Vorlesung 6. Humanismus I

Inhalt
Die Würde des Menschen
Positionierung der humanistischen Bewegung

Wir haben in den letzten beiden Vorlesungen die Phaidros-Interpretation Marsilio Ficinos behandelt als ein Beispiel für die eigentümlichen Tendenzen im Platonismus der Renaissance. Wir sahen, wie diese Interpretation die Ideen von Schönheit, Göttlichkeit der Seele, Freiheit, und der Macht der Poesie in den Vordergrund rückt. Bevor wir uns nun vorläufig von Marsilio Ficino verabschieden, möchte ich Ihnen etwas vorlesen, das sind vier Stellen aus dem achten Buch der Theologia Platonica, die in dem Buch von Stefan Otto in Übersetzung aufgenommen sind, und wo sie den entscheidenden Zug dieser Willensmetaphysik des Ficino wunderbar dargestellt finden - natürlich ist das auch genau der Aspekt, unter dem sie am deutlichsten als eine Ideologie hervortritt: geistige Kraft, geistige Freiheit, unendliche Macht des menschlichen Geistes werden hier gefeiert, und erobert werden sie nicht in wirklichen Feldzügen; sondern diese Schätze kann man sich aneignen, indem man denjenigen, der sie vorher besessen hat, einfach versteht. Also ich lese vor:

Erste Stelle

Da kreisförmig, ist die Bewegung des Geistes reflexiv; insofern sie geistig ist, ist sie auch ewig. Denn wer entweder sich selbst oder etwas anderes begreift, kann auch sein Begreifen begreifen, ebenso eine neue Sache und ein neues Begreifen; denn während er eine Sache begreift, gewinnt er auch Einsicht in das Begreifen der Sache. Und: Was er so erkennt, steht seinem Denken offen und ist in ähnlicher Weise ohne Grenze.- Diesen Weg des Begreifens begleitet jenes Vernunftstreben, welches man Willen nennt.

Zweite Stelle

Der Geist erschafft sogar das Antlitz der Dinge immer wieder neu aus eigener Kraft und in bestimmter Ordnung, und wieder andere erfindet er aufs neue. Wenn er Schritt für Schritt aufsteigt durch die Sphären der Welt, betrachtet er dann nicht auch Schritt für Schritt die Engel, und zwar so, daß er sieht, wie ein jeder höher steht als ein anderer, aber niemals einen findet, der so hoch steht, daß er nicht einen anderen entdecken könnte, der wenigstens eine Stufe, oder einen nächsten, der nicht wiederum eine weitere Stufe höher steht? Und das tut er so lange, wie er vermeint, ein jeder Engel sei endlichen Wesens; aus solchem endlichen Vermeinen findet er immer wieder einen höherstehenden Engel. Und er würde solchermaßen unbegrenzt fortschreiten, wenn er nicht selber sich ein Maß auferlegte und auf einen unendlichen Geist schlösse, der jeden Engel, der ist und gedacht werden kann, nach zahllosen Graden übertrifft. Wer schreitet unbegrenzt voran? Wer erreicht das grenzenlose Ziel dieses Voranschreitens? Mit Sicherheit: Der Geist tut dies. Geist ist also unendliche Kraft, die auch darin zutage tritt, daß er nicht nur die unendliche Wirklichkeit findet, die Gott ist, sondern auch die unendliche Möglichkeit, die als Materie Gott unterworfen und bereit ist, unzählige Gestaltungen zu empfangen.

Dritte Stelle

Wer also wird so unverständig sein, anzunehmen, dem Geist sei in seiner Dauer eine Grenze gesetzt, da er eine solche Grenze doch weder in seinem so sehr erweiterten Vermögen noch im Vollzug seines Denkens hat - als könnte er außerhalb seiner selbst auf eine Grenze stoßen, die er nicht einmal in sich selber findet! Wenn das Leben, seinem Ursprung nach, der Vernunfteinsicht vorausgeht und die Vernunfteinsicht, ihrer Wertigkeit nach, das Leben übertrifft, und wenn die menschliche Seele mit so großer Würde gekrönt ist, daß ihr eine unendliche Kraft der Vernunft und des Willens zugestanden wurde - um so eher und um so mehr wird ihr eine undendliche Lebenskraft zugestanden sein müssen!

Vierte Stelle

Der Geist versammelt zahllose Menschen in ihrer stetigen Aufeinanderfolge in dem Artbegriff “Mensch”, desgleichen unendlich viel einzelnes unter verschiedenen Rücksichten in einer einzigen Art, er sammelt viele Arten in eine Gattung, viele Gattungen in eine Wesenheit, die eine Wesenheit schließlich in die göttliche Einheit, Wahrheit und Gutheit. Umgekehrt steigt er von dieser Schritt für Schritt in die unendliche Vielheit hinab. In der Tat: eine wunderbare Kraft! Sie gibt unendlich Vieles an ein Eines zurück und dieses Eine wiederum an das unendlich Viele. Ganz sicherlich kommt dieser Kraft keine bestimmte Ordnungsstufe in der Natur zu, insofern sie selber alle Ordnungsstufen hinauf und hinunter durchpulst. Sie hat keine bestimmte Lage, insofern sie gleichmäßig auf alles einwirkt. Auch dies scheint mir, wenn ich es so sagen darf, die unbegrenzte Kraft des Geistes vor allem anderen zu beweisen: Sie entdeckt, daß es die Unendlichkeit selbst gibt, sie definiert, was und wie die Unendlichkeit ist.

Die Würde des Menschen

Von dieser letzten vorgelesenen Stelle möchte ich gleich zu einem Text wechseln, der wohl einer der berühmtesten der Renaissance überhaupt ist, aus der “De hominis dignitate” von Pico Della Mirandola:

Nec certam sedem, nec propriam faciem, nec munus ullum peculiare tibi dedimus, o Adam, ut quam sedem, quam faciem, quae munera tute optaveris, ea, pro voto, pro tua sententia, habeas et possideas. Definita ceteris natura intra praescriptas a nobis leges coercetur. Tu, nullis angustiis coercitus, pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui, tibi illam praefinies. Medium te mundi posui, ut circumspiceres inde commodius quicquid est in mundo. Nec te caelestem neque terrenum, neque mortalem neque immortalem fecimus, ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tute formam effingas. Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare; poteris in superiora quae sunt divina ex tui animi sententia regenerari.

Ich habe dir, o Adam, weder einen bestimmten Platz, noch einen eigenartigen Anblick, noch irgendeine Aufgabe übertragen, damit du, nach eigener Bewertung und Überlegung, erlangen und bewahren sollst welchen Platz, welchen Anblick, welche Aufgabe immer du begehrst. Die begrenzte Natur von allem anderen ist in die von mir vorgeschriebenen Gesetze gefesselt. Du sollst sie dir selbst festsetzen, von keiner Schranke gezwungen, nach eigenem freien Willen, in dessen Macht ich dich übergebe. Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von da aus besser wahrnimmst, was es gibt in der Welt. Ich habe dich weder himmlisch noch irdisch geschaffen, weder sterblich, noch unsterblich, damit du dich, als freierer und würdigerer Schöpfer und Bildner deiner selbst, in die Form die du bevorzugst, ausgestalten kannst. Du wirst dich zurückbilden können zu dem Niedrigen, das die Tiere sind; du wirst dich aus eigenem Willen erheben können zu dem Höheren, das göttlich ist.

Das Nicht-Festgelegt-Sein und viele andere Punkte, die Plastizität könnte man sagen, sind hier wie bei Ficino das Wichtigste. Nun sehen wir uns diese Auffassung des Menschen und seiner Freiheit aber einmal aus einer weiteren Perspektive an, nicht nur als diese einzelnen Textstellen, und da können wir sie gewiß identifizieren als einen Kerngehalt dessen, was wir Humanismus nennen. Ich meine, in dem ganz allgemeinen Sinn, in dem man heute sagt, wenn man über sein Weltbild und seine Wertvorstellungen befragt wird, daß man eben Humanist sei. Politiker sagen das. Was damit gemeint ist, kann bei aller Vagheit aber doch verschiedene Akzente haben. Einerseits: die Erhaltung der Menschlichkeit kann über alle anderen möglichen Werte gestellt werden, also zB über die Gottgefälligkeit, oder über die Erhaltung des Lebens als solchen. Anderseits kann man mit dem Begriff Humanismus auch eher ein Deutungsprinzip verbinden, die Auffassung, daß alle möglichen Werte auf jeden Fall auf den Menschen orientiert sind, daß jedes Weltbild zuallererst ein Menschenbild ist, und daß erst die Aufmerksamkeit auf diese Tatsache es uns erlauben kann, verschiedene Zielvorstellungen, die von Individuen oder ganzen Kulturen verfolgt werden, in einen Zusammenhang zu bringen, in ein Gespräch etc.

Klarerweise stützen und ergänzen sich diese Sichtweisen, und beide setzen in gewisser Weise ein Drittes voraus, eine mögliche Antwort auf die Frage, was ein Mensch ist. In solchen Texten wie Pico's Rede lassen sich diese Perspektiven leicht finden:

Nun, der Humanismus in diesem Sinne ist eine automatisch expansive Ideologie, wenn ich so sagen darf. Ich meine: ein Humanist zu sein ist keine Selbstinterpretation, mit der man sich gegen irgendetwas abgrenzt aus der Innenperspektive heraus. Der Humanismus ist eine Einstellung, die, wenn man sie gewonnen hat, jede andere, noch so fremdartig erscheindende Auffassung wenigstens prinzipiell als intergrierbar, verstehbar, ansieht. Ein fundamentaler Optimismus steckt da drin. Freilich, von außen sieht das anders aus. Von außen kann man natürlich auch das Konzept eines anti-humanistischen Denkens fassen. Verschiedene Varianten kann es da geben: Von inhumaner Politik bis dorthin, wo man mit philosophischem Anspruch sagt, es sei gar kein vernünftiges Lebensziel, bloß Mensch sein zu wollen. Man muß sich einer größeren Herausforderung stellen, Gott oder Übermensch oder dgl.

Vor allem aber ist eine Außenperspektive dadurch konstituiert, daß der Humanismus als solcher in der Tat eine historische Erscheinung darstellt. Man sagt nicht ohne Grund: die Entwicklung dieses ideologischen Syndroms findet eben genau in der Zeit der Renaissance statt. Und das stützt man, indem man zeigt, inwiefern die Gedanken neu sind. Also zB: im christlichen MA hat man die Dinge so gesehen, daß der Zweck des menschlichen Daseins eben letztlich dem Menschen selbst nicht völlig offenbar ist, diese Kenntnis kann nur Gott haben; also die Kenntnis dessen, was für den Menschen das Heil bedeutet, kann nicht aus dem entnommen werden, was er selbst über sich sagen kann. Und was der Mensch in der Welt hervorbringt, ist vergänglich und hat keinen ultimativen Wert, und ob seine Hervorbringungen gut sind, kann der Mensch selbst gar nicht beurteilen. Oder: Der Mensch hat sich nicht selbst erschaffen, er hat vor allem das bisserl Vernunft, das er hat, sich nicht selbst gegeben, also hat er auch nur eine begrenzte Freiheit, damit umzugehen. Oder: die Dinge sind überhaupt nicht grundsätzlich dazu da, daß der Mensch sich an ihnen erfreut etc, sondern zur Ehre des Schöpfers etc. Der Genuß, den der Mensch an ihnen hat, ist nur ein Nebeneffekt, und ein gefährlicher dazu.

Also in Hinblick auf all dies stellt der Humanismus der Renaissance eine neue Weltsicht dar, und zwar eine, die durch Jahrhunderte hindurch bis heute ihre Bedeutung bewahrt hat, auch wenn viele Tendenzen, die davon ausgelöst wurden, gar nicht mehr leicht zurückzubeziehen sind auf diese Wurzel (Beispiel: Wissenschaft als Naturbeherrschung, da geht auf einmal die Mächtigkeit des Menschen wieder verloren etc). Also jetzt ist Ihnen natürlich auch schon aufgefallen, daß das alles ein bißchen sehr verwaschen ist, bla bla. Und es besteht wenig Hoffnung, daß man, von so einem Anfang ausgehend, irgendwann einmal was Griffigeres zu fassen bekommt. Insbesondere ist eine Hoffnung ganz eitel und aussichtslos: nämlich daß man durch Rückgang auf Quellen in der frühen Neuzeit sozusagen eine ursrpüngliche Philosophie des Humanismus finden könnte. Das gibt es nicht. Überhaupt bildet sich ein ideologisches Syndrom nicht auf diese Weise. Das geht viel komplizierter, das sind geschichtliche Zusammenhänge und Dependenzen, die gehen weit über das Geistesgeschichtliche hinaus, die haben viel mehr zu tun mit politischen und sozialen Bewegungen, mit technologischen und ökonomischen Umwälzungen. Freilich muß man dann anderseits wieder sagen: die Bewegung des Humanismus in der Renaissance-Zeit muß etwas zu tun gehabt haben damit. Man muß die Beweung, die dem Ganzen den Namen gegeben hat, als eine Teilbewegung in diesem Ganzen begreifen lernen, und zwar eine viel konkretere und zugleich beschränktere Bewegung, als wir gewohnt sind.