Richard Heinrich: TEXTE: ENTWICKLUNG DES FILMS IM DENKEN


[deleuze : kino]

Abkuerzungen im folgenden Text:
IM = L'image mouvement. Paris 1983
ZB = Das Zeit-Bild. Frankfurt 1991
QuPh = Qu'est-ce que la philosophie. Paris 1991
PP = Pourparlers. Paris 1990
N = Nietzsche und die Philosophie. Muenchen 1976
DW = Differenz und Wiederholung. Muenchen 1992



Der folgende Text wurde von mir am 17. November 1995 im Rahmen der Veranstaltung 'Deleuze sehen. im Kino. im Bild. im Denken.' (Institut Francais de Vienne) vorgetragen.



Fuer Informationen, die mit dem Kino zu tun haben - Aktuelles, Theorie,
Literatur, Kritik etc - wende ich mich an cinetext film cinema moving images






[MERKWOERTER] 

[NAVIGATON]


ENTWICKLUNG DES FILMS IM DENKEN


EINLEITUNG

Im PROGRAMMHEFT steht ein kurzgefasstes Konzept meines Referates, und
da habe ich geschrieben, ich würde versuchen, Deleuze's Arbeit über das
Kino als einen doppelten Entwicklungsvorgang zu verstehen: wie sich das
Denken aus dem Kino entwickelt, und wie zugleich das Kino einen
Gedanken entwickelt. Vor ein paar Monaten war das, inzwischen habe ich
mich ein klein wenig in der Sache orientiert, und dieser Satz (Vorsatz)
erscheint mir nun in einem sehr veränderten Licht.
Das hat kaum etwas zu tun mit jener Idee von der doppelten Entwicklung,
die sehe ich nach wie vor als einen plausiblen Zugang; aber was
auf den ersten Blick viel unschuldiger wirkt, der Vorsatz nämlich,
Deleuze's Arbeit über das Kino zu verstehen: der macht mir Probleme.
Oder sagen wir deutlicher: Er kommt mir jetzt recht blaß und mager vor
angesichts dessen, was dieses Werk eigentlich fordert: Fortführung,
Ergänzung, Verzweigung oder Verästelung, Kritik. Einsatzpunkte dafür
gäbe es ohne Zahl.
	

interpretation

Denken Sie etwa an den auffälligen Umstand, daß Deuleuze in den
Kino-Büchern keine Filme interpretiert, so wie er sich auch nicht mit
Filminterpretation als solcher (auf eine theoretische Art)
befaßt. Das ist kein Mangel, weil er einfach andere Ziele hat.
Aber Interpretation ist natürlich trotzdem eine Dimension des Kinos,
und daher auch eine Richtung, in der man fortfahren sollte, weiterdenken,
von Deleuze aus.

kadrierung
mischung

Oder denken Sie, zum Gegensatz, an konkrete einzelne
Vermutungen, die ebenso unausgeführt wie herausfordernd dastehen: die
Thesen im zweiten Buch etwa über das komplizierte Verhältnis von
Kadrierung des Films und Mischung des Tons. Was heißt es dann, den Ton einer
Kadrierung zu unterwerfen, die gleichwohl von der des Films durch
einen Zwischenraum getrennt ist? Wo sind dafür die Beispiele, welche
Potentiale stecken da?
Und umgekehrt: Auf verschiedenste Weise sind die
Techniken der Magnetaufzeichnung in den letzten Jahren in die
Filmproduktion und auch -Rezeption eingewandert, und bedeutet das
nicht, daß das Mischungsprinzip nun auch auf den Film als solchen
übergreift, daß also ein Begriff wie die "Kadrierung" noch einmal neu
profiliert werden müßte in diesem Zuammenhang? Da müßte man weiterdenken.
Eiligst weiterdenken an tausenderlei solchen Punkten, das scheint im
Grunde die einzig adäquate Reaktion auf diese Arbeit.

Nur mit einem schlechten Gewissen kann ich also sagen, daß ich trotzdem
bei meinem Vorsatz bleibe: ein paar Ansatzpunkte zum Verstehen zu
suchen, noch dazu aus einer vor allem philosophischen Perspektive.
Denn im Rahmen der Philosophie ist mit dem Wort "Verstehen" eine
besonders prekäre, um nicht zu sagen dubiose Sache angesprochen. Aber
darüber will ich mich jetzt nicht im Allgemeinen verbreitern, darauf
kommen wir vielleicht später zurück, unter bestimmteren Voraussetzungen.

kino
denken


ERSTER ABSCHNITT - GRUNDSÄTZLICHES
Also da ist bei Deleuze diese Konstellation von vier termini:

das Kino - das Denken - die Begriffe - die Philosophie
Als erstes muß man sich klarmachen: das ist für ihn kein fixes oder hypothetisches Arrangement, das er zu analysieren oder in einer bestimmten Theorie zu bewähren, d.h. zu rechtfertigen sucht. Eher ist das als eine Gruppe aufzufassen, die wir beobachten, wie sie ihre internen Beziehungen andauernd verändert. Einmal können diese Beziehungen sehr auseinandergedehnt sein und unverbindlich gewissermaßen. Dann haben wir den Eindruck, es hätten noch viele weitere Elemente Platz, ja als müßten solche weitere Elemente eingezeichnet werden, wenn der Zusammenhang überhaupt haltbar sein soll. Das ist der Fall bei einer Reihe von Aussagen, deren Tenor Sie wohl alle kennen: 1. nicht alles Denken ist Philosophie; 2. die Philosophie ist das Denken in Begriffen, oder sagen wir noch genauer: das kreative Denken in Begriffen, das Erfinden und Gestalten von Begriffen 3. im Kino, bei den großen Autoren, gibt es auch Denken, ein Denken in Zeit- und Bewegungsbildern. Diese Anordnung kann auf verschiedene Weisen benützt werden, z.B. kann man sagen, und Deleuze sagt es ja auch: Das Kino setzt in seiner Entwicklung, die eine Denk-Entwicklung ist, gewisse intelligente Potentiale frei, die in einer Philosophie aufgenommen und als Begriffe gehandhabt werden. Es sind die dem Kino selbst eigentümlichen Begriffe, aber das Kino erfindet sie nicht als Begriffe. Freilich, wenn man die Sache so darstellt, in dieser extremen Ausgedehntheit, dann ist fast nichts gesagt, dann ist das rein programmatisch. Sofort habe ich das Bedürfnis zu fragen: Aber wie geht das vor sich, das Denken im Kino? Wie wird es zu begrifflichen Konstellationen umgewandelt? und so weiter. Da brauchen wir nicht nur Anhaltspunkte wie die Worte "Bewegungsbild", "Zeit-Bild", da brauchen wir unendlich viele Zwischenglieder, um das zu kapieren. Und sehen Sie, da gibt es nun eine große Versuchung, um nicht zu sagen: eine Falle an diesem Punkt, in die vor allem Philosophen habituell hineintappen. Nämlich daß man sagt: Also suchen wir solche Zwischenglieder, stellen wir Hypothesen auf darüber, wie so ein Zwischenglied aussehen sollte, und dann schauen wir, ob wir das im Kino, in der Geschichte des Films und der damit verbundenen Techniken, verifizieren können. Das geht ja unglaublich einfach: am besten, wir schnappen uns gleich den Begriff "Zeit". Die Zeit - ein Kontinuum; die Zeit - eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, insbesondere der Wahrnehmung; die Zeit - eine Totalität; die Zeit - ein System von Relationen. Für jeden dieser items gibt es einen großen Philosophen, der noch Genaueres darüber gesagt hat. Da schlagen wir mal nach. Und auf der anderen Seite brauchen wir ein Lexikon der Filmsprache, in dem sehen wir nach, welche speziellen Funktionen, technischen Charakteristika, künstlerischen Möglichkeiten des Kinos etc. wir diesen einzelnen Philosophemen am besten zuordnen. Leibniz, Bergmann und Woody Allen kommen zusammen in das Kapitel "Relation". Schon wieder steht ein Buch mit dem Titel "Philosophische Ästhetik des Kinos" vor der Druckreife. (Das Traurige ist ja, und dadurch ist die Versuchung so gefährlich, daß diese Verifikationen nie fehlschlagen; die sind absolut immun gegen Widerlegung). Aber so ging Deleuze eben nicht vor. Statt zu fragen: Welche Begriffe brauchen wir, um uns diese Konstellation erklären zu können? - stattdessen schlägt er vor: Sehen wir mal nach, ob es zwischen diesen Termini nicht noch andere Konstellationen gibt, engere und konzentriertere. Die werfen vielleicht wieder ganz andere Fragen auf. Und wenn wir eine große Menge solcher Fragen gestellt haben, dann sehen wir vielleicht, was für eine Art von Veränderungspotential in dieser Gruppe steckt.






kino-begriffe

Es gibt einen Fall ganz am anderen Ende der Skala, wo diese Termini einen
Nukleus zu bilden scheinen ohne jeden Zwischenraum. Das sind die Aussagen 
von der Art:
"... das Wesen des Kinos, das nicht die Allgemeinheit der Filme ist,
hat als oberstes Ziel das Denken und nichts anderes als das Denken und
seine Funktionsweise."(ZB, 220) Das Kino nötigt die Philosophie, ganz
bestimmte Begriffe zu erfinden, nämlich Kino-Begriffe.
(Also der Unterschied zu der ersten Art von Beziehung ist vor allem, daß hier 
nicht von einer Position des reflektierenden Beobachters aus verglichen, 
unterschieden und erklärt wird; Nötigung ist vielmehr eine konkrete Beziehung, 
in der zwei termini (Personen, Institutionen, Wesen...) selbst zueinander 
stehen; und ebenso verhält es sich mit der teleologischen Beziehung, die in
dem Begriff des Zieles angesprochen ist.)
Und wenn solche Begriffe (die das Kino der Philosophie aufnötigt) 
einmal da sind, in der philosophischen Praxis, dann bedeutet das, daß sie in
Beziehung kommen auch zu anderen Begriffen, daß sie unter diesen
anderen Begriffen Reaktionen im Sinne von Verschiebungen,
Intensivierungen, Umordnungen etc. auslösen. Sodaß dann z.B. eine
Philosophie der Bewegung ohne die Erfahrung des Kinos gar nicht
vorstellbar ist.
Da ist keine Rede von der abstumpfenden Strategie der theoretischen
Vorentscheidungen durch Hypothesenbildung, sozusagen der Ausbeutung der
Empirie durch gezielte Verifikation. Kino, Denken,Philosophie sind so eng
aneinandergerückt, daß wirklich nur die Frage ist: Wer agiert oder reagiert
wie, wann, worauf, woraufhin?
Das meint Deleuze am Ende von ZB (358) meint, wenn er sagt:
"Aus diesem Grund besitzt die Praxis der Begriffe gegenüber anderen
Praktiken keinerlei Vorrecht, sowenig wie ein Gegenstand gegenüber
anderen Gegenständen Vorrechte hat."


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Nun, das waren zwei Extremzustände, die ich da angedeutet habe für
unsere Konstellation von Termen. Dazwischen liegen andere, aber jeder
von ihnen ist in sich vollständig. Z.B. daß wir, wenn wir "das Kino
denken", den Begriff "Bewegung" gebrauchen, das liegt nicht
daran, daß wir als Philosoph(inn)en über diesen Begriff schon
anderswoher verfügen - verfügen heißt hier: daß wir durch viele
theoretische Versuche seine Tücken, seine Macht, seine Funktionen
etc. kennengelernt haben - und also gleichsam als kompetente Experten
seine Aufschließungskraft für dieses Phänomen garantieren können.
Es liegt vielmehr daran daß, wie Deleuze sagt, das Kino einen Schock
auslöst, der das Denken in eine Bewegung zwingt, es in Bewegung setzt
(so in der Art der anstoßgebenden Ursache des Aristoteles). In ihrer
Gesamtheit bilden jene Zustände den Aufbau der zwei Bände.

Nun, klarerweise eine naheliegende Frage ist die nach ihrem
Anordnungsprinzip. Für mich jedenfalls ist das die spannendste Frage
gewesen, und ich werde ein bißchen berichten wie ich mir da eine
Antwort vorstelle. Ich benütze ein konventionelles und
abstraktes Hilsfmittel. Ich beschreibe die Anordnung, indem ich
einerseits ein Anfangsglied angebe, und zweitens die Operation
charakterisiere, mit der aus einem Glied das jeweils nächste
hervorgeht.

gedanke
+
apparat


bergson


ZWEITER ABSCHNITT - DER ANFANGSZUSTAND

Der Anfang ist ein Komplex der, so sage ich einmal behelfsmäßig, aus
zwei Elementen besteht:

 - einem Gedanken, der seiner selbst nicht mächtig ist, der sozusagen nicht 
seine eigene Wirklichkeit denken (an-erkennen) kann;

 - und einer ziemlich zusammengesetzten Apparatur.

Die Apparatur ist unter verschiedenen Gesichtpunkten beschreibbar: 
technischen, teleologischen, psychologischen etc. (Aber ich glaube, Deleuze 
wollte, daß wir sie nicht bloß als unter diesen Hinsichten beschreibbar 
ansehen, sondern als wirklich aus ihnen zusammengesetzt.) Sie wird "Kino" 
genannt.
Der Gedanke ist das Denken Bergsons über die Bewegung. Das ist
natürlich eine verzwickte Geschichte, davon kann ich nur eine
behelfsmäßige Skizze geben.

Also im Prinzip gibt es (bei Bergson, wie Deleuze ihn sieht) eine kritische 
und eine positive Seite. Auf der kritischen Seite steht die Behauptung, daß 
Bewegung sich nicht darstellen läßt als eine Funktion, die unbewegliche 
Einschnitte anderen unbeweglichen Einschnitten gesetzmäßig zuordnet. 
Diese "unbeweglichen Einschnitte", das sind natürlich primär Raum- und 
Zeitpunkte. Also die These lautet, daß wirkliche Bewegung von raum-zeitlichen 
Positionen her nicht rekonstruierbar ist. 
Was auf der positiven Seite steht bei Bergson, das würde ich nicht so sehr 
als eine These oder Behautpung bezeichnen, sondern als Eröffnung einer 
zusätzlichen Dimension. Das ist eine Reflexion darüber, daß die Gesamtheit 
der unbeweglichen Einschnitte, also der Raum-Zeit-Punkte, ja in einem 
bestimmten Ganzen liegt (Gesamtheit und Ganzes sind nicht identisch) - den 
Ganzheiten von Raum und Zeit. In Bezug auf diese Ganzheiten nun hat die 
Bewegung sozusagen ein eigenes, autonomes und charakteristisches Verhältnis. 
Auf andere Art als die Punkte und Augenblicke, aber auf gleichberechtigte 
Art, ist die Bewegung ein Schnitt in die entsprechenden Ganzheiten, die 
Dauer der Zeit etwa. Aber eben nicht ein unbeweglicher Schnitt, sondern ein 
beweglicher. Und so kann man sich das Verhältnis dann auch umgekehrt 
denken: daß nämlich nicht die Bewegung von den unbeweglichen Schnitten 
her zu erfassen wäre, sondern diese ihrerseits durch den Einschnitt der 
Bewegung in das Ganze konstituiert werden (als Grenzwerte vielleicht oder 
auf ähnliche Art). 
Der tiefere Sinn, den Bergson in dieser Überlegung sieht, ist der: Die 
Bewegung ist ein "beweglicher Einschnitt" in die Dauer; dadurch kommt in 
ihr etwas zum Ausdruck, was der Dauer als solcher eignet, nämlich ihre 
Veränderung in sich. Was die Dauer (der Zeit) vom Augenblick unterscheidet, 
das ist ja, daß sie sich in sich selbst ständig ändert. Der 
Ausdruck dieses Aspektes der Dauer ist die Bewegung, und darin liegt die 
Wahrheit der Bewegung: daß sie nicht etwas artifizielles oder scheinbares 
ist, das durch die Punkte von Raum und Zeit bestimmt und theoretisch 
eliminiert werden kann, sondern daß sie eine Ausdrucksdimension der Dauer, 
der Ganzheiten selbst ist. 
Da gäbe es dann noch hochspekulative Zusammenhänge, über die Verhältnisse 
von ursprünglicher Ganzheit, Gruppen von unbeweglichen Elementen, die man 
als sekundäre Gesamtheiten bezeichnen könnte (ensemble), der Bewegung etc. Aber wir 
lassen es bei dieser einfachen Skizze bewenden.



wahrnehmung
und
kino


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Deleuze sagt, daß dieser Gedanke Bergsons seiner selbst nicht 
mächtig ist, seine Wirklichkeit nicht erfaßt. Und diese Verfehlung ist 
zugleich die Beziehung zwischen ihm (jenem Gedanken) und der Apparatur des
Kinos. Nämlich Bergson hat in seine kritische Position mit aufgenommen 
die Behauptung, daß die Kinematographie nichts anderes sei als die Illusion, 
aus unbeweglichen Einzelbildern Bewegung synthetisieren zu können. 
(Diese Illusion sei übrigens dieselbe, auf der faktisch unsere gewöhnliche 
Wahrnehmung von Bewegung beruht, d.h. die Wahrnehmung gibt niemals die 
Wahrheit über die Bewegung zu erkennen.) 
Diese Einstellung ist falsch. Denn tatsächlich funktioniert das Kino eben 
nicht so, daß es uns unbewegliche Bilder gibt und dazu ein Verfahren, wie 
man ihnen Bewegung aufprägt; sondern es gibt uns unmittelbar ein 
Bewegungsbild. 
Hier muß ich nun doch auf ein Detail eingehen, weil das für 
Deleuze so entscheidend ist. Nämlich man könnte ja meinen, das sei bei der 
gewöhnlichen Wahrnehmung genau so - da sehen wir ja auch unmittelbar die 
vorbeilaufende Katze und sind uns keineswegs bewußt, daß wir dieses Bild 
aus einzelnen Momentaufnahmen synthetisieren. Aber wenn wir das 
analysieren, dann finden wir heraus, daß in Wirklichkeit ein "computational 
process" abläuft, der mit einer speziellen kognitiven Kompetenz identisch 
ist. Hingegen im Kino, wenn wir "einen Film sehen" (wie man auch ein wenig 
irreführend sagt), da tritt uns eine solche Synthese gleichsam schon 
objektiv gegenüber. Das Bild taucht unmittelbar als dieses Bewegungsbild 
auf. Das Kino ist nicht die Analyse der gewöhnlichen Wahrnehmungssituation 
(obwohl es eine solche Analyse technisch gesehen benützt); es ist eine 
veränderte Wahrnehmungssituation, und zwar so verändert, daß wir über die 
Bewegungswahrnehmung gleichsam hinaussehen auf die Bewegung selbst. 
Das Kino bietet uns direkt jenen beweglichen Schnitt und nicht die 
Heterogenität: unbeweglicher Schnitt plus abstrakte Bewegung. 

Also es ist wichtig sich klarzumachen, auf welche Weise Bergson schief lag 
bezüglich des Kinos: er hat sich nicht bloß irgendwie darüber geirrt, was das 
Kino ist; sondern er hat übersehen, daß das Kino in Wirklichkeit das ist, was 
nach seiner eigenen Auffassung das Wahre ist an der Bewegung. Und daraus 
folgt, daß jene ganze Dimension, die Bergson der Spekulation über Dauer und 
Bewegung eröffnet hat, sich nur im Kino wird aktualisieren können.
Allerdings kann und konnte das nicht so geschehen, daß man sich vom Kino 
nun einfach einen richtigeren Begriff bildet als Bergson und sagt: Seht alle 
her, da ist ja der handfeste Beweis, daß seine Thesen stimmen. Das geht 
deshalb nicht, weil das Kino neu ist. Und das Wesen, die wesentlichen Kräfte 
einer Sache sind immer verborgen, wenn diese Sache eben erst entsteht. Sie 
treten erst im Laufe ihrer Entwicklung hervor.

Also so ist dieser Anfangszustand, von dem Deleuze ausgeht, in etwa 
beschaffen: Der Gedanke von Bergson einerseits, und anderseits das Kino, das 
die Wahrheit dieses Gedankens entwickeln wird. Natürlich kann die Wahrheit
eines Gedankens, seine ganze Kraft etc. nur denkend entwickelt werden. Also
wird uns am Kino das kino-spezifische Denken interessieren, das seiner
Entwicklung Profil gibt. Aber das wird kein begriffliches Denken sein, und
daher kehrt sich die Beziehung noch einmal um, wenn Deleuze Konzepte erfindet,
durch die dieses Denken über seinen ursprünglichen Ort hinaus zu wirken
beginnen kann, beginnen kann, seine Kräfte immer weiter auszuschöpfen.
Das ist eine zweite Entwicklung: die Entwicklung des Films im Denken.
Und da liegt ja der Sinn von Philosophie: dem Denken die Möglichkeit zu
geben, seine Kraft ganz auszuschöpfen, alles herzugeben, was es für das Leben
bedeuten und bewirken kann.





beispiele






mobilisierung
der
kamera

DRITTER ABSCHNITT - ÜBERGÄNGE



Jetzt zeichnet sich eigentlich schon ab, was ich mit der allgemeinen Form 
des Überganges gemeint habe, der von einer Konstallation der vier Termini: 
Kino - Denken - Begriff - Philosophie zu einer anderen führt. Ein solcher 
Übergang hat immer folgende Form: da ist erstens die Apparatur in ihrer 
relativen Neuheit - also wir wissen noch nicht (alles), was sie kann und 
ihrem Wesen nach ist; dann ist da zweitens eine Innovation, eine intelligente 
Innovation, die etwas von dieser verborgenen Kraft freisetzt, herausholt; 
und dann ist da eine spezifisch philosophische Leistung, die Begriffe 
erfindet, durch die sich diese Kraft verteilen kann. Dann sind Kino, Denken, 
Philosophie in eine neue, konkrete Konstellation getreten. Das ist Empirismus.

Als nächstes sollten jetzt wohl Beispiele folgen. Aber ich bin nicht 
kompetent das so zu tun, daß dabei für Sie wirklich ein Erkenntnisgewinn 
herausschaut. Ich bringe nur ein paar Stichworte, die vielleicht nützlich 
sind, um die verschiedenen Faktoren, von denen hier die Rede war, konkreter 
zu beleuchten.
Was kann so eine "intelligente Innovation" sein- d.h.: wie denkt das Kino? 
Da haben wir eine große Bandbreite. Zunächst elementare Verfahren, die so 
aussehen, als wären sie rein technisch zu beschreiben. Z.B. mit welchen 
Mitteln das Kino eigentlich den Blick auf die Bewegung freigibt, d.h. jene 
Öffnung zustandebringt, in der wir die Synthese der Bewegungswahrnehmung 
nicht nur vollziehen, sondern sie zugleich auf uns zukommt. Dazu muß die 
Bewegung eine Präsenz haben, in der sie relativ unabhängig ist von "dem, 
was sich bewegt". Das ist untrennbar verbunden mit der Mobilisierung der 
Kamera und dem Schnitt des Films. Die Mobilisierung der Kamera bewirkt, 
daß uns Bewegung entgegentritt unabhängig von der Bewegung oder Ruhe der 
Objekte, die wahrgenommen werden. Die Einstellung ist der Träger dieser 
Bewegung.

zeit-bild







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Es wäre eine Täuschung zu glauben, daß wir hier (und insbesondere 
beim Schnitt) nur eine technische Neuerung vor uns haben, aus der 
akzidentell ein gewisser künstlerischer Effekt gezogen wird. Das sieht man 
dort, wo die Innovation ebenso schwerwiegend ist, ohne daß man so einen 
technischen Aspekt identifizieren könnte. Etwa beim Übergang vom 
Bewegungsbild zum Zeit-Bild. Das verstärkte Aufkommen der rein 
akustischen oder optischen Situationen im modernen Film seit dem Neo-
Realismus (Situationen, wo das Bild ruht, kontemplativ ist...) ist ja nicht 
einfach ein Verzicht auf das bereits konstituierte Bewegungsbild. Das ist 
eine Entwicklung, die mühsam und auf riskante Weise erarbeitet werden 
mußte: Das Risiko ist, daß ein solches Verfahren überhaupt die Logik des 
Kinos verletzen oder verlassen könnte, nur als artifiziell-extrinsisches Anhängsel sich 
entpuppen könnte. Wenn es sich aber bewährt, dann deshalb, 
weil damit tatsächlich das Denken weitergetreiben wird. Im 
gegenständlichen Fall: das Bewegungsbild wird nicht so sehr in Frage 
gestellt, sondern es kommt jetzt noch zusätzlich und primär in den Blick, 
wie der bewegliche Schnitt in der Dauer als solcher gründet. Und das holt 
erst aus dem Kino heraus seine verschiedenen Möglichkeiten, das Bild als 
solches zu denken. Bild, das nicht einfach Abklatsch vom Stillstand der 
Bewegung ist, sondern Dimensionen der Zeit präsent macht, von denen die 
Bewegung ihrerseits Ausdruck ist. Deleuze spricht von dem Zeit-Bild, das 
sich die Bewegung unterordnet. Bewegung wird bestimmbar nach 
zusätzlichen Parametern: Relationen, die nur in einem zeit-artigen Bild 
konkret gedacht werden können, wie etwa die zwischen vergangenen und 
gegenwärtigen Zuständen, reflexive Zustände und dergleichen (Grundlage 
der Lesbarkeit, Grundlage der Zeichenkonstitution). 
Natürlich kann man sich dergleichen immer abstrakt "dazudenken", z.B. in 
der Form: Wo mag dieser Zug wohl hergekommen sein, den ich da eben auf der 
Leinwand fahren sehe? Aber es geht genau darum, ob der Film selbst diese 
Frage stellt, und mit welchen Mitteln er das kann.

rueckblende

Ein Fall, wo das vielleicht noch eklatanter hervortritt, ist die Rückblende. 
Das diskutiert er sehr eingehend. Da muß man sich mit dem Standpunkt 
auseinandersetzen, daß das eine extrinsische literarische Technik ist, die 
im Film gar nicht authentisch verankert werden kann. D.h. der Verdacht 
lautet: das kann vom Seher nur verstanden werden aufgrund von Konventionen, 
die er anderswoher mitbringt, die sozusagen von ihm verlangen, daß er 
mental das Kino verläßt. Aber entschieden wird diese Auseinandersetzung 
natürlich nicht durch theoretische Argumente, und seien die noch so 
raffiniert. Entschieden werden kann sie nur durch die intelligente Arbeit der 
Autoren selbst, denen es gelingt oder nicht, die Rückblende als ein Prinzip 
des Denkens im Kino zu etablieren.

herausziehen
des
visuellen

Ein anderes Element, das in den Übergängen eine große Rolle spielt, ist 
dieser Ausdruck: daß das Kino, denkend, etwas aus sich herausholt; oder 
vielleicht auch: daß das Kino etwas aus dem Gedanken herausholt, den Bergson 
hatte. Diese Ausdrucksweise ist enorm wichtig für Deleuze. Man muß das ganz 
ernst und buchstäblich nehmen, das ist nicht nur eine Metapher, das ist der 
Vorgang selbst. Ich bringe da zwei Beispiele, wieder aus ungefähr denselben 
Bereichen. 
Die ursprüngliche Konstitution des Bewegungsbildes im Kino ist wirklich ein 
Herausziehen der reinen Bewegung aus den beweglichen Körpern:
" l'image-mouvement, c'est-à-dire le mouvement pur extrait des corps ou des 
mobiles" (IM, 38; vgl. auch 65). 
Auf eine analoge Weise gibt es in der Entwicklung des Zeit-Bildes ein 
Herausziehen der Sinne, des rein Visuellen etwa, aus den Gegenständen und 
den Handlungen. Dafür könnten wir noch viele Beispiele finden. Dieses 
Herausziehen ist nicht ein Abstrahieren, sondern wirklich eine Freisetzung, 
das Herüberholen über eine Grenze (affranchissement), die verdeckend 
gewirkt hat. Es ist die Realisierung, die Befreiung einer dynamis. Und auch 
in dem Sonderfall, wo Begriffe etwas aus dem Kino herausholen, auch und 
besonders da handelt es sich nicht um Abstraktion.

wahrheit
ueber das
denken

An diesem Punkt liegt es für mich nahe, selbst ein wenig den Gesichtpunkt 
zu wechseln. Ich meine, wir könnten hier noch ein wenig fortfahren und 
würden sehr interessante Probleme finden. Z.B. wenn wir eine solche 
Aufeinanderfolge von Zuständen in ihrer Gesamtheit thematisieren, dann 
drängt sich auch auf, nach einem möglichen Endzustand zu fragen. 
Das Kino entfaltet, in seiner denkenden Entwicklung, die philosophische 
Spekulation Bergsons; je intensiver Deleuze in seinen Begrifen und 
begrifflichen Strategien aus dem Kino herausholt, was daran noch nicht 
verstanden war, umso deutlicher wird uns auch die Wahrheit werden, die das 
Kino über das Denken enthält. Was ist das am Ende für eine Wahrheit? 

Da gibt es bei Deleuze, im Zusammenhang mit Artaud, eine hochangespannte
theoretische Situation. Daß dasjenige, was das Kino über das Denken enthält,
die Einsicht ist, daß wir noch gar nicht denken, daß wir noch gar nicht
angefangen haben zu denken. Aber darauf will ich nicht eingehen. Ich will
gewissermaßen, zum Schluß, noch ein wenig seitlich ausbrechen.

interpretation

Dieses Verfahren, das ich umrissen habe durch Angabe eines Anfanges und 
einer allgemeinen Übergangsform, das ist natürlich kein mechanisches 
Verfahren, kein Algorithmus. Und es ist auch nicht durch eine immanente 
Teleologie bestimmt. Es überschreitet in jedem einzelnen Moment alle 
Grenzen, die durch eine noch so formale Definition oder durch die 
Beschreibung eines Endzustandes gezogen würden. Es ist ein Verfahren der 
Interpretation. Ich meine: rein intuitiv ist für mich völlig klar, wenn ich 
diese beiden Bücher lese und mich fage, Was ist das? - dann gibt es nur die 
Antwort: das ist Interpretation, Interpretation des Kinos. Aber die 
Einführung gerade dieses Wortes im Zusammenhang mit Deleuze ist eine 
delikate Sache. Dazu einige Überlegungen (wie ja auch am Anfang versprochen).

Zunächst muß man sich mit den Äußerungen auseinandersetzen, die Deleuze 
über die Philosophie, über die spezifisch philosophische Aktivität, getan hat. 
Da dominieren andere Aspekte: Kreativität und Konstruktivität der 
Philosophie. Die Philosophie ist das Erfinden von Begriffen, sie ist 
schöpferisch und revolutionär. Dazu gehören wichtige negative Pointen: die 
Philosophie ist nicht Kontemplation, Reflexion, Kommunikation. Insbesondere 
dieser letzte Punkt muß uns interessieren: die Philosophie hat nichts zu tun 
mit der Konstitution oder dem Aufrechterhalten eines Gespräches oder dgl., 
also nichts damit, etwas kommunikabel zu machen (z.B.: über das Kino reden 
können, als Philosophin). Und das heißt, wenn wir mit Verstehen eine 
fundamentale Dimension der Kommunikation bezeichnen: Die Philosophie hat 
nichts zu tun mit dem Verstehen. Meine Begriffe so arrangieren, meine 
intelligenten Reaktionen so disziplinieren, daß ein bestimmter Inhalt in 
ihrer Bewegung mitschwingen kann. Darum geht es nicht. Das setzt, wie 
Foucault sagen würde, eine Synthese voraus, die wir nicht akzeptieren 
können.

Deleuze erschwert die Auffassung seiner philosophischen Interpretationsleistung 
als Verstehen (in diesem kommunikativen Sinn) ja auch dadurch, daß er
ein Artefakt interpretiert. Es geht nicht um einen Gegenstand, der uns fremd 
gegenübertritt und von dem wir wissen wollen, was er ist; und auch nicht um 
Rede oder Text eines Anderen, deren Sinn wir ergründen wollen; sondern um 
etwas, was wir mit einer ganz bestimmten Zwecksetzung selbst gemacht 
haben. Machen wir, bauen wir doch einen Apparat, der das kann, daß er 
bewegliche Bilder projiziert. Und also bauen wir ihn, und er kann es. Alles 
scheint völlig klar und transparent. Die Synthese, die Kontinuität, die ein 
Verstehen begründet, ist hier so selbverständlich gegeben in der Deckung von Zweckbegriff 
und Produkt, daß sie gar nicht nicht funktionieren kann. Und 
doch müssen wir sagen, wir wissen noch überhaupt nicht, was dieser 
Apparat kann und ist. In diesem Abstand, diesem Auseinanderklaffen muß 
der Begriff Interpretation plaziert werden.

nietzsche







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Es ist nicht schwer zu sehen, Sie wissen es alle, daß Deleuze ihm vor allem
Profil gegeben hat in der Auseinandersetzung mit Nietzsche: "... die
Bewertung von Diesem und Jenem, die heikle Gewichtung der Dinge und ihres
Sinns, die Einschätzung der Kräfte, die zu jedem Zeitpunkt die Aspekte eines
Dings und seiner Verhältnisse zu den anderen definieren - all das geht aus der
höchsten Kunst der Philosophie, der Interpretation, hervor." 
(N, 8). Die heikle, aber unerbittliche Kunst der Philosophie ist: die 
pluralistische Interpretation. Sie ist deswegen heikel, weil die Kraft, die 
ein Ding ausmacht, sein Vermögen, grundsätzlich sich gar nicht unmaskiert 
bilden kann. Sie ist immer am Anfang verborgen hinter oder in einer 
Ähnlichkeit mit genau dem, was das Ding nicht ist, worüber es hinaus geht. 
Und das trifft auch auf die (philosophische) Interpretation selbst zu. Sie ist 
unzureichend beschrieben, wenn wir sagen, sie sei das Zerschlagen von 
Masken und Aufdecken wahrer Kräfte - etwa des Denkens im Kino. Sie ist 
auch selbst quasi Maske, die ihre eigenen Kräfte verdeckt, und nur in ihrem 
Werden, in der Entwicklung ihrer eigenen dynamis kann sie die Kraft des Dinges
freilegen. Nicht die Angleichung (das Äquilibrium von allgemeinem 
Vorverständnis und unverwechselbarer Individualität der Sache), sondern die 
Differenzierung der Kräfte ist die philosophische Lust: "das Viele, das 
Werden, der Zufall bilden die eigentliche philosophische Lust" 
(N, 205).
Wie gesagt, diese Beziehung zu Nietzsche ist nicht schwer zu sehen, und sie 
macht uns deutlich, wie kreatives und interpretatitves Verständnis der 
Philosophie ineinandergreifen können. Ich möchte von diesem Zusammenhang 
aber nur einen Leitsatz zurückbehalten: Die Philosophie muß ihre Kräfte, muß
sich selbst in dem Gegenstand bilden, den sie interpretiert.
Das hat verschiedene Aspekte. Zum einen können wir das konkret belegt 
finden in vielen Passagen bei Deleuze. Denken sie etwa an den Begriff des 
Immanenzplanes in QuPh, 38:
"Die Begriffe sind wie vielfältige Wellen die aufsteigen und 
sich senken, aber der Immanenzplan ist die eine Welle die sie einrollt und 
abrollt. Der Plan hüllt die unendlichen Bewegungen ein, die ihn durchlaufen 
und (in ihm) wiederkehren, aber die Begriffe sind unendliche Geschwindigkeiten 
von endlichen Bewegungen..."; oder über Denken und Bewegung in PP 167f..
Da sagt er sinngemäß folgendes: Auch wenn wir nur von einer äußeren, rein 
historischen Paralellität ausgehen: daß nämlich die philosophische 
Aufnahme der Bewegung in den Begriff (Nietzsche, Kierkegaard, Bergson) zu 
derselben Zeit stattfindet wie die Einführung der Bewegung in das Bild 
(Kino) - selbst dann müssen wir in Hinblick auf die generellen 
Entwicklungsmöglichkeiten sagen, daß das Kino das einzige mögliche 
Laboratorium ist, in dem wir die Erfahrung machen können, daß Zeit und 
Bewegung zu Konstituentien der Bildlichkeit selbst geworden sind. Also das 
ist einmal ein exemplarischer, das andere Mal ein theoretischer Beleg.

philosophie
geschichte

Aber ich möchte an jenem Leitsatz noch einen anderen Aspekt hervorheben. 
Ich glaube, von diesem Satz her: "Die Philosophie muß ihre Kräfte, muß sich 
selbst in dem Gegenstand bilden, den sie interpretiert" kann man sich jene 
enorm wichtige Behauptung einsichtig machen, daß Begriffe Singularitäten 
sind. Das ist eine absolut unverzichtbare Position von Deleuze, ohne die ist 
unmöglich zu kapieren, wie jemand einerseits darauf bestehen kann, daß die 
Philosophie ausschließlich mit Begriffen zu tun hat, und anderseits 
behaupten kann, ein Empirist zu sein. Aber wenn der Begriff an so einen 
Interpretationsprozeß gebunden ist, dann ist es sehr wohl verständlich, daß 
er die Singularität eines Ereignisses hat. (Das muß man in Kontrast sehen zu 
der Auffassung von Begriff als einer allgemeinen Struktur, in der "etwas 
prozessiert wird", wie etwa bei Hegel, oder ansatzweise vielleicht auch 
schon bei Kant).
Und von dieser Lehre gibt es nun eine Sonderanwendung, die mich deshalb 
interessiert, weil ich ein Philosoph an der Universität bin, mit einem - 
zumindest teilweisen - akademischen Selbverständnis. Nämlich wenn wir 
schon in Bezug auf Deleuze so einen Begriff der Interpretation ventilieren, 
dann sollte sich das auch bezahlt machen dadurch, daß unser Blick schärfer 
wird auf seine historisch-interpretierenden Arbeiten - die Bücher über 
Kant, Hume, Spinoza, Leibniz, Foucault.
Es wäre eine Schande, wenn wir diesen Teil seines Werkes nur als eine Art 
Verzierung, eine witzige Demonstration von Kunstfertigkeit und Bildung 
ansehen könnten. Wir müssen das, was er selber sagt: "La philosophie est 
devenir, non pas histoire" (QuPh, 59) ernst nehmen als ein Programm, das er mit
diesen Arbeiten verfolgt hat: An den Orten, wo geschrieben steht: "Geschichte
der Philosophie" soll einmal stehen: "Werden der Philosophie".
Deleuze hat gelegentlich die Geschichte der Philosophie als Machtagentur 
beschreiben, eine Schule der Einschüchterung des Denkens. Dabei handelt es 
sich keineswegs bloß um eine Kritik am "Ist-Zustand" einer Disziplin, die 
man auch attraktiver gestalten könnte, mehr in Übereinstimmung mit den 
Idealen von kreativer Phantasie, demokratischer Mitbestimmmung, 
Minderheitenrechten oder dergleichen. Sondern die Kritik richtet sich direkt 
gegen die Synthese, die in dem Begriff Geschichte selbst gedacht ist. Wenn 
er seine eigenen Interpretationen in jenem berühmten Bild kommentiert, wo 
er sich da in Rücken des Autors schleicht und ihm von hinten ein Kind macht, 
und das ist ein Monstrum - dann ist ein Aspekt den wir in dieser 
Monstrosität auf jeden Fall wahrnehmen müssen, das Singuläre. Das auf 
einmalige Weise Abweichende. Das, was sich unter keiner Bedeutung von 
Geschichte in eine Geschichte der Philosophie einfügen ließe.

allgemeinheit
und
idee







singularitaet,
differenz
und
wiederholung

Ich nehme an, ich habe jetzt, mit diesen letzten Andeutungen, Ihnen ein 
bißchen deutlicher gemacht wie in mir jener Verdacht entstanden ist, daß 
es nicht besonders angemessen sein kann, sich Deleuze's Kino-Arbeiten in 
der Form eines Verstehens-Versuches zu nähern. Etwas Positives kann ich 
dem nicht wirklich hinzufügen, und insoferne habe ich nur Vorüberlegungen 
angestellt. Trotzdem halte ich es für notwendig, wenigstens am Schluß noch 
gewissermaßen vorauszublicken über jene Schwelle, an der solche 
Vorüberlegungen in eine tatsächliche Aktivität der philosophischen 
Auseinandersetzung übergehen. Ich sehe da zwei Möglichkeiten, die Deleuze 
offeriert.

Das eine wäre ein Schritt, der auf den ersten Blick nach Verallgemeinerung 
aussieht. In einem kleinen Artikel über das Imaginäre (in hors-cadre, 1986,
publ. in PP, 91f.) sagt er: Die Beziehung Kino - Philosophie, das ist die von
Bild und Begriff. Aber das ist keine rein externe Beziehung, weil es schon im
Bild selbst einen "rapport" gibt mit dem Begriff: z.B. daß das Kino immer
schon ein Bild des Denkens konstruieren wollte, der Mechnismen des Denkens.
Und deswegen wird das Kino nicht abstrakt. Das gilt natürlich auch umgekehrt
(daß das Denken immer schon ein Bild entwickelt oder hat). Und nun kann 
man sagen, daß es Instanzen gibt, über die diese Beziehungen - ihre internen 
und externen Aspekte - vermittelt werden. Das könnte man Idee nennen, so 
eine Instanz. Die aktualisiert sich mal in Bildern, mal in Begriffen, mal in 
Funktionen (d.h. wissenschaftlich). Also in dieser Äußerung, da schlägt er 
einen weiteren Begriff vor, der sollte so eine Art zusätzliche 
Erklärungsfunktion haben.
Das ist ein harmloser und gefährlicher Vorschlag 
zugleich. Gefährlich gerade wegen seiner Harmlosigkeit. Auf diesem Weg 
wird man unweigerlich abrutschen, wenn man nicht sehr genau nachfragt, 
was für ein Begriff ist eigentlich "Idee", zu welchem Zweck ist er erfunden 
worden, was kann er wirklich?
Die andere Möglichkeit ist mir sympathischer. Sie bietet sich an, wenn man 
direkt an dem Punkt weiterdenkt, wo das begriffliche Denken jenem 
nietzscheanischen Prinzip der Interpretation unterworfen wird - also an 
dem Punkt der "Singularisierung" der Begriffe. Wenn wir uns hier aufstellen, 
an diesem Ort, dann können wir nämlich nicht so einfach eine affirmative 
Ausage über das Verhältnis Kino - Philosophie machen. Wir müßten immer 
mindestens zwei Aussagen machen. Nehmen wir an, wir würden folgendes 
sagen (und es legt sich von meinen Vorüberlegungen her nahe, das zu sagen): 
Die beiden Bücher über das Kino sind deshalb so interessant, weil sie genau 
dieselbe Fähigkeit und Aktivität des Philosophen manifestieren, wie die 
Bücher über Philosphie und Philosophen. Nämlich: das Werden des Denkens. 
Dann müssen wir unweigerlich als nächstes sagen: Sie sind genau insofern 
interessant, als sich ihnen jedesmal etwas ganz anderes, unvergleichliches 
manifestiert. Deshalb nämlich, weil das Denken im Gegenstand seiner 
Interpretation jedesmal auf völlig singuläre Weise einen Begriff erfindet.
Wir haben auch nicht die Möglichkeit, diese Situation so zu bereinigen, daß 
wir sagen: na ja, das ist ja weiter nicht tragisch, das ist ja nur der ganz 
normale Unterschied zwischen einem allgemeinen Begriff (eines 
Interpretationsverfahrens etwa) und seinen konkreten, einzelnen Instanzen. 
Das geht nicht, weil der Begriff selbst eine Singularität ist.
An diesem Punkt, oder von diesem Punkt aus, sehen wir uns also veranlaßt, 
etwas ganz anders zu denken als einen Begriff, der durch seine 
Allgemeinheit Differentes unter sich zusammenfaßt oder verteilt (so wie 
das zumindest auf den ersten Blick bei der Idee aussah): hier geht es um das 
Denken des Begriffes als in sich different, und um sein Komplement: das 
Einzelne nicht als Instanz, sondern Wiederholung.
Wie gesagt, das ist ein Ausblick in einen Bereich, den man traditionell oder 
in einem engeren Sinne philosophisch nennen würde. Und es legt sich jetzt, 
nach dem Tod des Philosophen, nahe, solche Perspektiven zu vermehren und 
in ihrer Anordnung eine große Einheit zu bewundern. Man sollte dem nicht 
ganz unmittelbar nachgeben. Erinnern wir uns an ein paar Sätze, die er in 
dem Buch über "Differenz und Wiederholung", im Zusammenhang einer 
Überlegung zur modernen Kunst, geschrieben hat, und die doch auch den 
charakteristischesten Impuls seiner eigenen Arbeit beschreiben: "Es genügt 
nicht, die Perspektiven zu vervielfältigen, um Perspektivismus zu betreiben. 
Jede Perspektive oder jeder Blickpunkt muß einem autonomen Werk 
entsprechen, das einen zureichenden Sinn hat: Was zählt, ist die Divergenz 
der Reihen, die Dezentrierung der Kreise, das Monster."












fn 1 zu: ENTWICKLUNG DES FILMS...


kreativer Gebrauch von Begriffen


Im Prinzip setzt Deleuze das philosophische Denken vom Denken in
Kunst und Wissenschaft immer so ab, dass es ein Denken in Begriffen
ist. Aber genau genommen ist es vor allem die Kreativitaet im
begrifflichen Denken, die die Philosophie auszeichnet.
Typisch eine Bemerkung in einem Gespraech mit Catherine Clement,
in der Zeitschrift L'ARC, nouvelle edition, No.49, bes. S.99f.:

Un peintre, c'est quelqu'un qui cree dans l'ordre des lignes et des
couleurs... Eh bien un philosophe, c'est pareil, c'est quelqu'un qui
cree dans l'ordre des concepts, quelqu'un qui invente de nouveaux
concepts.
ZURUECK





fn 2 zu: ENTWICKLUNG DES FILMS...


unbeweglicher Schnitt : Illusion der Bewegung

Man darf nicht glauben, daß dieser Umstand - "daß wir über die Bewegungswahrnehmung gleichsam hinaussehen auf die Bewegung selbst" - mit der Apparatur als solcher, also auf einer rein technischen Ebene, bereits gegeben wäre. Er besteht nur in Bezug auf einen Komplex von Denken und Apparat. Wenn man ihn augenscheinlich machen will, dann kann man etwa auf Effekte verweisen, die mit der Mobilisierung der Kamera einhergehen. Vgl. IM, 36.f.

Sieht man genau hin, dann möchte man vielleicht sagen: Bergsons Mißverständnis besteht darin, daß er das Kino als solches verwechselt hat mit jener Analyse der Wahrnehmungssituation, die es sich technisch zunutze macht; und dies muß man natürlich relativ sehen auf die Wahrnehmungstheorien, die zu jener Zeit geläufig waren.
ZURUECK