Bildlichkeit und Imagination

Ich beginne mit einer berühmten Textstelle von Leonardo da Vinci, und zwar handelt es sich da um eine Idee für die Ausbildung von Malern, das Training der angehenden Künstlerin. Ich lese das auf englisch vor, ich zitiere es aus dem Gombrich:

You should look at certain walls stained with damp, or at stones of uneven colour. If you have to invent some backgrounds you will be able to see in these the likeness of divine landscapes, adorned with mountains, ruins, rocks, woods, great plains, hills and valleys in great variety; and then again you will see there battles and strange figures in violent action, expressions of faces and clothes and an infinity of things which you will be able to reduce to their complete and proper forms.

Also zunächst ist das einfach mal ein Ratschlag, wie man seine malerische Phantasie anregen kann; es ist natürlich eine interessante Stelle im Zusammenhang von Leonardo's Theorie der Malerei, aber diese Linie verfolgen wir nicht. Ich will den Text zweckentfremdet benutzen.

Wir sitzen also vor so einer Wand, und da sind Unregelmäßigkeiten verschiedenster Art, kleine und große Risse, Erhebungen, die Schatten hervorrufen, Verfärbungen etc. Wir sitzen da und lassen uns auf die Wand ein, wir fangen an in diesen Unregelmäßigkeiten Figuren zu sehen. Ruinen, ganze Schlachten, strange figures in violent action. In Wirklichkeit sind da nur Risse in der Wand, aber wir sehen eine Schlacht. Die Schlacht ist imaginär, sie zu sehen ist eine Leistung unserer Imagination, um deren Training es ja gerade geht. Und ich schlage Ihnen jetzt vor, von da aus nicht den vorgezeichneten Weg zu gehen über die Kompetenz des Malers und dann seine Performanz, das Malen als solches, zu dem fertigen Werk - dem Schlacht-Schinken - und schließlich zu einer Betrachterin, sondern diese Situation vor der Wand direkt und ohne Umweg auf die Situation vor einem fertigen Bild zu projizieren.

Wir stehen vor einem Bild, sagen wir diesem Monet hier, eines von mehreren Bildern, die er 1870 am Strand von Trouville gemalt hat:

Abbildung 10-1. Monet, Trouville (Vergrößerung in einem separaten Fenster)

Und da sehen wir also eine verputzte (grundierte) und bemalte Wand, eine Lein-Wand ist es diesmal (statt einer Stein-Wand), weiße, blaue, grünliche und braune Partien gibt es, zB dieses weiße Fleckerl da hinten, das aus dem grau-gelb-grün hinaufragt in das grau-blau-grün, oder das auffällige neon-artige Blau an der Grenze von Schwarz und Weiß weiter rechts, oder die auf dieser Leinwand fast schon gewagte Buntheit da weiter links, schaut aus wie die vergammelten Ostereier von vorigem Jahr, die nicht gefunden worden sind von Heinz-Rüdiger, und jetzt an einem Jännertag im kahlen Garten auftauchen. So richtig zum Hineinversenken, die ganze Sache. Konzentrieren Sie sich mal auf diese plumpen olivgrünlichen Figurationen so halblinks Mitte, auf halber Höhe: Wenn Sie sich wirklich brav konzentrieren, können Sie sich einbilden, nach da Vinci's Anweisung, daß das Stühle sind. Und wenn Sie an der Sache Gefallen finden, werden Sie dann auch noch einen Sonnenschirm sehen, und Köpfe, und Boote etc. Vielleicht gelingt es Ihnen sogar Sand zu sehen, und Wolken und Wasser. Ich meine, ich will Ihnen nicht ausreden Ihre Imagination so lange anzustrengen, bis Sie Brigitte Bardot sehen oder ein Feuerwehrauto oder eine zweisprachige Ortstafel aus Kärnten, das sind Dinge, wo man schon mehr Phantasie braucht. Aber was wirklich da ist wird immer nur Verputz sein und darüber aufgetragene Farbe bzw darunter sichtbares Mauerwerk oder Leinwand. Der Sonnenschirm, die Sessel sind imaginär.

Ich wiederhole vorsichtshalber noch einmal: diese Weise, die Sache darzustellen, ist nur eine von vielen möglichen und sie ist alles andere als kanonisch. Aber ich will sie ein wenig beibehalten. Wenn wir sagen, daß das, was so beschrieben wird, ein Bild ist, eine Abbildung, und das Bild ist eine Tatsache (Sie erinnern sich, wir akzeptieren jetzt das Bild als Tatsache!), dann ist völlig klar, daß das sogenannte Abgebildete, also zB der Sonnenschirm oder der Hut, etwas Imaginäres ist. Es ist einfach kein Sonnenschirm da auf dem Bild. Sie können zB, wenn Sie im Garten sitzen an einem heißen Julitag, und Sie befinden sich zufällig im Besitz dieses Bildes von Monet, nicht hineingreifen in das Bild und den Sonnenschirm herausnehmen um sich die Hitze auf der Birne zu mildern. Das ist nicht weiter tragisch, denn es gibt ja auch Sonnenschirme. Sie müssen nur auf den Dachboden steigen und den Kasten aufschließen, in dem die Hinterlassenschaft von Ur-Ur-Onkel Claude aufbewahrt wird und den alten Sonnenschirm herausnehmen, den er immer nach Trouville mitgenommen und an fesche Damen verliehen hat, und schon wird es kühler auf der Birne. Bilder haben ihre Realität, und Sonnenschirme auch (ihre eigene).

Jetzt kann man natürlich genau an diesem Punkt zu theoretisieren beginnen und sich fragen: Wie funktioniert das, warum sehe ich ausgerechnet einen Sonnenschirm, ist das wegen meines unbewußten Vorverständnisses, oder was der Teufel was. ZB jener Flint Schier, von dem ich gesprochen habe früher, hat eine sehr interessante Theorie, die ungefähr so geht: Wir sehen das Bild als Bild eines Sonnenschirms deshalb, weil wir, wenn wir das Bild wahrnehmen, gewisse kognitive Prozesse durchgehen, die sich strukturell überlappen mit (oder überhaupt identisch sind mit) kognitiven Prozessen, die wir durchgehen, wenn wir einen Sonnenschirm wahrnehmen. Nach dieser Theorie ist noch immer ein Sonnenschirm was total anderes als dieser bestimmte Ausschnitt eines bestimmten Bildes, aber in der Aktivität der Wahrnehmung beider gibt es eine signifikante Affinität, und das ist letztlich die Grundlage für die Identifikation des Einen als Bild des Anderen.

Aber in diese Richtung von Theoriebildung will ich jetzt nicht gehen. Ich stelle etwas ganz anderes an der Geschichte in Frage, nämlich die Realität dessen, was wir da angeblich wirklich sehen, was gerade nicht das Imaginäre ist. Die Flecken, die Figurationen, die Farben, die Linien, die vom aufgebrochenen Verputz gebildet werden.

Wir sehen da zB ziemlich im Zentrum unseres Bildes, im logischen Zentrum (geometrisch ist es die linke obere Ecke des rechten unteren Viertels), so einen seltsamen braunen Fleck. Er befindet sich an einer Stelle, wo wir geneigt sind das Eck einer Sessellehne zu sehen, und den braunen Fleck interpretieren wir vielleicht als einen dort zum Trocknen aufgehängten Schwamm oder eine Bürste oder einen Strandschuh oder sonstwas. Der Fleck ist wirklich da, sagen wir, die Bürste imaginieren wir. Mir aber geht es jetzt um den braunen Fleck als solchen. Mit welchem Recht sagen wir, daß da ein brauner Fleck ist? Warum ein Fleck? Sind da nicht, wenn wir genauer hinsehen, sehr viele Flecken auf der Leinwand, auf genau diesem begrenzten Gebiet? Und sind die wirklich alle braun? Und was ist überhaupt ein Fleck?

Mit einem Wort: Was da in Wahrheit ist, in dieser Region der Leinwand, können wir gar nicht so ohne weiters sagen. Letztlich können wir nur auf den Fortschritt der physikalischen Forschung vertrauen in dieser Hinsicht. Aber wir haben trotzdem so getan, als hätten wir eine ultimative Realität erreicht, wenn wir sagen: Flecken, Linien, Kreise, Streifen etc. In Wahrheit, müssen wir wohl eingestehen, sind auch das schon Leistungen unserer Imagination.