an der Grenze von Logik und Wissenschaftstheorie. Natürlich ist die These vom Exempel als Argument vor allem einprägsam aus der wissenschaftstheoretischen Perspektive, als Parole gewissermaßen in einer breiteren Bewegung, die man von mehreren Seiten her charakterisieren kann: Von der Seite der empiristischen Tendenzen etwa, aber auch noch allgemeiner, nämlich von ihrem Interesse an der tatsächlichen Forschung, dem Interesse an der allgemeinen Struktur der Prozesse, die faktisch unsere Erkenntnis erweitern. Dazu werde ich dann noch etwas sagen. Die Sache mit dem Exempel ist aber auch logisch nicht uninteressant, ich habe das angedeutet in einer Bemerkung zu der Weiterentwicklung des Argument-Begriffes; es ist bei Aristoteles selbst ein nicht unwichtiger Punkt innerhalb der logischen Theorie, die Sache mit dem Beweis durch ekthesis. Auf diese Dinge können wir jedoch nicht eingehen.

Das andere war Nizolio's Auffassung von Definition, und die Konsequenzen, die sich daraus unmittelbar für Grundbegriffe wie Gattung, Art, Differenz etc ergeben. Wir haben hervorgehoben seine Aufmerksamkeit auf den Begriff des Vergleiches - Vergleichen als die fundamentale intellektuelle Aktivität hinter solchen Begriffen wie Differenz oder Proprium. Und wir waren dann am Schluß gerade an dem Punkt, wo sich dieser Gedanke noch einmal weiter verallgemeinert - ja man kann eigentlich nur sagen: zu einer neuen Auffassung von Allgemeinheit als solcher, die auch die Gattung als solche mit einbezieht. Das Stichwort war comprehensio, und die Frage: Gibt es eine Auffassung von Allgemeinheit, die nicht abstraktiv ist?

Ich zitiere da mal kurz eine Stelle von Wesseler:

Das genus bildet den verbindlichen Maßstab, vor dem zuerst überhaupt der Prozeß des Sehens der Unterschiede und der Gemeinsamkeiten in Gang kommen kann. Das genus nämlich - bzw allgemeiner, das universum - versteht Nizolius als jenen Raum von Beziehungsmöglichkeiten, den die comprehensio in ihrem Zusammen-Begreifen der konkreten Einzelnen schafft. Das genus ist daher jetzt kein vom konkreten Einzelnen gelöstes, abstraktes oder nur logisch konstruiertes Gebilde, sondern in ihm vereinigen sich alle Einzelnen selbst zu einer neuen Einheit. [78]

Da sind verschiedene Aspekte sehr interessant. Benennen wir mal drei, aber es gibt sicher mehr. Erstens, was ist so eine “Komprehension”? Wie realisiert sich so ein Zusammenhang von Einzelnem? Auf einer biologischen Ebene, als Bio- oder Soziotop, als eine sog “Umwelt”? Oder vielleicht mathematisch, als Menge? Zweitens, was ist die kognitiv-psychologische Basis? Es sieht doch sehr danach aus, als meinte er da so was Ähnliches wie eine Leistung der Wahrnehmung? Und drittens, das ist mehr der logische Aspekt: Er legt uns da jetzt ein Konzept von Definition nahe, wo das nicht das Widerspiel zwischen dem Allgemeinen der Gattung und dem Besonderen der Differenz ist, sondern das Widerspiel zwischen dem Einzelnen als Einzelnen auf der einen Seite, und dem Einzelnen im Zusammenhang mit anderem, vor einem Horizont. Da ist man dann natürlich aufgefordert, auch grundsätzlich über Begriffe wie Ganzheit, Einheit, Zusammenhang nachzudenken.

Sehr interessant ist zB, daß Nizolius auf die zweite Frage keine positive Antwort gibt; ich meine: er hat für die comprehensio keine klare epistemologische Deutung. Allerdings macht er beachtliche negative Andeutungen dazu: Die comprehensio ist weder eine spezielle Leistung der ratio, noch der Sinne. Wir bringen diese Einheit irgendwie beim Vergleichen zustande, aber wir tun das nicht mit unserem Verstand (etwa in einem Prozeß des Schliessens), und es ist auch nicht so, daß die Sinne uns diese Einheit gewissermaßen liefern. Nun würde man, wenn man ein wenig Ahnung von der traditionellen philosophischen Psychologie hat, jetzt gerne sagen: Aha, also kann es doch nur eine Funktion der imaginatio sein, der Einbildungskraft oder Phantasie, denn das ist das einzige Vermögen, das außer der memoria noch überbleibt, und die kommt doch keinesfalls in Frage. Und die Einbildungskraft wäre auch aus vielen anderen Gründen plausibel - aber da legt Nizolio sich einfach nicht fest. Ich glaube seine Zurückhaltung kann man nur so verstehen, daß ihm einfach dieser Aspekt nicht vordringlich erschienen ist. Wichtiger als eine erkenntnispsychologische Deutung war ihm offenbar die strukturelle Eigenart, auf die mit der dritten Frage hingewiesen wird. Es ist ja auch die erste Frage, Wie ist so eine Komprehension realisiert?, nicht beantwortet bei ihm. Es scheint also, paradoxerweise, ein sehr abstrakter Gedanke überzubleiben als Kern dieses Begriffes comprehensio, und um dem entgegenzuwirken möchte ich da das Wesentliche noch einmal hervorheben. Denn es ist in Wahrheit etwas ungeheuer Radikales.

Sie müssen bedenken, daß Nizolius die Definition durchaus noch als Erkenntnis der Sache auffasst: Was die Definition sagt oder mitteilt, das ist: Was die Sache ist. Und dafür hat die Tradition eben die Struktur festgelegt von Allgemeinheit der Gattung und Spezifikation der Differenz - dh sagen, “Was das Ding ist” heißt soviel wie: Ihm eine spezifische Stellung in einer Hierarchie von Gattungsallgemeinheiten zuzuweisen. Es in die Ordnung der Dinge nach Gattungen einzureihen. Das ist die Ordnung der Dinge. Und das ist aber bei Nizolio nicht mehr so gedacht. Jene hierarchische Ordnung der Gattungsallgemeinheiten ist jedenfalls nicht mehr das primäre Referenzsystem bei der Definition, bei der Erkenntnis, was die Sache ist. Sondern das ist nun eine Zusammenfassung von Einzelnen in einen Horizont, in eine Einheit des Nebeneinander, die gar keine von vornherein festgelegt Struktur hat, die auch strukturell uneben sein könnte gewissermaßen, wo physikalische Gegenstände, Wahrnehmungsinhalte, Eigenschaften, Relationen etc im Prinzip nebeneinander vorkommen könnten. Das ist das, was der Begriff “Gattung” jetzt meint. Nun werden Sie vielleicht denken, das geht zu weit, das ist ja dann gar keine Ordnung mehr, das ist nur destruktiv. Aber das wäre voreilig. Denn obwohl der Gedanke in dieser Form hoch spekulativ und abstrakt ist, so hat er doch zwei Bestimmtheiten, die jede für sich - und dann aber vor allem zusammengenommen - ein enormes Potential verkörpert haben.

Das ist erstens das Element, daß diese comprehensio eine Aktivität des Intellekts ist, der mens - die Ordnung der Dinge basiert auf einer Aktivität unseres Geistes, sie ist diese Aktivität. Und zweitens gibt es das Element, daß die ursprüngliche Einheit, innerhalb derer wir vergleichen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen - daß diese Einheit eine des Nebeneinander ist, wo nicht von vornherein gewisse Typen von Einzelnen ausgezeichnet sind gegenüber anderen. Alles was es da an Distinktion gibt, muß erst hineingebracht werden durch jene intelligente Aktivität, unabhängig davon gibt es nur ein Nebeneinander in einem gemeinsamen Horizont.

Das sind zwei Ideen, die sind so ungeheuer radikal im Vergleich mit der Tradition, daß man versucht ist zu sagen: das ist ein neues Weltbild. Und es sind Ideen, die wirklich fundamental in die neuzeitliche Philosophie eingebaut sind, die sind die Prägung der neuzeitlichen Philosophie. Ich spreche nur deshalb von einer bloßen Versuchung, weil eben in Wahrheit derart abstrakte Ideen nie ein Weltbild sind oder begründen oder verändern. Sie tun das nur in Interaktion mit anderen Faktoren und in sehr komplizierten Abhängigkeiten, in denen sie dann eine jeweils konkretere Gestalt annehmen, ihre Bewährung finden etc. Wir werden über die eine oder andere derartige Konkretion noch sprechen, lassen Sie mich jetzt nur einen Vorgriff machen: Die Gattung als neutraler Horizont einer Zusammenfassung von Einzelnen - das hat sich konkretisiert, schon zu Zeiten des Nizolio natürlich, in der Auffassung des Raumes als des fundamentalen Systems, in dem alle Dinge miteinander in Beziehung stehen. Und zwar sind das in letzter Konsequenz wirklich lauter gleiche Dinge, ein Massepunkt unterscheidet sich von einem anderen nur durch seine Position im Raum (oder genauer: in Raum und Zeit). Die ganze Vielfalt, die wir in der Welt erkennen, ist eine Vielfalt in der Komplexität der Beziehungen von solchen gleichen Einzelnen, Vielfalt der Funktionen. Das ist der Punkt, den Cassirer so in den Vordergrund gerückt hat - Funktionsbegriff gegen Substanzbegriff -, und das ist wirklich eine Dynamik der Renaissance-Philosophie gewesen. Auf den verschiedensten Gebieten haben da Prozesse und Entwicklungen stattgefunden, in der Naturphilosophie, in der Rhetorik, in der Logik, die neuen platonisierenden Strömungen haben auch einen Anteil daran. Nizolio ist nur ein Element in dieser Entwicklung, aber ein interessantes insofern, als man bei ihm eine so hoch abstrakte Formulierung findet. Na gut, das war jetzt eigentlich schon ein Vorgriff. Ich wollte eigentlich noch ein paar andere Dimensionen wenigstens erwähnen, die wichtig sind, wenn man sich die Veränderungen in der Wissenschaftsauffassung verständlich machen will, die sich in der Renaissance abgespielt haben.

Wissenschaftstheorie

Das Wichtigste, das ich Ihnen mitteilen will, ist etwas total Allgemeines, sozusagen fast Moralisches: Man muß in der Veränderung der Wissenschaftsauffassung und - das läßt sich kaum trennen - der Naturauffassung in der Renaissance eine authentische Leistung der Philosophie jener Zeit sehen. Komischerweise ist das nicht selbverständlich. Da scheinen Entwicklungen im Wege zu stehen, die später stattgefunden haben, und ideologische Deutungen dieser Entwicklungen, die uns den Blick katastrophal verstellen.

Die Sache wird ja immer so dargestellt, daß die klassische neuzeitliche Naturwissenschaft sich von der Philosophie emanzipiert hat, also daß da eine Wissenschaft entstanden ist, die zwar mit denselben Gegenständen zu tun hat wie die Philosophie - mit dem Körper, der Bewegung, der Wahrnehmung, der Qualität etc -, die aber keine Philosophie ist. (Ein besonders grausliches und irreführendes Wort in diesem Zusammenhang ist das Wort “Einzelwissenschaft”). Diese andere, neue und nicht philosophische Wissenschaft hat sich im 17. Jh. endgültig konstituiert, ihre Anerkennung gefunden und immer weiter entwickelt. Oft wird der Eindruck vermittelt, daß sie in ihrer Entwicklung immer weniger philosophisch wurde, manchmal dann nicht nur zu etwas Anderem, sondern zu einer richtiggehenden Feindin der Philosophie wurde, gegen die ein philosophischer Kampf geführt werden muß. In diesem Kampf werden gelegentlich propagandistisch Motive verwendet, die schon in der Kritik der Humanisten an der aristotelischen Naturphilosophie vorgekommen waren, aber die werden jetzt pikanterweise zugunsten des Aristotelismus oder irgendeiner Verballhornung davon verwendet. Nun gibt es natürlich an diesem Bild auch etwas Richtiges, nämlich daß die moderne Physik tatsächlich ein anderes Verhältnis zur Philosophie insgesamt hat, als die aristotelische Physik. Das hat zB jemanden wie Kant zu tiefem Nachdenken veranlaßt, der hat gemeint, daß es außerordentlich wichtig sei - vor allem für die Philosophie - diese gegenseitige Positionierung richtig zu begreifen, und daß das aber gar nicht einfach ist, da ist es nicht damit getan daß man sagt, Na die forschen halt empirisch, und wir bleiben zu Hause sitzen und erklären ihnen ihre Grundbegriffe, weil dazu sind sie ja zu beschränkt, dazu brauchen sie uns. Also das ist nur eine Anleitung zur Ignoranz.

Aber ich will mich jetzt gar nicht weiter mit dieser Frage iA beschäftigen, mit dem Verhältnis der Philosophie zur Naturwissenschaft in der Neuzeit, sondern ich habe einen wesentlich spezielleren Punkt im Auge, nämlich einen Aspekt der Frage der Entstehung dieser Wissenschaft. Es ist ja auch sehr dummen Leuten klar, daß diese Wissenschaft nicht so einfach von jemandem - sagen wir: Galilei, oder Newton - zu einem bestimmten Zeitpunkt erfunden wurde. Es kann sich auch nicht darum handeln, daß man da jetzt mehr Namen anführt und sagt: Na ja, halt die alle zusammengenommen. Da geht es nicht um eine Addition von einzelnen Beiträgen oder Ideen oder Leistungen, sondern um viel komplexere Prozesse, in denen gewisse Ideen oder Individuen natürlich besondere Bedeutung haben, aber in Isolation kann man die gar nicht verstehen. Also gut, man erkennt, daß da eine Entwicklung dahinter steht, die in die Renaissance, in das späte Mittelalter zurückreicht. Und da wird jetzt sehr oft ein folgenschwerer Irrtum begangen. Man sagt: Was am Ende herausgekommen ist, ist eine neue, eine nicht-philosophische Physik; wenn ich dafür Vorläufer suche, dann müssen das also kleine, partielle nicht-philosophische Physiken gewesen sein. Die, die da ganz am Anfang stehen, haben auch schon etwas anderes gemacht, als eine Philosophie der Natur, die waren auch schon ein bisserl Einzelwissenschaftler, kleine Newtons und Galileis und Maxwells, sie haben es selber nicht so genau gewußt, sie haben es sich gar nicht eingestehen können, klar, da war der äußere Druck zu groß etc. Sie waren eben Pioniere. Auf diese Art und Weise entsteht das Bild, daß es da durch die Jahrhunderte hindurch eine Philosophie der Natur gegeben hat, die war von Aristoteles inspiriert und auch weitgehend geprägt und hat sich im Grunde nicht weiter entwickelt, bestenfalls irgendwie angepaßt - vor allem weil ihre innere Struktur eine solche Weiterentwicklung gar nicht zuließ. Und auf der anderen Seite hat es immer schon, spätestens seit der späten Antike, Ansätze zu einer wirklich wissenschaftlichen Physik gegeben, nämlich im Sinne der Physik des 17., 18., 19. Jh., einer nicht-philosophischen Physik. Und in der Renaissance gab es da dann in dieser Bewegung einen Ruck, da hat sich das dann endgültig zu emanzipieren begonnen.

Dieses Bild ist aberwitzig. Damit ist es unmöglich zu begreifen, was eine Entwicklung auf dieser Ebene von Theoriebildung überhaupt ist. Denn dieses Bild besteht ja nur darin, daß man zwei ganz starre und abstrakte Teilbilder gegeneinander verschiebt, so wie zwei verschieden gerichtete Keile, und sagt: Ja, in dieser Periode - sagen wir im dreizehnten Jahrhundert - ist der Anteil von Keil 2 schon gewaltig im Zunehmen etc.

Abbildung 10-1. Grafik

Abgesehen seiner prinzipiellen Unangemessenheit hat dieses Bild besonders üble Folgen für die Einschätzung der Renaissancezeit. Es schließt gerade das apriori aus, was am interessantesten herauszufinden wäre: Nämlich wie sich die Philosophie der Natur als solche verändert haben muß, damit jene neue Art von Wissenschaft sich entwickeln und etablieren konnte. Daß es da primär um eine neue Philosophie geht muß man sehen lernen - denn ganz offensichtlich auf der Hand liegt es nicht. Ab der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts hat es im Selbverständnis der europäischen Philosophie eine Art Gegenreformation gegeben, eine erneute Wendung zur Schulphilosophie. Das war eine sehr wirkungsvolle Wende, und sie hat alles, was ihre eigene unmittelbare Vorgeschichte betrifft, schlichtweg verdrängt oder als Nicht-Philosophie ausgeschlossen. ZB wenn man sich konkret fragt, Was waren denn Elemente jener neuen Philosophie in der Renaissance, dann wird eine Antwort sein: Eine mathematische Philosophie der Natur. So hat ja auch Newton sein Werk genannt: “Philosophiae naturalis principia mathematica”. Wenn ein Mann wie Newton, der ja nicht prinzipiell ein Vollidiot war, seine Wissenschaft eine “Philosophie” nennt, warum glauben dann ab einem bestimmten Zeitpunkt alle Leute, daß es keine Philosophie ist, sondern etwas anderes? Ähnliche Überlegungen können Sie auch anstellen über die Philosophie der Liebe, die Philosophie der Sprache etc. Sie werden immer wieder hören: Na ja interessante Entwicklungen waren das schon, aber sie waren halt nicht eigentlich philosophisch, sie gehören mehr in die Literatur etc. Und das kommt immer daher, daß man in der Philosophie sich angewöhnt hat, sich selbst dadurch zu legitimieren, daß man sich von der aktuellen Situation und Ideologie her eine Geschichte, eine Vorgängerschaft aussucht, und da sucht man immer nur Elemente oder Theorien, die mit der eigenen Ideologie übereinstimmen, und man findet natürlich nie die Elemente, die in eine andere Richtung gewiesen haben, die eine ganz andere Philosophie zu entwickeln geeignet waren. Die kann man dann entweder gar nicht mehr erkennen, oder man sie nur ver-kennen als etwas anderes, als Physik oder Literatur oder Kultur etc. Also gut, das war jetzt wirklich eine etwas lang geratene Abschweifung, aber gerade in Bezug auf die Wissenschaftsphilosophie und Naturphilosophie ist das sehr wichtig, daß man sich den Blick auf die tatsächlichen philosophischen Gehalte und Tendenzen nicht verstellen läßt durch Disziplin-Einteilungen, die nur dazu da sind, Zustände zu legitimieren, die schon wieder auf viel spätere Entwicklungen zurückgehen. Ich möchte das Wenige, was ich zur Wissenschaftstheorie sagen kann, vier Schlüsselwörtern zuordnen: Methode, Erfahrung, Mathematisierung, Experiment. Ich beginne heute mal mit dem Stichwort Erfahrung.

Erfahrung

Hier ist es besonders wichtig, nicht allzu grob vorzugehen. Es hat keinen Sinn, jemanden wie Galilei als Empiriker dem Aristoteles gegenüberzustellen als einem - ja was eigentlich? Einen Rationalisten kann man Aristoteles ja kaum nennen. Also das ist einfach nicht der Punkt, um den es geht. Aristoteles hatte eine dezidiert empiristische Auffassung von Wissenschaft, aus einer gewissen Perspektive viel empiristischer als Galilei. So eine Idee wie daß man über die Form von physikalischen Gesetzen etwas sagen kann aus rein mathematisch - geometrischen Theorien heraus, das wäre für ihn unvorstellbar gewesen und wenn er das Wort gekannt hätte dann hätte er das als einen elenden Rationalismus bezeichnet.

Ein entscheidender Unterschied liegt allerdings bei der Spezifität, mit der Erfahrung jeweils gedacht wird. Bei Aristoteles ist Erfahrung auf jeden Fall immer spezifische Erfahrung. In der Neuzeit ist es so, dass Erfahrung in jedem Fall gewisse Strukturen hat oder Verläufe aufweist, die relativ unabhängig sind von dem, was da gerade jeweils in Erfahrung gebracht wird, bzw. von dem Gebiet, auf dem man die Erfahrung macht. Irgendwie hat das natürlich zu tun mit der Methodisierung der Erfahrung. Also bei Aristoteles war die Qualität von Erfahrung durch das Ding bestimmt oder durch den Gegenstandsbereich, mit dem man die Erfahrung macht. Die Erfahrung war das, was man an Einstellungen und kognitiven Erwartungen gegenüber einem Ding - oder einer Art von Ding - erwirbt in dem Prozeß des Umganges mit diesem Ding oder Gegenstandsbereich. Und deshalb ist die Erfahrung, die man mit einer Art von Dingen hat, ganz etwas anderes als die, die man mit einer anderen Art von Ding hat oder macht. Sie sind unvergleichlich. Da liegt die Änderung in der Neuzeit - Erfahrung wird vergleichlich. Und daher sehe ich persönlich zB schon in der frühen Neuzeit etwas sich herausbilden, was erst viel später, konsequent erst im 20.Jh. seinen eigenen Namen bekommen hat, nämlich den Komplex und den Begriff der 'Erfahrungswissenschaft'. Daß so ein Begriff sinnvoll verwendet werden kann zeigt, dass es möglich ist, einen sehr umfassenden Typ von Wissenschaft durch die Vorstellung von Erfahrung zu kennzeichnen, ohne spezielle Angaben zu der Art des Gegenstandes dieser Wissenschaft. Kurz gesagt könnte man auch von einer Entdifferenzierung der Erfahrung sprechen. Wir werden später sehen, daß das freilich noch eine andere Nuance bekommt im Zusammenhang mit dem Experiment-Begriff, der veranstalteten Erfahrung.

Aber die Punkte, die wir bei Nizolio hervorgehoben haben, können auch aus dieser Sicht gewürdigt werden. Wo es um Wissenschaft geht, also um planmäßiges, sicheres und innovatives Wissen, da steht im Vordergrund das konkrete Exempel. Und die Ordnung in der Wissenschaft, auch in ihrer allgemeinsten Struktur, ist nicht vorgegeben durch ein abstraktes logisches Schema, sondern wird durch eine Aktivität des Geistes in globalen, undifferenzierten Ganzheiten erst hervorgebracht - jetzt erlaube ich mir hinzuzusetzen: und sie ist daher, wie jede menschliche Aktivität, auch korrigierbar und revidierbar. Das wichtige ist, daß diese Dinge in solcher Allgemeinheit ausgesprochen werden können, und an welcher strategischen Stelle sie ausgesprochen werden. Aus einem gewissen Gesichtspunkt erscheinen sie ja einfach als Binsenweisheiten: Wenn Du eine Sache richtig verstehen willst, dann schau sie Dir genau und in allen Einzelheiten an. Da ist nichts Besonderes dabei, das wird jedem Kind von seinen Eltern gesagt. Bedeutung hat es dadurch, daß es als Maxime an die Stelle einer hochformalen Theorie tritt, die genau festgelegt hat, was ein Argument ist, und die dabei dem Auffinden eines allgemeinen Begriffes die entscheidende Rolle gegeben hatte.

Ich habe bei der Besprechung jener Dinge schon einmal gesagt: Es deutet sich da ein neues, akuteres Interesse daran an, wie die Erweiterung der Erkenntnis eigentlich vor sich geht, und wie man diese Prozesse als solche optimieren kann. Wenn man das ganz groß verallgemeinert, dann läuft das auf die Frage hinaus: Gibt es eine allgemeine Theorie darüber, wie man Unerkanntes bekannt macht? Sie müssen sehen, daß das in der aristotelischen Tradition nicht das Grundanliegen der Wissenschaft war. Dort war für die Wissenschaft charakteristisch die Frage: Wie erkläre ich aus allgemeinen Gründen dieses und jenes besondere und eigenartige Phänomen? Mit einem Wort, diese Tradition hat Wissenschaft unter einem Begründungs- oder Darstellungsaspekt aufgefaßt, die neue Sicht stellt in den Vordergrund den Aspekt der Findung, der Forschung. Und da ist das Stichwort Methode. Die Wissenschaft wird mehr zur Methode, weniger zur Begründung.