Vorlesung 9. Klassische moderne Philosophie

Inhalt
Descartes
Kant
Literatur zu Descartes und Kant

Wir haben vorige Woche gesehen, in welchem Maße die moderne Repräsentation von dem abweicht, was Deleuze als die ursprüngliche platonische Dimension der Repräsentation bezeichnet hat. Wenn an die Stelle der treuen Abbilder (Kopien) willkürliche Zeichen treten, werden wir selbst, die wir diese Zeichen verwenden, zum Ursprung in der Repräsentationsbeziehung. Die Ähnlichkeit scheint keine Rolle mehr zu spielen in diesem Wissen, weil ja die Zeichen keine Bilder sind. Sie haben mit dem, wofür sie jeweils stehen, nicht nur nichts gemeinsam, was die Rede von Ähnlichkeit rechtfertigen könnte - sie haben damit gar nichts mehr gemeinsam (das einzige, was sie verbindet, haben wir gesehen, ist ihre Begegnung in unserer Erkenntnis). Ein Begriff wie der des simulacrum scheint überflüssig zu werden, wenn sowieso keiner mehr damit rechnet, daß der Anblick einer Sache etwas damit zu tun hat, wofür sie einsteht. Ich habe daher schon vorige Woche den Verdacht zumindest hypothetisch ausgesprochen, daß es sich da tatsächlich um radikal Verschiedenes handeln könnte. Nun zwei Motive gegen diese Konsequenz: Erstens geht es immer noch um dasselbe. Ich habe gesagt: Das objet de la prétention, um das wir werben, ist noch im Jenseits geblieben, wo es immer war. Wenn wir es haben wollen, müssen wir freilich eine andere Strategie einschlagen: Es genügt nicht mehr darauf zu warten, daß wir aus einem Selektionsprozeß als Sieger hervorgehen, wir müssen selber die anderen Bewerber aus dem Feld schlagen. Aber an der Transzendenz als solcher hat sich im Grunde nichts geändert. Es haben sich nur einige signifikante Verlagerungen ergeben in dem platonischen Modell. Das zweite Motiv knüpft hier an: Solange wir noch gar nicht nachgesehen haben, welche Bedeutung unter diesen veränderten Bedingungen den Begriffen Bild und Ähnlichkeit zukommt, sollten wir kein endgültiges Urteil abgeben. Und da habe ich versprochen, heute ein bißchen dazu zu sagen.

Descartes

Ich will nicht viel über Descartes erzählen, obwohl er gewiß eine der interessantesten philosophischen Quellen in unserem Zusammenhang wäre. Ich gehe nur auf zwei besondere Punkte ein. Das eine ist die analytische Geometrie, und das andere seine Gedanken über die sog imaginatio oder Einbildungskraft.

Die analytische Methode

Die Analytische Geometrie wäre das Paradigma schlechthin, an dem man studieren könnte, was Foucault mit der Fülle der Funktionalität der Zeichen meint. Aber den Punkt, der an der Sache für uns am wesentlichsten ist, kann ich vielleicht fast einprägsamer vor Augen stellen anhand seiner Idee einer universalen analytischen Methode überhaupt, einer universalen Problemlösungsmethode. Es ist nicht so, daß die analytische Geometrie einfach eine besondere Anwendung jener allgemeineren Methode wäre, so einfach ist das nicht. Die Entwicklung der analytischen Geometrie ist eine sehr komplexe Sache, da spielen viele zum Teil heterogene Faktoren mit.

Also auch von der allgemeinen analytischen Methode will ich jetzt nur einen zentralen Punkt ansprechen. Es handelt sich um einen Gedanken, den er gleichsam importiert hat aus einem antiken Text zur Geometrie, dem sog 'Schatz der Analyse' von Pappos von Alexandria (ca 300 nC). In diesem Text wird eine Methode beschrieben, wie man eine große Klasse von geometrischen Problemen faktisch angehen und lösen kann, und zwar handelt es sich um die Probleme, wo ein bestimmter geometrischer Ort gefunden werden soll. Gegeben ist dies und das, ein Kreis und eine Gerade, die den Kreis schneidet, und noch ein paar andere Sachen, und nun sollen wir den Ort aller Punkte angeben, die ... .

Und da sagt nun jener Pappos etwas, was wir auch alle kennen, und was eigentlich zunächst völlig harmlos klingt. Er sagt, eine effiziente Vorgehensweise in fast allen derartigen Fällen besteht darin, daß man gleich am Anfang annimmt, das was man sucht, diesen geometrischen Ort, hätte man schon gefunden. Man zeichnet ihn einfach ein; klarerweise zeichnet man da etwas ein, von dem man glaubt, daß es auch wirklich so sein könnte, aber das ist nicht wesentlich. Es ist eine Hilfskonstruktion in einem speziellen Sinn, was man zeichnet. Und wenn man die eingefügt hat in die Zeichnung, die die Angaben darstellt - sie kommt einfach hinzu, wie wenn sie auch schon gegeben wäre, diese Hilfskonstruktion -, dann beginnt man aus den Verhältnissen, die da bestehen, und unter Ausnutzung aller geometrischen Sätze, die man kennt, Folgerungen zu ziehen. Also nehmen wir mal an, die Hilfskonstruktion wäre eine weitere Gerade gewesen. Dann sagt man sowas wie: Diese Gerade schneidet die andere Gerade in einem Winkel von ... und daher muß dort in jenem Dreieck dieser Winkel soundso groß sein und so weiter... Das macht man so lange, bis diese Schlußfolgerungen auf einen Satz geführt haben, von dem man anderweitig weiß, daß er ein absolut gewisser und auch möglichst allgemeiner geometrischer Satz ist. Und da macht man dann Halt und macht einen Moment Pause und versucht nun diesen Satz zu verwenden, um unabhängig von der ursprünglichen Annahme den Ort zu finden. Es ist ein bisserl so, wie wenn man einen Kredit aufgenommen hätte, als man das Gesuchte einfach als bereits gefunden annahm, und den fangt man jetzt an zurück zu zahlen. Man kann das ganze verstehen als eine heuristische Angelegenheit, als ein Verfahren, das das Auffinden des Beweisschlüssels irgendwie optimiert oder systematisiert. Man kann es auch anders auffassen, darüber hat es in der Wissenschaftstheorie des 20.Jahrhunderts scharfe Debatten gegeben, aber das lassen wir jetzt beiseite.

Für Descartes war diese methodologische Anregung als solche wahrscheinlich der bedeutendste aller Schlüssel. Er hat den Grundgedanken radikal verallgemeinert und daraus sozusagen einen eigenen Begriff von Problemlösung gemacht. Er hat gemeint, daß die in dieser einfachen Beschreibung eines mathematischen Tricks enthaltenen Elemente auch schon wesentliche Züge jeder Art von Problem beschreiben. Jedes Problem hat die Form, daß irgendwelche Angaben gemacht wurden, auf die man sich verlassen kann. Gegeben ist Dir eine Netzkarte, würde mein Freund Herbert sagen, ein Kabelanschluß und ein alter 286er. Ich meine es wird wohl fraglich sein, ob man sich auf den 286er als solchen verlassen kann, aber daß man ihn hat, ist dann sicher. Und jetzt ist die Frage, was ist die Menge aller services, die man damit installieren kann? Also es ist etwas da, was man kennt und weiß und versteht, eben das, was in der Schulgeometrie die Angabe heißt. Aber natürlich, sonst wäre es kein Problem, gibt es auch das Unbekannte, das, was man nicht versteht und noch nicht kennt. Und wenn es bei dem Problem jetzt nicht nur darum geht, etwas Vergessenes wieder aufzufrischen oder einfache deduktive Konsequenzen zu entwickeln aus den Angaben, sondern in der Tat etwas Neues zu finden, etwas bekannt zu machen, was unbekannt war oder ist - dann, so Descartes, ist der Königsweg, das Gesuchte als gegeben anzunehmen, seine Relationen mit dem bereits Bekannten genau zu studieren, Folgerungen daraus zu ziehen, bis man auf absolut gewisse allgemeine Sätze kommt, sich dann von der Annahme zu befreien usw. Das ist immer so. Eine ganz wichtige Frage, die er sich stellen mußte bei dieser Verallgemeinerung über den Pappos hinaus, war allerdings: Was heißt hier annehmen?

'Ich nehme das Gesuchte als gegeben an' - mit dieser bloßen Verkündung ist es ja nicht getan. Es muß etwas Bestimmtes stattfinden, was meine Situation gegenüber der Ausgangslage verändert. Beim geometrischen Beispiel kann man das gut sehen, ich muß etwas zeichnen, das ist eine reale Handlung. Selbst wenn ich die ganze Sache nur in Gedanken durchführe, muß ich mich wirklich für eine Zeichnung entscheiden, die die Hilfskonstruktion ist, ich kann nicht alle paar Augenblicke eine andere nehmen. Also das Annehmen muß insofern über die bloße Prätention hinausgehen und etwas Reales sein, als es eine Realität schafft. So leicht bei dem Geometrie-Beispiel zu sehen ist, wie das funktioniert, so schwierig ist es - wenn man die Lösung nicht schon kennt -, sich gerade dazu eine Verallgemeinerung vorzustellen. Genau da kommt das Zeichen ins Spiel. x als gegeben annehmen heißt: ein Zeichen einsetzen für x.... Im Falle der Algebra ist das im Grunde noch deutlicher: Es geht um Gesetzlichkeiten in den Verhältnissen von Größen, die allgemein gelten. Egal, welche Zahlen von den Buchstaben a und b und c vertreten werden, wenn a+b=c, dann c-a=b. Die Algebra war längst vor Descartes eine hoch entwickelte Disziplin. Aber er hat als erster konsequent auch die bekannten Größen in Gleichungen durch Buchstaben ersetzt. Wenn drei Größen a, b, c gegeben sind, wie groß ist dann die Zahl x, die sich zu b so verhält wie c zu a? Na wir schreiben es einfach auf, das Gesuchte: 'x:b = c:a'. Und schon haben wirs...

An solchen Beispielen wird überhaupt am drastischesten das Wesentlich an der neuen, der modernen Zeichen, sichtbar. Denn hier, wo das Bezeichnete das Unbekannte ist, ist eine Begründung der Beziehung durch das Bezeichnete nicht einmal möglich.

Damit stehen wir natürlich erst ganz am Anfang der wichtigen Gedanken, die diese analytische Methode des Descartes ausmachen, und wir können die Sache auch nicht weiter verfolgen. Um ihre Tragweite abzuschätzen, müssen Sie nur einen Punkt bedenken: Wenn die Methode der Naturwissenschaft insgesamt mathematisch geworden ist, und das ist die Methode oder methodische Grundlage der Mathematik, dann handelt es sich wirklich um ein neues Verhältnis zur Welt überhaupt. Dazu kommt dann noch die zumindest von dem jungen Descartes explizit aufgestellte Forderung, daß in allen Fällen, wo die Mathematik nicht direkt anwendbar ist, wir sie zumindest als Modell verwenden müssen. Mit einem Wort, die repräsentativen Zeichen bilden ein System, ein umfassendes System. Das ist sozusagen die zweite Zusatzbestimmung, die wir gefunden haben, nachdem wir vorige Stunde schon sahen, daß diese Art des Wissens eine grundsätzliche Reflexion auf die Erkenntnis als solche notwendig macht; jetzt sehen wir die Notwendigkeit einer immanenten Systematik der Zeichen, eine Sache, der Foucault auch ein paar schöne Sätze gewidmet hat (Ordnung der Dinge, 96f.):

Ein willkürliches Zeichensystem muß die Analyse der Dinge in ihren einfachsten Elementen gestatten. Es muß bis hin zum Ursprung zerlegen, aber es muß auch zeigen, wie die Kombinationen dieser Elemente möglich werden... In seiner Perfektion ist das Zeichensystem jene einfache, absolut transparente Sprache, die fähig ist, das Elementare zu bezeichnen. Es ist auch jene Gesamtheit von Operationen, die alle möglichen Verbindungen definiert... ... es existiert eine notendige und einmalige Disposition, die die ganze klassische Episteme durchzieht: es ist die Zugehörigkeit zu einer universalen Berechnung ... Im klassischen Zeitalter sich der Zeichen zu bedienen, heißt nicht, wie in den voraufgehenden Jahrhunderten, zu versuchen, unterhalb ihrer den ursprünglichen Text einer gehaltenen und für immer festgehaltenen Rede wiederzufinden. Es heißt vielmehr, den Versuch zu unternehmen, die arbiträre Sprache zu entdecken, die die Entfaltung der Natur in ihrem Raum, die letzten Punkte ihrer Analyse und ihre Kompositionsgesetze gestatten wird.

Einbildungskraft

Ich möchte jetzt aber in der gebotenen Kürze noch auf einen anderen Punkt eingehen, der sich zwar aus dem Bisherigen entwickeln läßt, aber selbständig Bedeutung hat und uns direkter zur Fragestellung vom Anfang der Stunde führt.

Wenn Sie noch einmal an jene Geschichte mit der geometrischen Hilfskonstruktion zurückdenken, das Einzeichnen, und an die Schritte einer Verallgemeinerung, die zu der Deutung der Annahme als Zeichen führten. Ich habe hervorgehoben, daß es da um die Setzung einer Realität geht, auch wenn es nur die eines Willensaktes ist: die unbekannte Größe heißt 'x' oder 'Burli' oder eben wie immer Sie wollen. Jetzt hebe ich den komplementären Aspekt hervor, die Rückseite der Medaille: Die Setzung muß von der Art sein, daß eine Interaktion möglich ist zwischen dem Zeichen und dem, was als Angabe für das Problem schon vorher da war. Wenn geometrische Figuren gegeben waren, dann müssen wir ein geometrisches Element einzeichnen. Es genügt nicht als Hilfskonstruktion, nicht einmal in jenem Trivialbeispiel, mit dem ich begonnen haben, daß wir zB einfach unsere Unterschrift hineinmalen in die Skizze. Wir müssen, wie krakelig auch immer, eine geometrische Kurve zeichnen, eine wellige Gerade, einen eierförmigen Kreis... Aber es muß eine Gerade sein oder ein Kreis. Denn wir müssen ja jene Folgerungen ziehen können, die uns dann irgendwann auf den Satz führen, der als Schlüssel für das Problem gestatten wird, uns von der Annahme wieder zu emanzipieren.

Wir sind hier auf einem spezielleren Terrain, nicht mehr einfach bei der Idee eines willkürlich vereinbarten Zeichens; die ist jetzt schon eine Verbindung eingegangen mit Vorstellung von einer Methode des Erkennens oder der Problemlösung. Das ist ein spezifisch cartesianisches Element, aber es ist, in Hinblick auf die Epoche betrachtet, das dynamische Element schlechthin. Also unsere Zeichen müssen so gesetzt sein, daß sie in eine nicht-triviale Interaktion treten können mit den Angaben. Was wird aus dieser Forderung bei der Verallgemeinerung? Die Zeichnung wird durch eine weitere Figur ergänzt; in der Algebra wird die Symbolkette durch ein weiteres Symbol ergänzt - in welche Richtung wird die Verallgemeinerung gehen?

Also die Verallgemeinerung, mit der Descartes hier operiert, ist wirklich radikal. Er sagt: Bei jedem Problem gibt es eine Angabe, irgendwas, was schon außer Streit gestellt ist. Wenn ich auf die Ebene von Problemlösung schlechthin springe, dann kann das nur heißen: Irgendwas muß immer schon erkannt sein, wenn ich was Neues, jetzt eben gerade noch Unbekanntes herausfinden will. Und in den Kontext dieses schon Erkannten muß ich das Zeichen einfügen, und dann kann dieser Prozeß beginnen, in dem etwas Neues herausgefunden wird.

Hier ist eine ganz wichtige Stelle in unseren Überlegungen, sowohl wichtig in philosophiegeschichtlicher Hinsicht, in Hinsicht auf unsere Kontrastfolie Plato; aber auch wichtig in Bezug auf unsere konkreteren Probleme. Zuerst einmal muß man sehr genau bestimmen, was das heißt, dieses: Es muß schon etwas erkannt sein.... Sowas Ähnliches gibt es ja bei Plato auch, mit der Lehre von der anamnesis. Das ist die Theorie, daß wir in einem früheren Leben schon einmal eine Schau der Ideen gehabt haben könnten oben außerhalb des Himmels, und immer wenn wir hier herunten auf unserem kleinen Erdkugerl es tatsächlich - das ist ja die Ausnahme - so weit bringen, daß wir was erkennen, dann basiert das auf einer Wiedererinnerung an die Idee dieser Erscheinung. Der eine ganz entscheidende Unterschied zwischen diesem Gedanken und dem von Descartes liegt darin, daß es bei Descartes etwas ganz Anderes ist, was wir schon erkannt haben müssen, während es bei Plato um Wiedererkennen geht. Daher ist bei Descartes diese Emphase auf Erweiterung des Wissens möglich, in direkter Absetzung gegen die antike Philosophie.

Und dann, das ist ein ebenso gewichtiger Unterschied, ist das bei Descartes vorausgesetzte Erkannte eben auch wieder nur als meine, für mich selbst außer Frage gestellte Erkenntnis bestimmt, und keineswegs als irgendeine Transzendenz. An keinem Punkt und aus keiner Perspektive verweist dieser cartesische Zusammenhang auf eine Transzendenz. Man kann sagen: Na und wie ist das bei jener Erkenntnis, die Du bereits gemacht hast und als sicher gelten läßt - wie bist Du auf die gekommen? War das auch ein Problemlösungsvorgang? Dann muß es da noch eine tieferliegende vorausgesetzte Erkenntnis gegeben haben. Dagegen spricht nichts. Das ist eine gute Frage, und man kann beruhigt 'Ja' dazu sagen: 'Ja, so mag es wohl gewesen sein.' Und wenn dann der Andere sagt: 'Na und stellst Du Dir vor, daß man das so ins Unendliche nach hinten verlängern kann?', dann wird die Antwort lauten: 'Nein, keineswegs. Das hat klarerweise irgendwo ein Ende, und zwar dort, wo ein kognitiver Zustand vorliegt, der absolut und ohne jeden Zweifel Erkenntnis ist, der sozusagen kein Problem mehr beinhaltet.' Dazu braucht es keine Begründung aus einer jenseitigen Idee oder sonstwas heraus. Umso deutlicher sehen Sie auch hier wieder die Komplementarität der beiden Dimensionen des repräsentierenden Zeichens einerseits, der Erkenntnisanalyse anderseits. Sie wissen alle, daß bei Descartes dieser Strang der Analyse zuläuft auf die Sache mit dem cogito, die Selbstgewißheit. Gerade deshalb ist es mir immer ein Anliegen darauf hinzuweisen, daß das nicht notwendigerweise so ausgehen muß. Es muß nicht ein ausgezeichneter derartiger Erkenntniszustand sein, damit die Antwort gerechtfertigt ist. In der Tat hat der junge Descartes das auch nicht so gesehen, und mit einer Pluralität derartiger hundertprozentiger Evidenzen gerechnet.

Es gibt an dieser selben Stelle aber auch ein sehr wichtiges Element der Affinität zu Plato, und das ist anzusprechen unter dem Titel der Produktivität oder Kreativität. Sie erinnern sich, daß Deleuze in seiner Beschreibung der platonischen Repräsentation die Differenz zwischen der Kopie und dem simulacrum auch einmal so gezogen hat, daß die Ähnlichkeit der Kopie fruchtbar ist, die des simulacrum unfruchtbar. Genau an diesem Punkt will Descartes trotz aller Differenzen Plato beerben. Und das bringt übrigens sein Interesse an der Methode herein in seine besondere Auseinandersetzung mit den Zeichen, dieses Bestehen auf der Produktivität. Natürlich haben wir gerade in dieser Affinität auch einen extremen Gegensatz. Bei Plato ist wirklich Genealogie gemeint, das Fortpflanzen eines Inhaltes von einem gegebenen Ursprung aus; bei Descartes geht es um das Neue als solches, um Kreativität als solche.

Ja, all das sind hochinteressante Aspekte in dieser Situation, wo wir eine Erkenntnis schon gehabt haben bzw zur Verfügung haben, und in deren Zusammenhang fügen wir das Zeichen ein. Aber zu dem Witz, wegen dem ich die Sache erzähle, komme ich erst jetzt, obwohl er eigentlich von Anfang an auf der Hand liegt. Es ist eben nicht nur gesagt, daß wir schon eine Erkenntnis zur Verfügung haben müssen, sondern vor allem, daß sie mit einem Kontext gegeben ist, in den das Zeichen eingebracht werden kann. Dieser Kontext muß insofern mit jener Erkenntnis schon gegeben sein - und nicht so wie das Zeichen von uns selbst erfunden -, als wir ja etwas dazulernen wollen und müssen. Es ist ganz klar, daß es sich um eine bewußte und bereits etwas spezialisierte Reflexion auf jenen kognitiven Raum der Begegnung des Zeichens mit dem Bezeichneten handelt, von dem ich schon vorige Woche gesprochen habe. Hier geht die Sache erst so richtig los. Descartes sagt nämlich, dieser Kontext kann sehr verschiedenartig sein, je nachdem wie klar bzw eng die Problemstellung durch die bereits vorhandenen Erkenntnisse fixiert ist. Probleme gibt es von sehr verschiedenen Komplexitätsgraden,und tatsächlich ist eine der elementaren Aufgaben, die er selbst auf dem Weg seiner Analyse der Erkenntnis sich gestellt hat, eine allgemeine Klassifikation aller Probleme. Darauf können wir jetzt nicht eingehen, ich werde das im nächsten Semester in einer Descartes-Vorlesung ausführlich besprechen, ich skizziere Ihnen jetzt nur einen besonders wichtigen Grenzfall, den es da gibt, und dann den allgemeinen Fall. Der Grenzfall am einen Ende der Skala ist das sogenannte vollkommen verstandene Problem: Das ist ein Problem, wo die Angabe einen so exakten Kontext bildet, daß für das Unbekannte gewissermaßen nur ein einziger slot übrigbleibt, aus dem es herauszuziehen ist. Sein Paradebeispiel ist das Finden der mittleren Proportionalen zu zwei Zahlen bzw das Wurzelziehen: a:x=x:b. Aber das ist erstens wirklich nur ein Beispiel, und wirklich nur ein Grenzfall. Sie können aber sehen, daß sogar hier der Begriff des Kontextes Sinn macht. Es handelt sich ja nicht um eine Liste von Zeichen oder allgemeiner irgendwelcher items, sondern um diese items in einer bestimmten Art von Verbindung.

Im Normalfall, im allgemeinen Fall, ist das aber überhaupt nicht so. Da sind die vorausgesetzten Erkenntnisse oder sagen wir: kognitiven Daten, da sind die nicht in so eindeutigen Beziehungen zueinander gegeben, sondern da muß das erst geklärt werden. Sagen wir mal, normalerweise sind diese Beziehungen wolkig, ist der Kontext nicht klar geschnitten. Trotzdem, und das ist jetzt der springende Punkt, ist uns dieser Kontext gegeben, wir konfrontieren uns mit diesem Kontext in seiner Wolkigkeit gewissermaßen, und in ihn bringen wir das Zeichen ein, mit dem wir die Annahme machen. Also, sagt Descartes, gehört zu unserer kognitiven Ausrüstung offensichtlich eine Fähigkeit, das bereits genau Erkannte, zweitens das wolkig Undurchschaute und drittens das von uns selbst determinierte Zeichen in einem übergreifenden Zusammenhang miteinander präsent zu haben. Diese Fähigkeit ist die Einbildungskraft. Einbildungskraft ist nicht so sehr die Fähigkeit, sich was vorzustellen, was es nicht oder noch nicht gibt, sondern das ist die Fähigkeit, verschiedene, durchaus heterogene Elemente in einem Kontext präsent zu haben. Die Fähigkeit, könnte man sagen, überhaupt ein Bild von der Lage zu haben, auch wenn es gänzlich unangemessen oder falsch sein mag. Ersichtlich ist das eine enorm wichtige Fähigkeit, die bei diesem ersten Schritt der Erkenntnisanalyse definiert wird. Aber uns interessiert natürlich, daß wir hier dem Bild als solchen wieder begegnen. Und es deutet sich da schon an, daß es in der modernen Repräsentation gleichsam die Rolle eines Untergrundes spielt, auf dem die Funktionalität der willkürlichen Zeichen ihr kognitives Potential entfalten wird, im Falle des Descartes muß man sagen: methodisch entfalten wird.

Die Lösung der Zeichen aus dem Kreislauf der Ähnlichkeiten hat die Frage aufgeworfen: Was wird da aus den Bildern, aus der Ähnlichkeit selbst? Von der Ähnlichkeit haben wir noch nichts gehört, aber wenn Sie mir jetzt mal abnehmen, daß Descartes in der Sache die allererste Autorität darstellt und das, was ich Ihnen eben erzählt habe, wirklich substantiell so ist, dann können wir sagen:

Bildhaftigkeit ist nicht der Kreislauf, in den die Zeichen eingebunden sind, sondern die Repräsentation läuft sozusagen durch die Bilder hindurch, auf der einen Seite rein, auf der andern wieder raus. Wir bringen das Zeichen ein in den Kontext mit den Angaben, und am Ende kriegen wir, wenn das Problem lösbar war, eine Erkenntnis heraus, die auch nichts Bildhaftes hat. Man kann es auch anders beschreiben: Wir haben eine bestimmte Aktion, das ist die Bestimmung des Zeichens durch Willkür; das spielt sich vor einem Hintergrund ab, der ist bildartig; und es dient einer bestimmten Aufgabe, der Analyse der Erkenntnis; und die hat ein Ziel, und das ist immer das Neue. Wichtig ist dabei natürlich noch, daß die Bildhaftigkeit ihrerseits als unsere Einbildungskraft ins Spiel kommt. Ich lese Ihnen da noch was vor von Foucault, das ist eine längere Stelle, wo er nicht den Begriff des Bildes, sondern den der Ähnlichkeit verwendet, aber Sie werden leicht sehen, wie das in unsere jetzige Überlegung hineinpaßt (Foucault, Ordnung der Dinge, 103f.):

Während im 16. Jahrhundert die Ähnlichkeit die fundamentale Beziehung des Seins zu sich selbst darstellte, ist sie im klassischen Zeitalter die einfachste Form, in der das erscheint, was zu erkennen ist und was von der Erkenntnis selbst am weitesten entfernt ist. Durch sie kann die Repräsentation erkannt werden, das heißt mit denen verglichen werden, die ähnlich sein können, in Elemente aufgelöst werden ...

In dieser Position der Grenze und der Bedingung ... steht die Ähnlichkeit auf der Seite der Imagination, oder genauer, sie erscheint nur durch die Kraft der Imagination, und die Imagination wirkt sich umgekehrt nur aus, indem sie sich auf sie stützt. Wenn man in der ununterbrochenen Kette der Repräsentation die einfachsten Eindrücke annimmt, die untereinander auch nicht die geringste Ähnlichkeit hätten, gäbe es in der Tat keine Möglichkeit, daß der zweite an den ersten erinnert, ihn wiedererscheinen ließe und so seine erneute Repräsentation im Imaginären gestattete. ... Diese Kraft, zu erinnern, impliziert zumindest die Möglichkeit, zwei Eindrücke gewissermßen als ähnlich (als benachbart und zeitgleich, auf fast die gleiche Weise existierend) erscheinen zu lassen... Ohne die Imagination gäbe es keine Ähnlichkeit zwischen den Dingen.

Technik und Theorie

Nun, ich möchte Sie zum Schluß dieses Descartes-Abschnittes noch auf einen Umstand aufmerksam machen, der unsere Sicht auf die sog moderne Repräsentation in ihrem Bezug zu Plato abrunden wird und uns später auch helfen wird, einige übergreifende Zusammenhänge zu formulieren zwischen Descartes, Velazquez und auch Bacon. Der Umstand liegt eigentlich auf der Hand: Wenn das alles maßgebliche Beobachtungen sind, die wir da bei Descartes getätigt haben, dann ist diese episteme weniger Theorie, als vielmehr Technik. Ihr Fortschritt, ihre Macht beruht nicht auf der Einsicht in den elementaren Zusammenhang, der sie begründet, fast im Gegenteil: die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten ist nicht zu durchschauen, nicht zu theoretisieren. Und zweitens, das ist die Kehrseite, der Fortschritt beruht darauf, daß eine Realität geschaffen wird, die sich dann auswirkt. Gerade dieses Schaffen einer Realität ist undurchschaubar. Das ist charakteristisch für die Technik im Unterschied zur Theorie.

Und wir können also die Differenz zu Plato etwas genauer so formulieren, daß außer der Verlagerung des Ursprungs des Repräsentation noch zwei andere markante Verlagerungen stattgefunden haben. Erstens ist das Bild vom Prätendenten zu einem konstanten Hintergrund oder besser Kontext, fast einer Art Schleier, geworden, der immer wieder in verschiedenen Richtungen durchquert wird. Und zweitens hat das Wissen, die Repräsentation, sich das Element des Technischen angeeignet, das vorher charakteristisch für das Trugbild war. Das Technische ist zumindest vorläufig dem simulacrum weggenommen und der Repräsentation zugeschlagen worden.