Übergang zu Ficinos Interpretation

Warum habe ich Ihnen das so lang dargestellt? Weil es einer der ersten und wichtigsten Punkte ist, wo Ficinos Interpretationsleistung einsetzt. Ich meine, was ich Ihnen da alles erzählt habe ist Interpretation, so steht das bei Plato ja nicht. Bei ihm ist eindeutig der Standpunkt “Ersatz” ausgesprochen. Aber Ficino gibt ebenso eindeutig zu erkennen, daß er solche oder ähnliche Gedanken sich gemacht hat, denn er stellt hier eine andere Ordnung her.

Wahn und Erkenntnis

Das beginnt damit, daß Ficino die platonische Unterscheidung von vier Arten des Wahnsinns sehr eigenartig behandelt: Er beginnt überhaupt erst mit dem dichterischen Wahn und läßt den divinatorischen und den religiösen Reinigungswahn einfach weg. Man muß hier anmerken, daß er sich mit diesen Begriffen anderswo, nämlich im 13. Buch der Theologia Platonica, sehr ausführlich beschäftigt. Aber charakteristisch bleibt die Tatsache, daß er im Phaidros-Kommentar den dichterischen Wahn und den Liebeswahn, der ja zugleich der der Philosophen ist, zusammen abhandelt.

Und zwar tut er das nun zweitens so, daß er den dichterischen Wahn enorm aufwertet. Sein Kommentar beginnt überhaupt erst mit der Plato-Stelle 246a:

Die dritte Art der Besessenheit und des Wahnsinns aber kommt von den Musen. Wenn sie eine empfindsame und unberührte Seele ergreift, erweckt sie sie und begeistert sie zu Gesängen und anderen Werken der Dichtkunst, und indem sie tausend Taten der Alten verherrlicht, bildet sie die Nachkommen.

Und da setzt auch schon die Umdeutung ein. Denn während Plato eben sagt, die Dichtung erzähle und verherrliche die Taten alter Zeiten, so sagt Ficino: Sie erzählt von göttlichen Mysterien, die eine gegenwärtige, ewige Bedeutung haben. Plato denkt an Homer, Ficino an Orpheus und seine religiös-mysteriösen Gesänge, die eine philosophische Offenbarung sind in seinen Augen.

Und weiter: Plato bzw Sokrates sagt, der dichterische Wahn kommt von den Musen. Ficino sagt: von Gott; und vom Einfluß der (platonischen) Ideen auf den Geist:

Amplissima enim est poetae provincia omniformisque materia. Animus igitur se ipsum formatu facillimum formatori deo subicere debet.

Das Reich der Dichter ist sehr weitläufig, und seine Materie vielgestaltig; seine Seele, die besonders leicht formbar ist, muß sich Gott direkt unterwerfen.

Also da wird sehr energisch der dichterische Wahn dem philosophischen Liebeswahn angeglichen. Das ist eine wichtige und charakteristische Akzentsetzung in dem von Ficino ausgehenden Platonismus, diese Annäherung von Dichtung und Philosophie. Aber es ist auch unschwer zu sehen, wo die interpretatorische Grundlage ist: Sokrates selbst enthüllt ja den Grund des göttlichen Liebeswahns gerade in einer bildlichen, dichterischen Rede! Also Plato selbst falsifiziert schon, nach Ficinos Meinung, jene Auffassung von der bildlichen Rede als bloßem Ersatz.

Nun gehen wir einen Schritt weiter. Man könnte ja noch immer eine Möglichkeit finden, die dichterischen Bilder als Erkenntnis-Ersatz zu interpretieren, indem man sagt: Ja, das trifft eben nur auf die Menschen zu. Für Gott oder die Götter ist es anders. Gott hat die Ideen gleichsam in sich und braucht sie nicht als äußere Bilder anzuschauen. Aber auch in dieser Richtung hat Ficino den Plato so gedeutet, daß dieser Unterschied möglichst verschwindet. Und zwar in seiner Auffassung des Bildes von der Seele selbst. Vorwegnehmend könnte man sagen, daß Ficinos Auffassung hinausläuft auf eine Vergöttlichung der Seele iA, im Besonderen der menschlichen Seele.

Seele

Beginnen wir wieder beim konkreten Bildgehalt. Plato sagt, daß alle Seelen, auch die der Götter, Lenker und Pferde haben. Die Pferde der Götter sind gut, aber die Menschen haben ein schlechtes Pferd. Ficino korrigiert das. Erstens sagt er, und das sagt Plato nicht ausdrücklich, daß die Seelen der Götter auch zwei Pferde haben; und dann sagt er vor allem, daß auch die Götter zwei verschiedenartige Pferde haben, sie haben auch ein schlechtes Pferd. Das widerspricht nun direkt dem Plato, und das kann daher nur gerechtfertigt werden durch eine tiefer greifende Umdeutung. Ihr erster Schritt ist die Betonung des Komparativs: Das schlechte Pferd ist gar nicht substantiell schlecht, es ist nur weniger gut, insbesondere weniger verläßlich und zahm. Der zweite Schritt besteht darin, daß die Pferde und der Lenker insgesamt einer strikten Deutung als gleichnotwendige Seelenkräfte unterzogen werden. Der Lenker ist Intellekt und Essenz zugleich, das gute Pferd ist Vernunft, das schlechtere ist Imaginatio, Natura, Appetitus (Begehren) - also das sind die “subrationalen Funktionen” der Seele, könnte man sagen.

Was Ficino hier macht ist natürlich eine grundsätzliche Abweichung von Plato, nämlich er substituiert ja nun tatsächlich für das bloße Bild eine Theorie der Seele. Das kann er nur, weil er grundsätzlich die bildliche und die philosophische Erkenntnis einander angenähert hat. Genau das erlaubt ihm, gleichsam dauernd hin und her zu wechseln zwischen gleichnishafter und wissenschaftlicher Sprache - was ja auch die Lektüre schwierig macht. Man hat manchmal den Eindruck, Ficino würde immer die Gleichnisse Platos theoretisch, und seine Theorien gleichnishaft auslegen.

Aber zurück zur Sache. Ficino ersetzt die wertende Unterscheidung zwischen den Pferden also durch eine funktionale, und der Unterschied zwischen menschlichen und göttlichen Seelen besteht eigentlich nur darin, daß die letzteren ihr schlechtes Pferd schon vollkommen gezähmt haben, dh daß sie seine Bewegung schon in vollkommene Harmonie gebracht haben mit der des guten Pferdes. In Klammer merke ich an, daß es ein ähnliches Verfahren auch im Symposium-Kommentar gibt, wo auch die “zwei Aphroditen” einander sehr angenähert werden.

Es gibt noch einen weiteren Punkt, wo die menschliche Seele bei Ficino aufgewertet wird. Das ist jetzt schon eher grundsätzlich und betrifft die Dreiteilung der Seele als solche. Wir haben schon eine Dreiteilung gesehen in Intellekt - Vernunft - Imagination. Nun gibt es bei Plato selbst verschiedene Ansätze zur Dreiteilung der Seelenkräfte, die nicht so ohne weiters zur Deckung zu bringen sind, das ist ein Problem bei Plato. Aber wenn man sich zB die wichtigsten Stellen im “Staat” anschaut (435, 504 im vierten bzw sechsten Buch), dann kann man das am ehesten auf den Nenner bringen: Vernunft, Mut, Begehren (Streben nach Lust und Gewinn). Ev auch: Vernunft, Leben, Begehren. Man kann versuchen, das auf das Bild vom Gespann umzulegen:

Tabelle 5-1. Seele und Gespann

gutes Pschlechtes P.Lenker
BesonnenheitBegehrenLeben

Die Schwierigkeit besteht beim letzten item: Denn der Lenker ist ja schon als Intellekt bestimmt, aus einer anderen Perspektive. Sollen wir uns den Lenker doppelt, als Intellekt und als Leben vorstellen? Oder gibt es eine Ebene, wo das als Einheit gesehen werden kann, der Intellekt als Leben, das Leben als Intellekt? Nun, genau hier setzt Ficinos Deutung an, in der das Prinzip des Lebens als das höchste der Seele dargestellt wird. Die Kraft des Lebens ist größer und grundlegender als die von Verstand und Begehren. Dh man muß den Ficino so verstehen, daß er gerade deshalb, weil er dieser Kraft des Lebens den Vorzug gibt, sie mit dem Intellekt zu identifizieren bereit ist. Und der zweite Eckstein ist, daß er die Seele nun als das Prinzip des Lebens schlechthin bezeichnet. Also nicht nur ist das Lebensprinzip das höchste in der Seele, sondern diese Kraft der Seele ist auch das Prinzip alles Lebens.

Die Kombination dieser beiden Voraussetzungen führt zu sehr einschneidenden Konsequenzen. Bei Plato ist es ja so - wenn wir uns jetzt auf die Phaidros-Rede beschränken -, daß es noch Wesenheiten von intellektueller Art gibt, die über oder außerhalb der Seele stehen: Ideen etc. Was man im überhimmlischen Raum eben anschaut. Und bei den Neuplatonikern ist das noch viel deutlicher, da sind das ja regelrechte Seinsstufen: Eins - Geist - Seele. Zu diesem Geist oder den Ideen hat die Seele von unten her Zugang: Es strömt etwas auf sie über, oder es bildet sich etwas ab in ihr davon. ZB im “Staat”, da sind die (politischen) Funktionen Bilder der Ideen. Aber bei Ficino wird das nun anders gesehen. Weil er den Intellekt als Leben, und nicht so sehr als Anschauung, deutet, ist die Seele diesen Instanzen nicht durch einen Bruch untergeordnet, sondern sie wirkt in ihnen mit. Die Seele ist zugleich oberhalb (und auch unterhalb ) ihrer selbst. Sie verbindet die Seinsstufen, sie ist nicht nur eines der Glieder. Der lebendige Intellekt der Seele ist also schon geradezu kreativ.

Das geht so weit, daß Ficino (anderswo) sagt, die Seele findet diese transzendenten intellektuellen Wesenheiten in sich. Der Aufstieg zu ihnen ist zugleich ein Weg in die Seele hinein. Die Seele ist nicht ein Abbild der Idee der Seele, sondern die Seele ist selbst das Urbild dessen, was sie ist - vor allem Bewegung und Leben. Also das ist schon eine weitgehende Umorientierung gegenüber Plato, auch wenn sie vorgenommen wird durchaus in den Kategorien, die Plato selbst anbietet. In der Phaidros-Rede wird ja in der Tat die Seele durch ein eigentümliches Bewegungsprinzip beschrieben. Ficino radikalisiert das, indem er sagt: Das, worauf die die Seele zuzugehen scheint in ihrem Aufstieg, und woran sie dann orientiert bleibt, das ist gar nicht etwas von ihr Abtrennbares. Das, was wir zB die Idee der Weisheit nennen, das ist nichts andres als die Aufstiegsbewegung selbst, die wir vollziehen. Im Klartext: die Rede des Sokrates als solche. Das Mysterium an der Rede des Sokrates ist gewissermaßen, daß sie keines ist. Der Vollzug ihrer gedanklichen Bewegung ist die Sache, zu der sie hinführt. Man könnte diese Umdeutung auch so ausdrücken: die übergeordneten Hypostasen sind Potentialitäten der Seele, und nicht äußere Wesenheiten. Erinnern Sie sich an das, was ich in den ersten Stunden über den “Zug zum Praktischen” gesagt habe.

Kurze Zusammenfassung

1. die dichterische Inspiration ist göttlich und philosophisch; 2. sie kann gar nicht nur als passiv verstanden werden, sondern sie ist eine Selbstbewegung der Seele; 3. die Seele selbst hat am Göttlichen teil.

Zu dem Punkt mit der Bewegung sollte ich vielleicht noch etwas sagen, das ist möglicherweise nicht klar genug geworden. Die Vorstellung der Seele als sich selbst bewegend, und daher auch als Prinzip von Bewegung schlechthin - das ist bei Platon auch schon der Angelpunkt des Unsterblichkeitsbeweises, der der Rede des Sokrates vorhergeht. Ich möchte nicht auf diesen Beweis selbst eingehen, nur soviel möchte ich sagen, daß bei Ficino die Selbstbeweglichkeit der Seele eben vor allem darin zum Ausdruck kommt, oder darin sich spiegelt, daß sie das Prinzip des Lebens ist. Damit wird der Unsterblichkeitsbeweis tendenziell tautologisch: dasjenige, was Prinzip des Lebens ist, kann ja nun wirklich nicht sterblich sein. Es gibt da einmal eine Erwägung Ficinos, daß er meint: Wenn eine Seele vernichtet wird, dann geht der ganze Kosmos zugrunde. Das muß man, glaube ich, aus dieser Perspektive verstehen. Wenn die Seele das Prinzip des Lebens schlechthin ist, also wenn es nichts gibt, was mehr beanspruchen kann, Leben zu sein - und diese Seele geht trotzdem zu Grunde: na dann ist ja klar, daß alles andere auch zugrunde gehen muß. Das ist eine Interpretation, die gleichsam einen logischen Zusammenhang herstellt zwischen der Unsterblichkeit der Seele und der Unvergänglichkeit der Schöpfung überhaupt; die andere Interpretation wäre die eines kausalen Zusammenhanges, und daran denkt vieleicht sogar jeder als erstes, aber ich glaube, das kann nie so einleuchten, wie diese logische Interpretation.

Schönheit

Ich habe schon in meiner Nacherzählung der Sokrates-Rede gesagt, daß die Schönheit unter den Ideen eine besondere Rolle spielt, nämlich zuerst einmal nicht in dem Sinne, daß sie im Vergleich zu den anderen Ideen die höchste wäre, nein, da sagt Platon doch immer wieder klar genug, daß die Idee des Guten als einzige dafür in Frage kommt; das Besondere bei der Schönheit ist ein erkenntnistheoretischer Effekt. Diese Tatsache, daß das Schöne in der Erscheinung von dem ideelen Schönen nicht durch einen so radikalen Bruch getrennt ist, wie andere Begriffe von ihrer ideellen Erfüllung. Das erscheinende Schöne bewahrt etwas vom wahren Schönen, und wenn man das aufgreift, und sich darauf konzentriert, dann kann es wie ein Leitfaden gebraucht werden, der den Weg nach oben, zum Anblick der wahren Schönheit weist.

Ich habe damals hingewiesen auf die Einbettung dieser Gedanken in die Anamnesislehre einerseits, die Liebestheorie anderseits. Soweit ist das noch Platon. Ficino hat dieses Lehrstück in mehrfacher Hinsicht radikalisiert, und man muß sagen, daß sein ganzer Kommentar total im Zeichen der Schönheit steht. Er hat die Sonderstellung der Schönheit als Hauptaussage des Phaidros behandelt. Der eine Aspekt, in dem Ficino interpretatorische Akzente setzt, ist ganz einfach, daß er die bevorzugte Rolle der Schönheit verallgemeinert und ausbaut. Während Plato sagt, Na bei der Schönheit, da ist es eben glücklicherweise so ..., aber das enthebt uns natürlich nicht der Verpflichtung, zB so gut wir können nach der Verwirklichung der Gerechtigkeit zu streben etc - also demgegenüber faßt Ficino die Sache so auf, daß die Schönheit, udh der Aufstieg zum Liebesmysterium, der Königsweg zum Ideellen überhaupt ist. Die Schönheit öffnet sozusagen das Tor zum Reich der Ideen ganz iA. So ein Aufstieg wie der von Diotima beschriebene führt zum Gewahren der Schönheit an sich, aber er führt nach dieser Interpretation vor allem überhaupt in das Reich der Ideen, udh wer diesen Weg bis zu Ende gegangen ist, der hat dann auch die adäquate Einsicht in das Wesen der Gerechtigkeit, der Besonnnenheit, des Guten etc. Man muß schon sagen, daß die Überbetonung dieses Aspektes charakteristische Effekte produzieren kann, die nicht mehr so einfach mit Plato vereinbar sind. ZB eine der kniffligen Fragen, die sich da erheben: Ficino kann natürlich auch nicht andeutungsweise den Primat der Idee des Guten in Frage stellen - das kann niemand, der sich Platoniker nennen will. Aber ist es möglich sich vorzustellen, daß unter den Ideen, an sich betrachtet, zwar die des Guten die unangefochten dominierende ist, daß aber in der Leitfunktion, in der Orientierungsfunktion für uns Menschen, eine andere Idee, nämlich die der Schönheit, stärker ist? Das würde in etwa auf folgende Position hinauslaufen, daß man sagt: das höchste, das wovon jede andere Vollkommenheit oder Errungenschaft oder Vorzüglichkeit erst ihren Wert bekommt, das ist die Idee des Guten. Aber wenn Du wirklich nach dem Guten strebst, dann solltest Du vielleicht gar nicht so sehr darüber nachgrübeln, was in irgendwelchen komplizierten Fällen eigentlich das Gute oder das noch Bessere ist - sondern dann solltest Du dich vor allem einmal am Schönen orientieren. Klingt ein bißchen eigenartig, nicht wahr, aber es ist doch auch wieder ein Gedanke, von dem wir wissen, daß er in unserer modernen europäischen Kulturgeschichte immer wieder seine kleinen todschicken Auftritte gehabt hat. Diese Geschichte beginnt bei Ficino, auch wenn er selbst sowas natürlich nicht ausdrücklich gesagt hat.

Eine spezielle Rolle spielt bei dieser Aufwertung der Schönheit übrigens auch der Begriff der Harmonie; daß die Schönheit keine Eigenschaft erster Stufe, sondern so eine Art Meta-Prädikat ist, durch das man eigentlich die Art der Beziehung von einfachen Prädikaten anspricht, das macht sie zu einer ernsthaften Konkurrentin der Gerechtigkeit in der Politeia. Dort ist es so: Besonnenheit, Entscheidungsfreude und Begierde sind die Tugenden, an denen sich die drei Funktionen der Seele orientieren, auf die hin sie als jeweils besondere Funktion zu optimieren sind. Und es sind zugleich die Funktionen, deren selbständige Ausübung im Staat durch organisatorische Maßnahmen gewährleistet sein muß. Aber dann gibt es da noch die Aufgabe, diese Funktionen zum Besten des Ganzen aufeinander abzustimmen, sie in die richtige Beziehung zu bringen etc - und das ist die Gerechtigkeit.Sie sehen unschwer, daß mit ihrem Monopol auf Harmonieprinzipien die Schönheit hier unter Umständen ein Mitspracherecht anmelden könnte - wenn man erst einmal auf den Gedanken gekommen ist. Die Einsicht in das Wesen der Schönheit liefert vielleicht ganz formale Beurteilungskriterien für genau solche Fragen, wie die Gerechtigkeit sie da zu lösen hat. Ja, also das ist die eine Richtung, in der Ficino mit der Rolle der Schönheit operiert.Wir könnten sagen, das ist in der Hauptsache doch eine Verstärkung von Ansätzen, die Plato selbst liefert - bei Plato selbst ist es einfach so, daß hier im Phaidros andere Prioritäten gesetzt sind, als etwa in der Politeia, und daß man nicht so leicht alle diese verschiedenen Tendenzen jeweils ganz radikal zu Ende denken kann, und dann hätte man noch eine einheitliche platonische Theorie - zumindest Platon selbst hat so eine Theorie nirgends aufgeschrieben.

Eine Fußnote muß ich zu dem Stichwort Schönheit aber noch machen, nämlich damit man ein bißchen genauer den systematischen Rahmen sieht, innerhalb dessen solche Akzentverlagerungen diskutiert werden müßten, wenn man sie ganz theoretisch diskutieren wollte (das wollte eigentlich schon Ficino nicht unbedingt). Also bei einer solchen Frage haben für Ficino natürlich noch gewisse Grundeinstellungen des Neuplatonimsus ein Wörtchen mitzureden. Bei Plato ist es, vereinfacht gesprochen, so, daß die sog. Ideen in kognitiver wie auch in praktischer Hinsicht einfach die höchsten und ultimativen Orientierungspunkte sind. ZB auch dort, wo Plato ausdrücklich auf einen Herstellungszusammenhang reflektiert, wie in der Gestalt des Demiurgen im Timaios, dort ist das so, daß sich dieser Erbauer der Welt orientiert an den Ideen. Das einzige, was man da noch dazu sagen könnte ist, daß vielleicht unter den Ideen selbst hierarchische Beziehungen denkbar sind, daß man sagt, die Idee des Guten ist noch in einem höheren Sinne Idee oder sowas.

Bei den Neuplatonikern ist das alles anders. Da gibt es diese Stufenordnung, die mit dem Einen beginnt, und in der bilden die Ideen als solche eben nur eine bestimmte, die zweite Stufe. Ja, und nun vollends, wenn man das einer christlichen Deutung auch noch unterzieht, und sich dann also das Eine als Schöpfergott denkt - dann muß man in diesem Einen selbst und in seiner Beziehung zu allem, was auch ihm hervorgeht, natürlich auch schon ideelle Gehalte denken. Zb man muß den christlichen Gott als gut denken, und mehr noch: als original gut, seine Güte muß die ursprünglichste Güte und der Ursprung von Güte sein, man kann sie nicht so ansetzen, daß sie bloß sein Bemühen wäre, möglichst nahe an das heranzukommen, was ihm als eine unabhängige Idee des Guten vorschwebt, so wie uns vielleicht. Er ist der Ursprung des Guten, sowohl dem Begriff, wie auch der Sache und der Handlung nach. Genau solche systematische Komplikationen gibt es auch mit dem Begriff der Schönheit. Ficino sieht für die Schönheit nicht nur eine privilegierte Beziehung nach unten hin vor, also in der Verbindung ideelle Schönheit - Erscheinungsschönheit. So eine privilegierte Beziehung gibt es auch in der anderen Richtung: Schönheit ist der von Gott selbst ausgehende Glanz, der in das Reich der Ideen - Geist - überhaupt erst Licht bringt, der Ideen als solche und insgesamt überhaupt erst, in welchem übertragenen Sinne auch immer, sichtbar sein läßt. Also in dieser Perspektive ist Schönheit noch viel mehr als nur eine Idee, sie ist dann letztlich nicht weniger als das Prinzip der Offenbarkeit von Geist schlechthin. Also das wollen wir nicht weiter verfolgen, das habe ich nur angemerkt um wenigstens kurz einen Begriff zu geben davon, wo eigentlich die systematischen Hintergründe wären, wenn wir diese ficinianischen Tendenzen nicht bloß glossieren würden, wie wir das in so einer Einführungsvorlesung halt machen, sondern wenn man da mit einem systematischen Anspruch heranginge.

Freiheit

Ich möchte jetzt noch auf einen anderen Begriff hinweisen, der in Ficinos Phaidros-Kommentar eine Rolle spielt, und den ich bisher so gut wie gar nicht erwähnt habe, das ist der Begriff der Freiheit. Wenn wir im Kontext des Phaidros-Kommentars bleiben, dann wird der Begriff der Freiheit zunächst eingeführt im Zusammenhang der Lehre von den Seelenvermögen, und zwar gibt es da eine interessante Sache. Das Ziel der Überlegung ist ganz eindeutig ein Begriff von geistiger Freiheit, wo also die Freiheit vor allem darin besteht, daß die Seele sich selbst bewegt und Bewegungsursprung ist; aber daneben stellt sich Ficino auch so etwas vor wie eigene Freiheiten der anderen Seelenkräfte: die Besonnenheit kann sich ihrer eigenen Freiheit versichern, indem sie unkörperliche Gegenstände oder körperliche betrachtet, und die Existenz eines freien Willens wird auch schon durch die Fähigkeit des Begehrens bewiesen, anderes zu wollen als das, was die physischen Bedürfnisse vorschreiben.

Also wenn man genau hinsieht, kann man zwei Tendenzen unterscheiden: einerseits ein Aufbaumodell, wo alles hingeordnet ist auf die geistige Freiheit. Zuerst wird die Freiheit des Denkens entdeckt, dann die Freiheit in der Ausrichtung der Begierde, schließlich jene höchste Freiheit, daß die Seele, als Prinzip intellektueller Bewegung, selbst der Grund aller ihrer Bewegungen ist, also zB auch der selbstverantwortliche Grund für so einen Aufstieg wie den von einer Freiheit zur nächsten, oder so einen Aufstieg, wie er im Phaidros der Möglichkeit nach beschrieben wird - also daß einem die Federn wachsen oder dgl. Daneben gibt es bei Ficino immer wieder Ansätze, die Wahrnehmung der sogenannten niederen Freiheiten auch schon als Wert an sich zu betrachten. Hier ordnen sich gewisse Überlegungen ein, ob man nicht zB. das schwarze Pferd überhaupt mit dem Willen identifizieren sollte, aber hierher gehören vor allem auch die Versuche, dem aktiven Leben als solchen einen Eigenwert zuzusprechen, der bestehen kann neben dem des kontemplativen Lebens. Hier denkt sich Ficino den Menschen in genauer Analogie zu Gott. Ich muß erwähnen, daß das schwarze Pferd Gottes oder der Götter als der Bezug auf das einzelne Geschaffene interpretiert wird, als die Fürsorge um dieses Einzelne, die providentia. Analog gibt es auch einen positiven Bezug des Menschen auf die Dinge dieser Welt, und zwar durch seinen Willen, diese Welt zum Besten zu gestalten, in nützlicher Weise zu verändern etc. Das ist natürlich bei Ficino eine gebremste Tendenz, Ficino ist wirklich vor allem einer der großen Denker des kontemplativen Lebens, aber es ist doch bemerkenswert wie auch in seiner Willensmetaphysik das durchschlägt, daß die Ausübung der Willenskraft unter keinen Umständen, in keiner Form, etwas Schlechtes sein kann. Und das läßt sich dann eben verbinden mit Strömungen, die in der italienischen Philosohie jener Zeit schon da waren, und wie sie etwa zum Ausdruck kommen in einem Wort des hl.Bernardino von Siena, das ich zitiert gefunden habe in dem Buch von Eugenio Garin über den italienischen Humanismus: “Der Wille ist der Kaiser aller drei Mächte der Seele... Der feste Wille ist der Kaiser des Weltalls”. Oder Matteo Palmieri spielt sogar direkt auf den Phaidros an: “Daß die gerechten Führer der Staaten vom Himmel kommen und in den Himmel zurückkehren, ist im Laufe der Jahrhunderte von den größten Geistern als Gewißheit behauptet worden.”

Also Sie erinnern sich noch an den Phaidros: die Seelen werden - je nach dem, was sie von der Welt der Ideen erhascht haben -, in verschiedene menschliche Inkarnationen gesteckt, und da ist das beste, was man erreichen kann, Philosoph, aber gleich danach kommen Könige und Politiker, also eben die Staatenlenker. Diese Abstufung ist bei Palmiere schon gar nicht mehr sichtbar, die Herrscher und Politiker --- also wir sagen vielleicht: die Praktiker --- sind da auf einmal enorm aufgewertet. Das wahre Verdienst jeder Tugend, sagt Palmieri, liegt im Wirken.

Nach dieser Vervollständigung sehen wir also mehr oder weniger vage, wie diese Plato-Interpretation im Zeichen der Ideen von Schönheit, Göttlichkeit der Seele, Freiheit, und der Macht der Poesie steht. Auch wenn das alles nicht gerade in einem übersichtlichen Schema angeordnet ist - es handelt sich um eine Bündelung, von der eine enorme Vorbildwirkung ausgegangen ist, um eine der Grundfigurationen der europäischen Geistesgeschichte - nicht wahr, das ist ja genau das Ideenkonglomerat, auf das noch in einer völlig veränderten Welt jemand wie Friedrich Schiller verpflichtet ist.