Vorlesung 10. Realität, Imagination und Figur

Inhalt
Philosophische Spekulation und kulturelle Tatsachen
Bildlichkeit und Imagination
Figur
Literatur in dieser Vorlesung

In den Stunden vor Weihnachten habe ich über Repräsentation gesprochen, etwas ausführlicher als ich ursprünglich vorhatte, aber ich hoffe nicht allzu langweilig. Man könnte sagen, daß diese Überlegungen insgesamt dem Zweck dienten, einen Hintergrund für das Verständnis jener Behauptung Bacon's zur Verfügung zu stellen, daß seine Malerei nicht repräsentativ sei. Wir sind nicht zu einer endgültigen Erklärung dieser Position gekommen, in Wahrheit habe ich das bis jetzt gar nicht versucht, aber Sie haben hoffentlich gesehen in welchen Richtungen so eine Erklärung versucht werden könnte. Zwei Punkte möchte ich noch einmal ins Gedächtnis zurück rufen: Erstens, daß die moderne Repräsentation nicht mehr durch ein natürliches System der Abstammung gestützt wird, in dem die Ähnlichkeit ihr Fundament hat (Plato), sondern auf Willkür beruht und durch eine hochdifferenzierte Systematik der Macht gestützt wird. Dieser Punkt könnte bei der Interpretation von Bacon's Papst-Bildern nutzbar gemacht werden. Ich möchte bei der Gelegenheit erwähnen, daß von den Büchern, die ich zu Bacon in der zweiten Stunde angegeben habe, daß Sie da in dem Buch von Wieland Schmied (Bacon, Das Bewußtsein der Gewalt) eine engagierte Auseinandersetzung mit den Papst-Bildern finden. Der zweite Punkt wäre das, was man die prekäre Situation des Bildes und der Ähnlichkeit in der modernen Repräsentation nennen könnte. Aus dem allgemeineren philosophischen Blickwinkel: Die Repräsentation durch willkürliche Zeichen macht sich radikal unabhängig von der Ähnlichkeit, bedarf aber offenbar, wenn sie tatsächlich systematisch als Episteme intendiert ist, einer Funktion der Bildlichkeit, die freilich als kaum zugängliche subjektive Kompetenz gedeutet wird - das ist eine schwerwiegende Ambivalenz. Aus der Perspektive unserer Interpretation der 'Meninas': Dem Bild, das so aufdringlich vor uns steht, kann gleichwohl in dem gesamten System der Repräsentation kein eindeutiger Ort zugewiesen werden, es wird zum Auftauchen gebracht in der Passage von einer Unsichtbarkeit zur anderen, durch eine Meisterschaft, die theoretisch nicht restlos rekonstruierbar ist. Auch diesen Punkt, dieses Prekäre des Abbildes, könnte man natürlich in Bezug auf Bacon fruchtbar machen. Nichts ist leichter zu sehen, als daß vor allem seine Porträts ja den Anblick sehr energisch thematisieren, zugleich aber allen überhaupt möglichen Gefährdungen, Deformationen, Störungen und Unwägbarkeiten aussetzen.

Philosophische Spekulation und kulturelle Tatsachen

Der Abstand von philosophischer und kunsthistorischer Perspektive

Ich habe jetzt von Rückbezügen auf Bacon gesprochen, die man herstellen könnte und angedeutet, daß ich sie aber nicht wirklich herstellen will. Das klingt vielleicht ein bißchen so, als wollte ich Ihnen gerade das verweigern, dessentwillen man eigentlich in so eine Vorlesung, geht, die Nutzanwendung der philosophischen Spekulation in der Deutung der Malerei. Aber ich glaube, ich habe einen guten Grund, warum ich das nicht machen will. In einer gewissen Weise wäre es einfacht zu billig, so eine Feststellung wie die zuletzt gemachte (Störung und Deformation des Anblicks) irgendwie weiter auszuwalzen. Und der tiefere Grund dahinter ist, daß unsere philosophischen Überlegungen einen extremen status hatten: Sie sind allesamt am äußersten philosophischen Ende der Skala angesiedelt gewesen, so weit wie möglich von den konkreten Fragen der Malerei entfernt, ich meine: so weit, wie man, wenn man überhaupt noch substantiellen Zusammenhang wahren will, sich von diesen Fragen entfernen kann. Wir haben den Zusammenhang noch gehalten, in den Begriffen Ähnlichkeit, Bild, Repräsentation, Zeichen - aber wir hätten kein noch so kleines Schrittchen an Abstraktion mehr machen können.

Wir wissen aber natürlich alle, daß in diesem Abstand tausend Zwischen-Ebenen unterzubringen sind, daß sozusagen ein philosophisches Näherrücken an die konkrete Malerei in vielen hochinteressanten einzelnen Schritten möglich ist. Die meisten philosophischen Auseinandersetzungen mit Malerei, sei es nun ein bestimmtes Werk oder die Malerei überhaupt, fangen schon viel dichter an der Sache an. Ich habe das halt gegeneinander abgewogen, ich habe es ja schon in der ersten Stunde gesagt, und mich entschlossen, ein paar einzelne, punktuelle Lichter in Richtung Bacon zu werfen aus dieser allerabstraktesten philosophischen Perspektive, und dafür verzichte ich auf der anderen Seite auf eine richtiggehende Einlösung dieser Anregungen; denn das schiene mir nicht sauber, sozusagen richtiggehend interpretative Aussagen zu machen, wenn man sich diesen ganzen Weg der Annäherung erspart hat. Die Bemerkung, die ich da jetzt gemacht habe, hat aber nicht nur einen methodologischen Sinn, sondern mit der will ich auch sachlich weiter machen.

Das Bild als Tatsache

Erlauben Sie mir noch einen Augenblick diese Redewendung beizubehalten von der Distanz zwischen unseren philosophischen Überlegungen und der Malerei und stellen wir uns mal vor, daß wir gleich von Beginn an größere Nähe zu konkreten Fragen der Malerei gesucht hätten. Da würden wir in unserer Umgebung eine Menge von Theorien, Theorieentwürfen und Interpretation der verschiedensten Provenienz finden: philosophische Theorien in ästhetischer Absicht, wie zB von Richard Wollheim oder Nelson Goodman, Theorien von Kunsthistorikern oder Kunstwissenschaftlern wie Ernst Gombrich, die sehr respektable philosophische Argumente enthalten und sich auch wirklich tiefen philosophischen Fragen widmen etc. Fast alle dieser Theorien unterscheiden sich von unseren bisherigen Überlegungen in einem Punkt: Daß sie nämlich davon ausgehen, daß es das Bild - im Sinne der Abbildung - gibt, und daß man eben nur erklären muß (was schwer genug ist), wie es möglich ist, was gewissermaßen die Bedingungen der Möglichkeit von Abbildung sind. Ich habe das nicht vorausgesetzt. Aus dem, was ich gesagt habe bisher, können Sie auf keine Weise ableiten, daß es nach Velazquez überhaupt noch eine Malerei gegeben hat und die Sache nicht gleichsam von der europäischen Kultur fallengelassen worden ist. Es gibt aber faktisch diese Tradition der Malerei, es gibt die Bilder von Delacroix, von Waldmüller, von Monet, Cezanne und Balthus. Das ist eine Tatsache, ich sage behelfsmäßig, es kommt mir nicht aufs Wort an: eine Kulturtatsache.

Und das setzen alle diese Leute voraus, die da zum Teil hochinteressante und sicher auch richtige Theorien entwickeln darüber, wie es möglich ist, daß wir in einem eingetrockneten Patzen Ölfarbe unsere Urgroßmutter erkennen.

Aber natürlich setzen sie es nicht alle in demselben Sinn voraus, ich meine an dieser höchst komplexen kulturellen Tatsache spielt für die eine Theoretikerin dieser, für eine andere ein anderer Aspekt eine Rolle. Überhaupt ist es nicht so, daß es hier um eine fest umrissene Frage geht, sondern wenn wir von Theorien der bildlichen Darstellung reden, dann handelt es sich da eher um eine Familie von Fragestellungen, die reicht vom Interesse an einer generellen Symboltheorie über Theorien der Referenz bis zu kognitiv-psychologischen Theorien der Bilderkennung oder des Sehens (aber sie alle treffen sich im Museum). Ich schreibe in die Literaturliste ein paar Klassiker aus der jüngeren Vergangenheit, aber ich habe nicht die Zeit, einen Überblick über das Theoriefeld zu geben. Gelegentlich in den nächsten Stunden werde ich einen bestimmten Autor erwähnen, Flint Schier, von dem ist in den 80er-Jahren ein Buch erschienen unter dem Titel Deeper into pictures. An essay on pictorial representation. Ich weiß nicht, ob das Buch großen Einfluß gehabt hat in der Diskussion seither, aber aus verschiedenen Gründen scheint es mir interessant, und es ist überhaupt ein lesenswertes Buch, allerdings nicht ganz einfach zu verdauen.

Na gut, wir setzen uns also nicht mit diesen verschiedenen Ansätzen systematisch auseinander, aber ich picke eine einzelne, sehr spezielle Fragestellung heraus aus dem Bereich und werde versuchen, anhand dieser Fragestellung, so gewissermaßen auf eigene Faust, eine neue Perspektive zu entwickeln für meine Vorlesung, einen Übergang zu einem neuen Schwerpunkt.