Figur

Leonardo's Verschwiegenheit

Wenn Sie sich noch an die Stelle erinnern von Leonardo, die ich vorgelesen habe, dann fällt Ihnen vielleicht auf, wie vorsichtig er in dieser Hinsicht war. Er sagt nur, daß man die Mauer oder den Stein anschauen soll, und dann sieht man da Berge und Täler und Schlachten. Sie finden kein Wörtchen darüber, was an der Wand oder in der Oberfläche des Steins es ist, was man als Wolke oder Schlachtengetümmel sieht. Obwohl natürlich klar ist, daß so ein bestimmtes 'Was' angebbar sein muß, sonst hat das Ganze keinen Sinn. Sonst könnte ich Sie ja zB aufstellen kilometerweit weg von einem Haus, so daß Sie gerade noch erkennen können eine Schattenlinie, die die Front von einer der Seitenwände trennt, und ich frage Sie: 'Was sehen Sie in dieser Wand?' Nichts können Sie sehen. Sie sind froh, daß Sie sehen, daß da überhaupt eine Wand ist. Also es ist schon klar, daß es auf die Binnenstruktur der Wand oder des Steins ankommt, eben diese Ritzen und Bruchlinien und Aufwerfungen etc, aber das verschweigt Leonardo hier. Und im Grund ist nicht schwer zu erraten, warum er es verschweigt.

Die Sache, um die es geht, und die in der Tat entscheidend ist für die Entwicklung der Malerei in der europäischen Kultur, ist die präzise Unterscheidung von Realität und Imagination und das Verständnis und die Regelung der Interaktion beider. Für Leonardo definiert die souveräne Beherrschung dieser Differenz sowohl wie Interaktion den Künstler, und Sie wissen ja: Er verbindet mit dieser Künstlerschaft einen wissenschaftlichen Anspruch! Er ist der Pionier schlechthin jener Episteme, in der das Technisch-Künstlerische die Theorie (als bloße Betrachtung oder Anschauung) zu überwältigen beginnt. Die Betrachterin des fertigen Gemäldes wird in den Ölfarben, die auf einer Fläche aufgetragen sind, eine wilde Schlacht sehen, sie wird vom Vordergrund einer Kopfabschlagung über den Mittelgrund eines Körpergewimmels in den tiefen Hintergrund einer seltsam unbeteiligten Landschaft sehen ... Daß sie weiß, die Betrachterin, daß sie nicht wirklich vor der Schlacht steht, daß nicht einer der schwitzenden Krieger da heraushupfen wird und sich auf sie stürzen, das ist ihr genau so wichtig, wie der Realismus der Darstellung. So, genau so ist eine wirkliche Schlacht; nur daß es eben keine ist. Also ein Bewußtsein der Differenz/Interaktion muß die Betrachterin haben; aber ihr Meister ist allein der Maler. Und da kann Leonardo es überhaupt nicht brauchen, da legt er keinerlei Wert darauf es auszuplaudern, daß der Künstler in genau derselben Ambivalenz sich vorfindet - der Künstler auch nichts anderes machen kann, als etwas, von dem er nicht genau weiß, was es ist, als etwas anderes zu sehen. Leonardo will festlegen, daß die entscheidende Linie der Trennung und des Austausches von Realität und Imagination im Künstler, in der Kompetenz des Künstlers, verläuft und dort fixiert ist; er erzählt nicht freiwillig, daß der Künstler erst recht wieder nur vor dieser Linie steht.

Noch einmal: Figurativ und figural

Voraussetzungen

Wir wissen, das steht fest: Es gibt eine scharfe, abgrundtiefe Differenz zwischen Realität und Imagination. Es ist - in unserer Weise, die Sache darzustellen - die Handhabung und Empfindung dieser Differenz, die die Abbildlichkeit konstituiert. Aber wir wissen nicht, wo genau die Linie verläuft und was genau wir getan haben, als wir sie so effektvoll bemeistert haben, daß jetzt dieses allseits bewunderte Gemälde da ist. Denn schon dasjenige, dem wir als der banalsten und krudesten Realität begegnen wollten, die Ritzen und Schimmelflecken auf der alten Mauer, ist ein Produkt unserer Imagination gewesen, genau so wie der aufgerissene Mund des abgeschlagenen Kopfes in den Ölfarben auf der Leinwand.

Es wird also als nächstes darum gehen, einen Schnitt festzulegen auf nachvollziehbare Weise, dh eine Betrachtungsebene oder eine Sprache, von der man sagen kann: Was auf dieser Ebene oder in diesen Ausdrücken beschreibbar ist, das ist Realität. Diese Sprünge im Asphalt auf den Gehsteigen, auf die mich Wolfram Pichler vor ein paar Monaten mal aufmerksam gemacht hat, die mit einer faszinierenden Hartnäckigkeit immer als Kreissegmente auftreten, die direkt oder indirekt die geraden Nahtlinien verbinden, die mit Teer ausgegossen sind. Ob das jetzt Sprünge im Asphalt sind oder ob das ein Techniker anders bezeichnen würde - egal, Kreissegmente sind es auf jeden Fall. Da sind diese mehr oder weniger krummen, eigentlich immer ziemlich flachen Kreissegmente. Die sind eine Realität, könnten wir sagen. Wir haben das Recht, es zu sagen relativ auf die Sprache und Wissenschaft der Geometrie. Wir könnten auch eine andere Sprache oder Betrachtungsebene wählen, und es spielt keine besondere Rolle, daß dieser Schnitt exakt oder genau gemacht wird. Die Festlegung kann ohneweiters ungefähr sein. Und genau diesen Zweck erfüllt der Begriff der Figur.

Der Begriff der Figur ist eine - nicht alternativelose, aber ganz eminent ausgezeichnete - Möglichkeit, ein Niveau und eine Sprache festzulegen für das, was als Realität gilt in dem Wechselspiel von Realität und Imagination, das die Abbildlichkeit ausmacht. Ich sehe in der alten Mauer oder auf dem Gehsteig auf der Landesgerichtsstraße Figuren, die sind auch wirklich da, diese gekrümmten Linien, diese Bögen und Geraden etc. Und dann sehe ich in ihnen auf einmal einen Berg, ein Gesicht etc. Und wenn ich beschreiben soll, was ich sehe, wenn ich vor dem Bild von Monet stehe, dann ist da dieses weiße Rhomboid, und hier ist der schon erwähnte braune Fleck etc, und irgendwann fange ich darin ein Strandkleid an zu sehen und eine Bürste oder sowas. Berg, Gesicht, Strandkleid und Bürste sind nicht da, die sind imaginär.

Der Begriff 'Figur' ist nicht präzis hier und soll es auch nicht sein. 'Gerade' und 'Fleck' können wir auffassen als Wörter, als Vokabel, aus ganz verschiedenen Sprachen: Wenn wir uns total auf die Sprache der Geometrie einließen, der wir hier das Wort 'Gerade' zurechnen, dann könnten wir vielleicht den Begriff der Figur präzise festlegen - die analytische Geometrie des Descartes zB war gedacht als ein System zur eindeutigen Beschreibung aller überhaupt möglichen Kurven. Aber es gibt keinen wirklich überzeugenden Grund, sich nur darauf einzulassen und andere, weniger exakte oder systematische Beschreibungen, wie die mit 'Fleck' und 'Strich' etc auszuschliessen. Sie dürfen nicht vergessen, daß die Gegenstände der Geometrie aus einer leicht erweiterten Perspektive die imaginären Gegenstände schlechthin sind, die, die auf jeden Fall nur in unserer Einbildung existieren, mitsamt ihrer ganzen Gesetzmäßigkeit.

Mir ist wesentlich, daß der Begriff der Figur beides abdeckt. Und wenn Sie mir bis hierher gefolgt sind, dann sage ich nun: Das Entscheidende an der malerischen Abbildung ist, die Figur in genau diesem Sinne zu realisieren. Was die Malerin, in genau dieser Perspektive, die ich da jetzt aufgebaut habe, zu tun hat, ist die Realisierung der Figur oder von Figuren auf der Leinwand oder wo halt immer, und in dieser Figur kann dann dies oder jenes gesehen werden, was imaginär ist, und natürlich wird die Figur, im Falle der traditionellen, sogenannten illusionistischen Malerei mit dem Ziel realisiert, daß eben etwas ganz Bestimmtes imaginiert werden kann und soll.

Bacon, Cezanne

Damit das nicht zu lange zu abstrakt dahingeht möchte ich jetzt gleich, noch bevor ich die wichtigsten Folgerungen entwickelt habe, auf das zurückkommen, was Deleuze über Bacon gesagt hat, diese Sache mit dem Figuralen. Es ist ziemlich genau dieser Begriff von Figur, den ich Ihnen gerade nahelegen will, der das erklären hilft. Daß auf den Bildern von Bacon allenthalben Figuren sind, nicht nur Köpfe meine ich da und erkennbar menschliche Gestalten, sondern durchaus auch die einfärbigen Ovale, die Gestänge, diese Ballungen von Fleisch etc, das ist nicht ein Zufall oder Relikt oder dergleichen, sondern es geht ihm um die Figur, seine Malerei zielt auf die Figur. Aber eben die Figur in diesem Sinn der auf der Leinwand geschaffenen Realität (Vorsicht: Ich will nicht sagen, daß man auf einer Leinwand als Malerin nicht auch nicht-figürliche Realitäten schaffen kann!). Und ich kann Ihnen jetzt glaube ich ganz genau erklären, was es mit dieser auf den ersten Blick künstlich anmutenden Differenzierung von 'figurativ' und 'figural' auf sich hat. Figurativ ist eine Malerei, die die Figur unter Voraussetzung eines Systems der Repräsentation anstrebt. Figural soll sie aber heißen, wenn sie die Figur direkt, ohne Stütze der oder sogar gegen die Repräsentation anstrebt.

Im Grund ist die Sache einfach. Wenn wir uns weiter an die von mir vorgegebene Perspektive halten, dann realisiert die Malerin auf jeden Fall Figuren auf der Leinwand, im Sinne dieser Skala von Flecken und Patzen und Balken bis zu Kreisen, Geraden, Dreiecken und Parabeln. Es kann aber sein, daß sie ihre Dreiecke und Farbtupfen ausschließlich nach genau dem Prinzip hinsetzt, daß sie in ihrem Gesamt der Wiedererkennung und Repräsentation einer Sache dienen, die unabhängig existiert und bekannt ist. Wenn die Figuren, die die Malerin real auf die Leinwand bringt, dort nur nach der Logik hingekommen sind, daß sie einen bestimmten Gegenstand repräsentieren sollen, vertreten sollen, dann ist das figurative Malerei. Aber so muß es nicht sein. Es kann auch eine andere raison d'être für die Figur geben. Also ich glaube schon, daß das verständlich sein sollte nun, diese Differenzierung.

Ich glaube auch, daß es richtig und lehrreich ist - wie Deleuze das getan hat - in diesen Zusammenhang vor allem Cezanne hereinzubringen. So wie er das darstellt in seinem sechsten Kapitelchen, geht er allerdings vielleicht ein wenig zu schnell vor. Daß er da sagt: Es gibt zwei große Wege weg von der repräsentativen Figuration, nämlich der eine zur Abstraktion hin, der andere zur Figur selbst, also zum Figuralen, und dieser zweite Weg steht ganz im Zeichen der Empfindung, der sensation:

La figure, c'est la forme sensible rapportée à la sensation

- also das geht mir ein bißchen zu flott, da würde ich zuerst einmal die kritische Seite von Cezanne als solche würdigen. ZB an jener Stelle in den Gesprächen mit Gasquet, wo er die Landschaftsmalerei von Rousseau, Daubigny und Millet kritisiert (die Maler von Barbizon):

Man arrangiert... Man komponiert eine Landschaft wie eine Szene der Geschichte. Ich will damit sagen, von außen. Man schafft die Rhetorik der Landschaft, Phrasen, Wirkungen, die man weitergibt. Die Mache, die Rousseau, wie er selbst sagt, von Dupré gelernt hat.

Hier haben wir ja genau den Punkt, den auch Bacon für so wichtig hält: '.. the moment the story is elaborated, the boredom sets in; the story talks louder than the paint...' Aber Cezanne geht es nicht nur um solche gleichsam externe Systeme, die die Repräsentation regeln, sondern vor allem auch um solche, die die Abbildung direkt betreffen. Ich lese Ihnen da nicht eine Originalstelle vor, sondern etwas aus einem Aufsatz von einem gewissen Henri Maldiney, das ist ein französischer Philosoph, so ein bißchen aus der Richtung der Phänomenologie, Deleuze zitiert den auch ein paarmal in seinem Buch. Ich lese das nicht auf französisch, sondern paraphrasiere:

In so einer Landschaft von einem dieser Maler, da gibt es einen Wald, und der Wald ist ein Wald, der Baum ist ein Baum, die Mauer eine Mauer... Was soll es dagegen einzuwenden geben? Nichts. Nichts - außer daß es sich um ein bloßes Nachmachen handelt. Das Nachmachen, das Nachgemachte ist es, was Cezanne an diesen Bildern kritisiert, daß sie nur ein Wissen [ich würde vielleicht sogar ergänzen: eine Information, einen Gehalt] reproduzieren, das [oder der] schon vorgängig da ist. Das Bild ist auf diese Weise nur die Illustration eines Vorurteils. ... Die tatsächliche Manifestation [der Inhalte auf der Leinwand] ist untergeordnet einer signification qui les anticipe. Das implizite Urteil, das alle diese Details in der Einheit eines Motivs verbindet, ist ein jugement d'attribution, das nicht das Geringste zu tun hat mit originärer Manifestation...

Nun ist es bei Cezanne gar nicht so einfach, den Begriff der Figur positiv genauer zu konturieren, den er dieser repräsentativ-figurativen Malerei gegenüberstellt. Es ist viel leichter, es zu sehen an seinen Bildern, wenn Sie zB irgendeines seiner Bilder vom Mont Sainte-Victoire nehmen:

Abbildung 10-2. Cezanne, Mont Sainte-Victoire (Vergrößerung in einem separaten Fenster)

Die Schwierigkeit, nicht nur zu sehen, worum es da geht, sondern seine Einstellung auch diskursiv zu klären, hat damit zu tun, daß er einerseits seine - wenn ich so sagen darf - Figuralität sehr stark in der Affinität zur Geometrie sucht, anderseits einen totalen Primat der Farbe in der Malerei behauptet. Da gibt es Stellen in den Gesprächen mit Gasquet wie diese hier, wo er sagt: 'Aber ein grüner Flecken, passen Sie auf, das genügt, um uns den Eindruck einer Landschaft zu geben, wie ein Fleischton, um uns ein Gesicht entstehen zu lassen, ja eine menschliche Gestalt' [p.23]; dann gibt es diese so oft zitierte und wiederholte Äußerung: 'Alles in der Natur modelliert sich wie Kugel, Kegel und Zylinder. Man muß aufgrund dieser einfachen Elemente malen lernen, dann wird man alles machen können was man will [p.76]'. Also da haben Sie genau diese leichte Ambivalenz, in der lebt aber der Begriff der Figur. Es gibt auch bei Deleuze eine Stelle, wo er auf dieses Problem kommt, sehr schön hat er das gesehen:

... lorsque Cézanne convie le peintre à traiter la nature par le cylindre, la sphère, le cône on a l´impression que le peintres abstraits auraient tort d´y voir une benediction: non seulement parce que Cézanne met l´accent sur les volumes ... mais surtout parce qu´il propose un tout autre usage de la géometrie que celui d´un code de la peinture...

Eine Geometrie, die nicht Code, nicht System, nicht Wissenschaft ist vielleicht.

Dagegen haben Sie wieder diese Stelle:

Ich habe die Natur abschreiben wollen, es ist mir nicht gelungen. Ich mochte suchen, mich drehen und wenden, sie von allen Seiten fassen. Unauflösbar. Von allen Seiten. Aber ich war mit mir zufrieden, als ich entdeckt hatte, daß die Sonne zB nicht wiedergegeben werden kann, sondern daß man sie durch etwas anderes darstellen muß - durch die Farbe. Alles übrige, die Theorien, die Zeichnung, die eine Logik ist auf ihre Weise, eine Bastardlogik zwischen Arithmetik, Geometrie und Farbe, die Zeichnung die eine tote Natur ist, die Gedanken, sogar die Empfindungen sind nur Umwege. Man glaubt manchmal den kürzeren Weg zu nehmen, und es ist der längere. Es gibt nur einen Weg, um alles wiederzugeben, alles zu übertragen: die Farbe. Die Farbe ist biologisch, wenn ich so sagen darf. Die Farbe ist lebendig, macht allein die Dinge lebendig.

Aber wir müssen das ja nicht entscheiden. Worauf es mir ankommt ist, daß die Geometrie eine Möglichkeit ist, das sog. Figurale (im Unterschied zum Figurativen) zu realisieren, daß sie da aber in einem Kontinuum steht mit unendlich vielen anderen Möglichkeiten. Und es ist ganz klar, daß bei Bacon selbst der Begriff der Figur wieder anders wird bestimmt werden müssen. Was ist die Figur bei Bacon?

Figur, Ort, Raum

Diese Frage schieben wir vorläufig auf, wir werden das aus einem erweiterten Blickwinkel in den letzten Stunden des Semesters noch einmal angehen. Jetzt möchte ich kurz noch etwas andeuten auf einer abstrakteren, analytischen Ebene. Ein paar Voraussetzungen, die relativ unabhängig sind von der Entscheidung solcher Zweideutigkeiten, wie wir sie bei Cezanne's Einstellung zur Geometrie gesehen haben.

Egal, wie wir genau den Begriff der Figur fassen, so wird diese Figur irgendwo realisiert, darum geht es uns ja. Die Figur kommt an einen Platz. Nun kann man sagen, das ist ganz trivial, der Begriff Platz ist hier unnötig, denn er fällt zusammen mit dem des Trägers - und daß es irgendeine Materie geben muß als Träger ist eine Binsenweisheit, wenn wir von Realisierung der Figur sprechen. Aber ganz so einfach ist es nicht. Nehmen Sie als klassischen Träger eine Leinwand, aufgespannt auf einem Holzrahmen, also mit einem definierten Format; da drauf wird die Figur gemalt, sagen wir. Aber in dem Augenblick, wo die Figur gemalt wird - und das ist in Wahrheit natürlich etwas, was die Künstlerin auch schon vorher antizipiert haben muß -, da ist das nicht nur einfach die Leinwand, sondern da tritt eine Wandlung ein, die über das Vorhandensein der Figur hinausgeht; da definiert sich auch das, was nicht diese Figur selbst ist, in seinem Bezug auf sie neu. Ein catchword hier ist: 'Grund'. Mit der Ankunft der Figur wird das (oder eben Manches von dem), was da vorher nur Leinwand war, zum Grund der Figur. Aber das ist klarerweise erst der Anfang. Verschiedene Gestaltung der Figuren kann auch qualitative Veränderungen am Grund mit sich führen; es kann aber auch der Grund als solcher bearbeitbar werden. Das ist etwas, was zu diesem Begriff des Figuralen quasi dazugehört, der sollte so verstanden werden, daß er auch die Gestaltungsmöglichkeiten all dessen miteinschließt, was zur Figur in Beziehung tritt. Also zB kann der Grund so gestaltet werden, daß er Fläche wird. Das ist etwas, was wir im Anschluß an Deleuze in einer der ersten Stunden schon hervorgehoben haben bei Bacon, diese großen, monochromen Farbflächen wie hier:

Abbildung 10-3. Mittlere Tafel aus: Studies for a Crucifixion, 1962

Das sind Flächen nicht einfach in dem Sinn der Flächigkeit der Leinwand, sondern die sind als Fläche bildnerisch gestaltet; andere, eigentlich: alle anderen Partien des Bildes sind, von der Leinwand her gesehen, ja genau so flächig, sind aber keine in diesem Sinne gestaltete Flächen. Und dann gibt es da natürlich noch die Möglichkeit des Raumes, daß der Grund der Figur zu einem Raum wird, in dem sie sich befindet. Da gibt es erstens, das wissen Sie ja alle, daß ist ja wahrscheinlich das, womit die Sache anfängt in der Kunstgeschichte, tausenderlei Erweiterungsmöglichkeiten, aber auch tausenderlei Möglichkeiten, jeden einzelnen dieser Aspekte verschieden zu akzentuieren.

Beim Raum kann man dieselbe Frage aufwerfen wie bei der Fläche: Geometrisch ist trivialerweise die Fläche der Leinwand ein zweidimensionaler Raum, und man kann das alles in Eins zusammenfallen lassen, wenn man will: Die Fläche = der Raum = der Grund. Aber in Bezug auf die malerische Figur ist das alles verschieden. Da ist der Raum eine sehr komplizierte Sache, und er ist vor allem kontingent, nicht notwendig überhaupt da. Die Angelegenheit kann damit erledigt sein, daß die Figur auf dem Grund ist. In einem Raum zu sein heißt für die Figur, eine Bestimmung darüber hinaus anzunehmen, und damit wird sich dann natürlich auch am Grund und am Verhältnis von Figur und Grund eine Veränderung eintreten. Eine geläufige Möglichkeit, das auszudrücken (noch lange nicht: zu erklären!) ist zu sagen: Um in einen Raum zu kommen, muß die Figur sich vom Grund lösen. Sie muß etwas um sich haben, was nicht auf ihr draufklebt und auf dem sie nicht drauklebt; sie muß bei sich selbst sein, in sich selbst eingeschlossen, entfernt von dem nächsten Anderen, das auch in sich eingeschlossen ist. Ich möchte nicht ernsthaft das Wort 'Leere' hier ins Spiel bringen, obwohl das naheliegt. Man kann sich dieses Gewinnen eines Raumes, dieses Lösen vom Grund denken als ein Aufheben der Figur vom Grund, und die Veränderung, die dann am Grund eintritt ist die Trennung von Boden und Hintergrund.

Alle diese Dinge, diese Begriffe, die ich jetzt ins Spiel gebracht habe, sind sehr allgemein und unverbindlich nur eingeführt. Sie sind neutral dagegen, ob Sie die Figur jetzt eher geometrisch auffassen oder als Farbflecken oder sonstwas; und sie sind natürlich völlig neutral gegenüber den Möglichkeiten ihrer technischen Realisierung. Wie man es macht, daß man eine Figur vom Grund löst, ob das dadurch erreicht wird, daß man zB umgekehrt primär ein Differenz von Boden und Hintergrund schafft, und dann löst sich die Figur gleichsam von selbst, als automatische Folge, oder ob das anders auch geht. Die Zentralperspektive ist eine Antwort hier, eine ausgezeichnete und besonders faszinierende. Aber wie gesagt, ein einfacher Querstrich, der die Bildhöhe in Oben und Unten im Verhältnis 2:1 teilt, tut's auch.

Ein außergewöhnlicher und wahrhaft faszinierender Fall, etwas ganz anderes, ist dieses Bild von Velazquez, das Porträt von Pablo de Valladolid:

Abbildung 10-4. Velazquez, Pablo de Valladolid (Vergrößerung in einem separaten Fenster)

Da haben wir keine perspektivischen Anhaltspunkte, keine verläßliche Trennung von Boden und Hintergrund, und trotzdem hat die Figur eine geradezu überwältigende Präsenz im Raum. Die Farbe spielt da eine Rolle, aber es gibt noch weitere Faktoren. Ich werde in anderem Zusammenhang auf das Bild zurückkommen.

Ich mache für diesmal Schluß, obwohl mir noch ein wesentlicher Begriff in der Reihe Figur, Grund, Raum, Boden, Hintergrund fehlt. Ich setze also nächste Woche diese Überlegung noch fort.