Richard Heinrich: TEXTE: KunstSprache NaturKoerper


[deleuze: philosophie und kunst]

Abkuerzungen im folgenden Text:
QuPh = Qu'est-ce que la philosophie. Paris 1991

Den folgenden Text habe ich am 21.Juni 1996 am Institut fuer Wissenschaft und Kunst in Wien praesentiert, im Rahmen der Vortragsreihe 'PHILOSOPHENKUENSTLER. Zur Rivalitaet von Kunst und Philosophie' (koordiniert von Dr. K.Stockreiter). Der Text steht in lockerem Zusammenhang mit einem im Mai desselben Jahres gehaltenen Vortrag zu dem Bacon-Buch von Deleuze. Ich hoffe diesen Text demnaechst auch hier aufstellen zu koennen.






[MERKWOERTER] 

[NAVIGATON]

KunstSprache NaturKoerper. Ideen von G.Deleuze ueber das verhaeltnis von kunst und philosophie.


VORBEMERKUNG


ich kann mir fuer diesen vortrag nur ein sehr bescheidenes
ziel setzen, ich moechte einfach ein wenig nachzeichnen, wie
bei G. Deleuze das verhaeltnis von philosophie und kunst sich
darstellt, und zwar vor allem in den allgemeinsten aussagen,
die er macht. das ist nicht selbverstaendlich und vielleicht
auch gar nicht das interessanteste: denn Deleuze hat ja doch
einiges geschrieben, was konkret auf einzelne kunstwerke oder
kuenstler oder kunstgattungen eingeht. also beispiele fuer 
diese drei kategorien waeren: ein aufsatz ueber den "film" von
Beckett, das buch ueber Francis Bacon, die zwei baende ueber
das kino. das sind aber alles sehr konkrete stellungnahmen, die
er da abgibt, oft haben sie sogar einen hochspezifischen,
unorthodoxen status, wie etwa die kino-buecher. auch die arten 
des eingehens auf den jeweiligen gegenstand koennen sich sehr
unterscheiden, es handelt sich keineswegs immer um
interpretation in irgendeinem traditionellen sinn - 
z.b., wieder in hinblick auf die kino-buecher, kommen da ja gar
keine interpretationen von filmen vor, obwohl dauernd
irgendwelche filme erwaehnt werden. also auf diese
mannigfaltigkeit von konkreten bezugnahmen auf kunst 
werde ich nicht primaer eingehen, sondern auf generellere
aussagen, die er eben auch gelegentlich macht.
der form nach wird das ein referierender vortrag werden, und
was ich aus eigenem dazu investiere ist, dass ich gewisse
gedanken staerker hervorhebe und dass ich ein paar vielleicht
nicht ganz offensichtliche querverbindungen herstelle. ich 
moechte aber eine prinzipielle vorbemerkung machen.
	

interpretation
und
theorie

naemlich es ist fuer mich, und wohl fuer die meisten meiner
generation, so: egal, ob man jetzt von der aesthetischen
theorie Adornos, oder von Paul de Man oder von den grossen
entwuerfen in der analytischen tradition - wie etwa Goodman - 
ausgeht, immer scheint der wichtigste gegensatz, in dem sich
die philosophische aestehtik orientieren muss, der zu sein
zwischen einer philosophischen kunsttheorie einerseits, und
einer spezifisch philosophischen interpretationsleistung
anderseits, die auf das einzelne kunstwerk als einzelnes zielt.
und das ist natuerlich auch ganz in ordnung so, das ist schon
eine interessante alternative, ich meine in dem sinn, dass man
sich da nicht nur zu entscheiden hat, sondern dass man vor
allem sehr viele bewegungsmoeglichkeiten innerhalb der
alternative ausloten kann (wie Adorno).

spekulatives

aber in dieser situation vergessen wir doch leider zunehmend,
dass verhaeltnisse von philosophie und kunst auch in voellig
anderen dimensionen oder bahnen bestehen koennen. wir vergessen
schon fast, dass etwa im deutschen idealismus philosophie
ihre existenzmoeglichkeit abhaengig gemacht hat von einem
richtigen verstaendnis der kunst, ja mehr noch: von der kunst
selbst. philosophie gibt es ueberhaupt nur in hinblick auf
kunst. das ist natuerlich eine voellig andere, unglaublich
radikale und riskante sicht dieses verhaeltnisses.ich will
nicht sagen, dass Deleuze da irgendwie anknuepft, ganz und gar
nicht. aber auf seine eigene weise sprengt auch er jene etwas
beruhigende alternative von kunstphilosophie als theorie
einerseits, interpretation anderseits. einige ganz bedeutende
und hochaufgeladene begriffe stehen auf dem spiel, sollen sich
konturieren, wenn es um das verhaeltnis von philosophie und
kunst geht: das begriffspaar von organismus und anorganischem,
das leben, der koerper, die sprache, das denken.
auf diese sehr spekulative dimension ziele ich mit diesem
vortrag, dazu werde ich dann am ende etwas ausfuehrlicher
sprechen.

parallelitaet
und
interaktion


I. zunaechst aber ist natuerlich bei D. am auffaelligsten die parallelitaet, die er in seiner redeweise immer wieder herstellt zwischen philosophie und kunst. ganz schematisch wirkt das. der kuenstler erfindet, schafft, und zeigt affekte, der philosoph erfindet, schafft, zeigt, begriffe. die philosophie, um es von dieser seite her zu sagen, waere von der kunst gar nicht zu unterscheiden, wenn es nicht begriffe waeren, mit denen sie umgeht. so gibt es eine verraeterische stelle, wo D. sagt: " la philosophie et l'art de former, d'inventer, de fabriquer des concepts". also man hat so das gefuehl, beides sind creative und in gewisser weise demonstrative aktivitaeten, und wenn man wuesste, was begriffe und affekte jeweils sind, dann waere der unterschied und die beziehung voellig klar. hier besteht allerdings das kleine problem, dass man nicht so ohne weiters sagen kann, auf welcher ebene, von welcher instanz das zu klaeren waere. kann das eine aufgabe der philosophie selbst sein? oder ist es eine aufgabe der wissenschaft oder der logik? letzteres scheidet aus, denn D. sieht auch wissenschaft und logik auf derselben ebene wie philosophie und kunst, als eine dritte aktivitaet desselben typs (erfindung von funktionen) - darauf, auf diese zusaetzlichen verhaeltnisse werde ich nicht eingehen. in wahrheit kann das natuerlich nicht die aufgabe einer zusaetzlichen instanz sein, auch nicht in dem sinne, dass man z.b. innerhalb der philosophie sowas wie ein zusaetzliches reflexionspotential annimmt, das speziell fuer solche metafragen zu nutzen waere. das waere quatsch. das klaert sich ueberhaupt nicht durch hoehere allgemeinheit, sondern nur in der konkreten beziehung eben von kunst und philosophie. das klaert sich nur, wenn man aufhoert, auf die parallele zu schauen und stattdessen die interaktion in gang bringt oder beschreibt. wir wollen aber zunaechst einmal ganz kurz uns erinnern, was diese begriffsschoepfung der philosophie eigentlich ist; dann etwas ausfuehrlicher, wie es mit der kunst und den affekten aussieht; und dann erst wollen wir eine moeglichkeit dieser interaktion betrachten.






begriffe

immanenz-
plan

personnage
conceptuel

also ich beschreibe Ihnen jetzt natuerlich nicht die theorie
der begriffe von D., das waere eine eigene sache, ich gebe
Ihnen nur ein paar andeutungen und woerter, mit denen dann im
weiteren vielleicht etwas anzufangen ist. begriffe sind fuer
ihn immer komplex, sie sind multiplizitaeten. ihre komponenten
koennen ihrerseits auch begriffe sein, sie koennen aber auch
etwas anderes sein, z.b. irgendwelche kraefte oder objekte
oder teile von objekten. ein begriff ist nicht durch eine
energie, sondern durch und als intensitaet bestimmt. er hat
eine geschichte, ein werden. es gibt eine definition: "le
concept se définit par l'inséparabilité d'un nombre fini de
composantes hétérogènes parcourues par un point en survol
absolu, à vitesse infinie". in einem gewissen sinn ist das
eine auffassung des begriffes als denkakt, ein denkakt, wo 
das denken mit unendlicher geschwindigkeit vor sich geht. der
begriff ist genau in dieser hinsicht absolut, als seine einheit
auf dieser unendlichen geschwindigkeit beruht - die koennte
man aus der addition der komponenten nicht herstellen. aber 
er ist in anderen hinsichten relativ: erstens in hinsicht auf
seine komponenten, die ja auch unabhaengig oder in anderen
begriffen existieren koennen, zweitens in hinsicht auf andere
begriffe. das ist so: der begriff ist als ganzheit absolut,
aber er ist kein absolutes, letztes ganzes. denn er steht ja in
beziehung zu anderen begriffen, und zwar innerhalb einer
umfassenderen ganzheit,in der sie sich begegnen. D. nennt sie
plan (diese ganzheit).
der immanzplan ist kein begriff, sondern ein bild des denkens.
und dann gibt es da noch etwas. das nennt er personnage
conceptuel - begriffliche persoenlichkeit. da ist gemeint eine
gewisse typische struktur oder muster, mit der ein denken in
den immanenzplan eintritt, dort aktiv wird etc. also
vielleicht in einem bild. stellen wir uns vor, wir beobachten
von aussen diesen immanenzplan. er ist in einem statischen
zustand. ein paar kraefte können wir sehen, die in einer art
aequilibrium sind, ein paar begriffe stehen herum oder
zeichnen sich ab, die in sich mit unendlicher geschwindigkeit
kreisen. und dann tritt da ploetzlich ein ereignis ein, alles
wird auf eine seltsame art durcheinandergewirbelt, verschlingt
sich und loest sich wieder auf in eine ganz neue 
anordnung, ein pulsieren sagen wir. und so bleibt es eine zeit,
ein paar hundert jahre, und langsam veraendert es sich und
schaut dann wieder anders aus; aber ploetzlich tritt wieder ein
ereignis aehnlicher art ein - und da wuerden wir eben sagen, 
da schau her, da war wieder der, der schon einmal so toll..der
Leibniz war wieder einmal da. aber das muss natuerlich nicht
eine reale person sein, diese personnage conceptuel. es ist
"das, was in uns denkt" in einem gewissen sinne. also Sokrates 
gibt Deleuze als beispiel an, Sokrates ist die (eine)personnage
conceptuel im werk Platos. bei Wittgenstein spuert man auch
sehr stark die praesenz so einer persoenlichkeit, aber da wuerde
ich z.b. zoegern, sie mit dem eigennamen LW zu bezeichnen.
das interessante, das hat man schon an der kleinen beispielhaften
geschichte von vorhin sehen koennen, ist, dass die personnage
conceptuel mit dem plan in einer wechselwirkung steht: sie
tritt nicht nur in den plan ein, sie veraendert ihn auch. 
daraus kann man etwa schliessen, dass philosophische taetigkeit
zwar in der creation von begriffen besteht, aber damit
zugleich auch immer eine globalere veraenderung ausloest, die
nicht begrifflicher art ist, sondern bildlicher, imaginativer 
art. aber diese und andere interessante konsequenzen koennen
wir nicht weiter verfolgen, wir wenden uns der kunst zu.


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II.

von Francis Bacon gibt es einen unglaublichen ausspruch, eine
antwort auf die frage, was fuer ihn gewissermassen die
eigentliche vorlage sein, von der her er seine bilder male.
und da sagte er: I'm just trying to make images as accurately
off my nervous system as I can.  von seinem nervensystem,
genauer: von einem augenblicklichen zustand seines dezentralen
nervensystems, versucht er seine bilder abzuziehen,
hinueberzubekommen auf eine leinwand. jenen augenblicklichen 
zustand kann man als empfindungszustand beschreiben, als
sensation. und die aufgabe und die frage ist dann, wie wird
die sensation im koerper von FB verwandelt in eine sensation
auf der leinwand. dazu sagt Bacon selbst sehr viel sehr 
faszinierendes, begriffe wie wurf, zufall, fall, falle,
katastrophe kommen da positiv vor, aber es gibt auch ebenso
interessante negative abgrenzungen, z.b. gegen die begriffe
der dokumentation oder der codierung, gegen die fotografie etc.
und Deleuze hat in seinem Bacon-buch gerade zu dieser frage
sehr tiefe einsichten festgehalten, einer der zentralen
begriffe, die er verwendet ist der des diagramms als einer
analogen vermittlungsinstanz in diesem prozeß. aber wenn wir
das letzte kapitel seines buches QuPh zu lesen anfangen, dann
sehen wir uns sofort einer anderen antwort auf eben diese
frage gegenueber, die auf einer ganz anderen ebene 
der allgemeinheit liegt und wir sehen: da geht es um die
vorstellung von kunst als solcher.





empfindung


"l'œvre d'art est un bloc des sensations", das kunstwerk ist
ein block von empfindungen. in der kunst ist es so: man
schreibt, man malt, man bildhauert, man komponiert
empfindungen. die kunstwerke bestehen aus nichts als
empfindungen, und zwar muß man das so verstehen, dass die
kunstwerke die einzigen instanzen sind, in denen empfindungen
ein selbstaendiges und auch dauerhaftes sein haben, ein
sinnliches sein. das ist natuerlich eine ziemlich riskante
aussage, da muss eine menge erklaert werden, denn normalerweise
sehen wir die sache ja ganz anders: daß die empfindung etwas
sehr fluechtiges ist, eine bloße zustandsaenderung in uns 
selbst, alles andere als objektiv und schon gar nicht dauerhaft.
also ist das ueberhaupt eine moegliche auffassung des
kunstwerkes, und wenn, ist es dann eine psychologistische
oder was soll das alles bedeuten. eine ganze menge laesst sich
terminologisch bereinigen. D. sagt: so ein block von 
empfindungen ist ein "composé des percepts et des affects",
ein zusammengesetztes aus je verschiedenen perzepten und
affekten. diese perzepte und affekte ihrerseits darf man nicht
verwechseln mit perzeptionen und affektionen, mit denen sie
natuerlich etwas zu tun haben. perzeptionen und affektionen
sind tatsaechlich jene zustandsaenderungen in uns selbst, die
aufgrund verschiedenster ursachen zustandekommen moegen. ein
affekt aber ist unabhaengig von dem aktuellen zustand dessen,
der die entsprechende affektion erfaehrt - der affekt
uebersteigt den, der ihn fuehlt, er uebersteigt, sagt D., alles
gelebte ueberhaupt. ein akkord z.b., Deleuze bezieht sich hier auf
Rameau, ist ein affekt in diesem sinne. wenn wir einen akkord
vernehmen, gibt es ins uns einen mehr oder weniger bestimmbaren
zustand der affektion. aber der akkord ist nicht dieser
zustand in uns. er ist auch nicht irgendein anderes objekt
ausser uns im sinne eines pragma (ding) oder eines
wissenschaftlichen objekts oder ueberhaupt eines physischen
gegenstandes; und er ist nicht durch irgend so ein ding
eindeutig zu bestimmten. das ist ein sehr wichtiger punkt.
z.b. bei der perzeption, als einem zustand in uns, einem 
wahrnehmungszustand, da nehmen wir ja gleichwohl an, daß sie
durch ein aeusseres objekt bestimmt wird (das wir als die
ursache der wahrnehmung bezeichnen); beim affekt oder perzept
ist das nicht so, und insbesondere koennen wir sie nicht durch
dasselbe objekt bestimmen, wie entsprechende perzeptionen
oder affektionen. mit einem wort, die perzepte und affekte -
oberbegriff sensation - sind voellig selbstaendige wesen, in
gewisser weise sogar unabhaengig von dem kuenstler, der sie 
erfindet und zu den bloecken fuegt, die die kunstwerke sind.
aber achtung: sie sind sensible, sinnliche wesen, und das
koennten sie nicht sein, wenn sie nicht in irgendeinem material
realisiert waeren. besonders wichtig daher ist die
differenzierung zwischen dem physischen objekt, in dem sich
moeglicherweise diese realisierung instantiiert, und dem
kunstwerk selbst. in einem gewissen sinne dauert das kunstwerk
oder eine einzelne empfindung, die in ihm eingefangen ist, so 
lange, wie das tragende material. das kapitel beginnt mit dem
satz: der junge mann wird auf der leinwand laecheln, solange
diese dauer oder bestand hat. aber diese dauer der leinwand
ist nur eine voraussetzung für die dauerhaftigkeit des
laechelns, sie ist nicht mit ihr identisch. sodass in einem
etwas anderen sinn auch die kuerzeste physische dauer des
traegers dem affekt die moeglichkeit einer ewigen selbsterhaltung
gibt. "même si le matériau ne durait que quelques secondes, il
donnerait à la sensation le pouvoir d'exister et de se
conserver en soi, dans l'éternité qui coexiste avec cette
courte durée". das ist ein wunderbarer satz. 

jetzt halte ich einmal kurz ein, um Sie an den ausgangpunkt
dieser ueberlegung zu erinnern: das war die frage bei Bacon,
wie kommt die empfindung auf die leinwand? und da haben wir
jetzt zumindest terminologisch eine antwort, wir koennen das
ein wenig aufgliedern. er selbst, Bacon, ist in einem
lebenszustand, gemischt aus perzeptionen und affektionen. die
leinwand, in ihrem schließlichen endzustand, wird ein
physisches objekt sein, das ursache fuer die perzeptionen und
affektionen anderer leute sein kann. dieses objekt wird
zugleich die voraussetzung fuer die existenz eines kunstwerkes
sein, wiewohl nicht mit ihm identisch. und zwar wird das 
kunstwerk ein block, ein gefuege von affekten und perzepten
sein, die FB geschaffen hat. also wenn ich den fortschritt in
der praezision, den wir jetzt gemacht haben, ganz kurz
zusammenfassen muesste, dann wuerde ich sagen: es ist genau
genommen nicht die gelebte affektion, die als solche auf die
leinwand kommt, sondern ein affekt; und er kommt genau genomen
nicht auf die leinwand - dort sind ja nur farben 
etc. -, obwohl er die leinwand in einer signifikanten weise
braucht, um auf seine eigene art zu existieren.




werden
und
leben

aber das alles ist wie gesagt nur eine praezisierung unserer
redeweise, die sache selbst muessten wir erst aufs korn nehmen:
wie verhaelt sich der affekt zum gelebten, zum leben? wie geht
er daraus hervor, was ist er in bezug auf das leben?
es ist gar nicht so leicht den optimalen einsatzpunkt fuer die
antwort von Deleuze zu finden. er sagt sehr viel, sehr tiefes
dazu. ich will es einmal von folgender seite versuchen: der
affekt ist vor allem ein werden, er ist insbesondere in bezug
auf das leben ein werden ueber das leben hinaus. in diesen
worten liegt eine gewisse paradoxie, denn vorhin hatten wir ja
gehoert, daß der affekt etwas selbstaendiges, dauerhaftes,
geradezu mit ewigkeitsperspektive ist. aber Deleuze stellt
sich glaube ich genau das vor: ein werden, das als werden
dauer hat, das nicht abstirbt oder stillgestellt wird in einem
seienden, einem zweck oder einem anderen rahmen (bes. organ).
und auch der mensch ist so ein rahmen, das menschliche leben
ist so ein rahmen. der affekt, den der kuenstler gestaltet, ist
ein werden, das dauer hat ueber jeden solchen rahmen hinaus.
zonen der indifferenz, das ist ein ausdruck, den D. in diesem
zusammenhang gebraucht: ueber den rahmen hinaus, in
indifferenzzonen hinaus. da gaebe es jetzt viele moeglichkeiten
und beispiele, ich will nur ein einziges aufgreifen: das ist
das nicht-mensch-werden des menschen, und insbesondere das 
tier-werden des menschen. der kosmos, sagen wir, ist eine
ganzheit, in der die verschiedensten kraefte wirken, sich
ueberkreuzen, verbinden etc. der mensch ist so eine figuration
von kraeften, sein leben ist es. aber die kraefte, die ihn
ausmachen, wirken zugleich auch durch ihn hindurch, aus ihm
heraus. aus ihm herauswirkend koennen diese kraefte zu wieder
anderem werden, und wenn er, der mensch, gleichsam diesen
kraeften ueber sich selbst hinaus nachginge, dann wuerde auch er
anderes - tier vielleicht oder gott oder grashalm. aber es
bedarf einer eigenen aufmerksamkeit, eines eigenen willens
dafuer. denn sonst, "normalerweise", wie wir sagen, wollen wir
ja menschen bleiben und haben angst davor, etwas anderes zu 
werden. die kunst jedoch kann einem solchen werden dauer geben,
die unsichtbaren kraefte fuehlbar machen. der affekt ist nicht
der uebergang von einem gelebten zustand in den anderen,
sondern das nicht-mensch-werden des menschen.

also ich lese Ihnen da zwei zitate vor:
"N'est-ce pas la définition du percept en personne: rendre
sensibles les forces insensibles qui peuplent le monde, et
nous afectent, nous font devenir?"
"Les affects sont précisément ces devenirs non humains de
l'homme"





fleisch

haus

kosmos

Jetzt ist es so, das ist hier ein punkt, wo eine wirklich
faszinierende und abenteuerliche dimension der philosophie
von Deleuze beginnt: ausgang ist der gedanke, dass der
organismus nicht das leben ist, sondern es einschraenkt. dass es 
ein leben des anorganischen gibt, und von da aus kann man dann
eine verbindung herstellen zwischen vielen grundvorstellungen
aus dem anti-oedipus und spaeteren, mehr interpretierenden
schriften von D. aber ich kann das heute wieder nicht.
ich mache etwas anderes. ich moechte noch ein bisschen weiter der
frage nachgehen, wie es eigentlich vorzustellen ist, dass mit
dem affekt, den der kuenstler gestaltet, der mensch etwas ueber
sein leben hinausstellt. in welcher form geht das vor sich.
auch da gibt es noch sehr konkrete antworten von D., und ich
moechte Ihnen heute vor allem die systematik in diesen
antworten vor augen fuehren, in ganz groben zuegen zumindest.

also am einfachsten stellen wir uns das jetzt wirklich vor wie
einen prozess, in dem gewisse kraefte oder dynamiken, die uns
ausmachen, aus den grenzen befreit werden, die ihnen unser
leben setzt, befreit zu einem dauernden werden. also eine 
art abloesungsvorgang. und das erste, was sich da abloest, das
ist das fleisch - la chair. das ist auch ganz klar. das
fleisch, der fleischliche leib sollte man vielleich ganz genau
sagen, ist es ja, was immer die empfindung praesent macht. das
ist so eine indifferenz-zone, diese emanzipation des fleisches
ist schon so ein tier-werden, und eine befreiung des
empfindens im selben zug: katze-werden, pflanze-werden, das
ist eine befreiung des empfindens. oder genauer sollte ich
sagen: eine erste voraussetzung dafuer. denn das fleisch ist
ja noch keine empfindung, es ist gewissermassen nur die
empfindlichkeit der empfindung, es fehlt auf jeden fall noch 
die form. etwas festeres. knochen, geruest, haus - armatur. der
koerper erblueht in einem haus - ein strukturierter ort. was so
ein haus definiert, das sind "bahnen": vorder- und hintergrund,
waende, die bahn der horizontalen, der vertikalen etc. "kader".
die moeglichkeit fuer die empfindung, selbstaendig zu existieren
ist immer so ein haus. diese bahnen sind das gesicht der
empfindung. und das dritte element in so einer empfindung,
einem affekt etwa, ist immer das universum, der kosmos. fuer
die kunstwerke gilt: jedes, auch das engste und in sich 
verschlossenste haus ist offen auf ein universum. das werden
hat eine form oder ist in einer form (haus), aber in dieser
form ist es zugleich auch ein werden ins unendliche. in der
malerei die grosse monochrome flaeche. diese offenheit heisst:
es ist die empfindung immer kraeften ausgesetzt, die aus dem
unendlichen universum auf sie wirken, die sie z.b. deformieren;
auf der anderen seite wirkt auf sie ein zug der aufloesung in
jenem unendlichen - z.b. in der unendlichen flaeche.

also wie gesagt will ich auf die inneren details und
zusammenhaenge in diesen thesen gar nicht eingehen, und nur
ganz schematisch bleiben. daher resuemiere ich so: das
kunstwerk ist ein gefuege von empfindungen, von affekten und
perzepten. so eine empfindung ist ein selbstaendiges werden.
der prozess der creation, dem es sich verdankt, sieht so aus:
es muss sich eine empfindlichkeit abloesen von den beschraenkungen
des lebenden organismus - in der umfassendsten form des 
fleisches; diese empfindlichkeit muss eine form haben, eine
form des lebens oder werdens - ein haus (platz, knochen oder
dgl.; vielleicht waere das wort behausung am besten); aber
diese form selbst ist kraeften ausgesetzt, von kraeften
durchzogen, die universal sind, und die muessen hier, im
kunstwerk, auch als solche praesent sein (in der pragmatik
eines lebens, das sich von der doxa leiten laesst, sind sie
nicht sichtbar).







vergleich
und
geschichte







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III.


nun wollen wir mal innehalten und uns fragen, was das fuer eine
art von aussage ist. zunaechst sehen wir in ihrem inhalt
gewisse parallelen mit der beschreibung, die ich von der
philosophischen taetigkeit gegeben habe. der affekt ist in
aehnlicher weise eine selbstaendige einheit, wie der begriff.
und es gibt auch hier, in der form des universums, ein noch
umfassenderes ganzes, in dem kraefte wirken; es gibt auch 
ausdrueckliche strukturelle instanzen, eben das haus in jenem
vagen sinn. diese drei begriffe, fleisch, haus, kosmos, die
koennte man nun gleichsam verwenden oder ueberpruefen in hinblick
auf konkrete werke - ein beispiel dafuer werde ich gleich 
noch andeuten. aber man kann ja auch reflektierend fragen: was
sind das fuer sich genommen für ausdruecke, sind das nicht schon
philosophische begriffe? tatsaechlich fragt Deleuze sich das
ausdruecklich: ist das spirituelle empfindung oder schon 
lebendige begriffe: das fleisch, das haus, der kosmos?
aber wenn es begriffe sind, dann waren wir jetzt schon in
einer konkreten interaktion der philosophie mit der kunst,
ohne dass wir, auch im nachhinein nicht, den moment bestimmen
koennten, wo das begonnen hat. dann koennten wir die bildung
dieser begriffe rueckwaertsgerichtet noch einmal nachvollziehen,
dabei gewissermaßen den leitfaden in der hand, den uns Deleuze
gegeben hat. nun, ganz so einfach ist das nicht, und ich will
jetzt auch zu dieser seite der sache nichts sagen. aber die
frage des status dieser begriffe moechte ich noch aufrechterhalten,
und ich moechte ihnen die sache in einer grossen skizze
erlaeutern, die sowas aehnliches ist wie die mehrfache
spiegelung einer begrifflichen figur.
also beginnen wir bei irgendeinem bild von FB. da sagt D., das
ist typischerweise so aufgebaut: fleisch, platz, umraum. und
da wirken gewisse kraefte, einerseits aus dem raum auf den
koerper, anderseits aus dem koerper in den raum: der koerper will
sich selbst entfliehen, in diesen raum hinaus. die
funktionsaenderung des platzes, das loch. endzustand duene.
es waere aber voellig falsch, dies jetzt als die geschichte zu
verstehen, die bacons bilder ezaehlen. diese bilder erzaehlen
ueberhaupt keine geschichte. das verhaeltnis zwischen den
bildern und dem, was da gesagt wurde, ist ganz anders. wir
gehen also zu einer zweiten spiegelung ueber. 
die sache ist naemlich die: der koerper,
von dem da die rede war, ist der lebende koerper des malers FB.
in ihm sind kraefte wirksam, mit denen er aus sich heraus
entfliehen will, in die unendlichkeit einer flaeche - des
bildes. und das tut er tatsaechlich in einem sehr
komplizierten prozess, in dem er eben seine affektionen zu
affekten gestaltet (schrei), und wo gewisse umsetzungen
stattfinden, wie z.b. der durchgang durch ein formgebendes
diagramm. jetzt schaut die sache ganz anders aus und doch auch
wieder gleich: der koerper ist da, der platz (das diagramm),
und der unendliche raum (das bild); und auch die dynamik. der
koerper will aus sich heraus, als fleisch geht er ueber in die
unendlichkeit des raumes, eines ebenen raumes in diesem fall.
(dazu: wenn jemand die unendlichkeit dieses raumes bezweifelt,
verweise auf die sache mit dem tragenden material und der
ewigkeit des affektes). wir sind jetzt uebergegangen von einem
einzelnen, wenn auch unbestimmten, bild zu dem kuenstler.
aber wir sind ja auch schon noch eine ebene weiter gegangen,
und haben dieselbe dreiheit auch in der kunst als solcher
gespiegelt: als fleisch, haus, kosmos. also natuerlich sind
das begriffe, aber das wesentliche ist glaube ich, dass auch
wenn man diese begriffe nicht hat, man gleichsam fuehlen kann,
empfinden kann, was in ihnen gedacht ist. in einem kunstwerk
wie einem bild von FB ist ebendies als empfindung praesent. es ist
dort sinnlich praesent, wer sich dem bild aussetzt setzt 
sich aus der empfindung der aufloesung, der erloesung des
fleisches. im begriff ist das nicht sinnlich praesent, fuer den
begriff ist charakteristisch diese reine intensitaet, die 
sich der unendlichen geschwindigkeit verdankt, mit der die
jeweiligen konstellationen zu einer figur konzentriert werden.

gemeinsames

so weit haben wir parallelitaet, und wir haben noch zwei dinge
dazu: den begriff des denkens, mit dem Deleuze manchmal diese
parallelitaet formuliert (philosophie als denken in 
begriffen, kunst in affekten, wissenschaft in funktionen etc.);
und wir haben zugleich ein gefuehl, zumindest aus dem beispiel
der Bacon-interpretation von Deleuze, wie die konkrete
interaktive basis ausschaut. koennen wir auf diesen prozess, auf
diese uebergaenge selbst auch noch systematisch reflektieren?
z.b. mit der frage: was ist jenes gemeinsame, das denken? oder
mit der frage: haben die begriffe begriff, immanenzplan,
personnage conceptuel eine ausgezeichnete bedeutung, die wir
immer vorausgesetzt haben? nein. sie sind nur die antwort auf
eine frage, die sich alte leute stellen.
aber Deleuze hat tatsaechlich noch eine ganz andere antwort
gegeben auf die frage des inneren zusammenhanges von kunst,
philosophie und wissenschaft. und das ist eine hoch
bemerkenswerte antwort, sehr sehr ironisch. im schlußwort von
QuPh sagt er folgendes:

das, wovor wir uns am meisten fuerchten, ist das chaos. das
entfliehen der gedanken. wir wollen ein bisschen ordnung. und
das gibt uns die meinung - ein gewisser ad hoc-zusammenhang
von assoziation der ideen, verlangsamung der ereignisse zu
sachverhalten und reproduktion der empfindungen. das brauchen
wir, um meinungen zu haben, und uns zu schuetzen - und schon
die sophisten haben das kritisiert.
die kunst, die wissenschaft und die philosophie sind und
fordern mehr: sie fordern nicht eine abschirmung gegenueber
dem chaos, sondern eine auseinandersetzung: 
daß wir große referenzebenen, plans, in das chaos hineinziehen
(daß wir uns sozusagen trauen muessen, ganz glatte ebenen in
das unendliche chaos hinauszustellen und uns draufzusetzen,
auch wenn wir wissen, daß wir dann als ganze ins unendliche
davonrutschen koennen). sie setzen sich auf je verschiedene 
weise mit dem chaos auseinander: die philosophie z.b., indem
sie die unendliche geschwindigkeit der aenderungen erhaelt;
die kunst, indem sie der sinnlichkeit ein sein gibt, das zum
unendlichen des chaos offen ist; die wissenschaft, indem sie
die prozesse kuenstlich verlangsamt, koordinatensystme
entwirft, in denen kraefte eine aktuelle existenz bekommen.
Lies QuPh 204.
und da gibt es nun zwei stellen, zwei kleine bemerkungen, die
ich zum abschluss nehme.
die eine: denn was waere schon denken, was hiesse schon denken,
wenn es sich nicht am chaos maesse? also denken ist eine
intellektuelle aktivitaet, die sich am chaos misst. kleiner
kann es nicht gegeben werden. und von hier aus koennte man
vielleicht doch noch einmal allgemeiner nachsinnen ueber den
zusammenhang von wissenschaft, kunst und philosophie.
aber die andere bemerkung legt genau dem gegenueber eine
gewisse reserve nahe. 
sie lautet so:
kurz gesagt, das chaos hat drei toechter, im sinne des plans,
der es durchschneidet: das sind die chaoïden, die kunst, die
wissenschaft und die philosophie, als formen des denkens oder
der creation. chaoïd (adjektivisch) nennt man jene realitaeten,
die auf den plaenen produziert sind, die das chaos
durchschneiden. das ist ein mythos, ein genealogischer mythos,
und bisher der einzige, den ich im werk von Deleuze gefunden
habe.
ich glaube schon, dass er auf dezent ironische weise damit zum
ausdruck bringen wollte, daß es keinen sinn hat, nach hoeheren
allgemeinheiten zu suchen, in denen man denkend ueber das
denken nachdenken koennte - das waere einfach schwindelei, 
jene art von betrug, die nietzsche in der erfindung der
wahrheit entdeckt hat.



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