[NAVIGATON] interpretation kadrierung kino gedanke wahrnehmung zeit-bild rueckblende herausziehen wahrheit interpretation nietzsche philosophie allgemeinheit
Sieht man genau hin, dann möchte man vielleicht sagen: Bergsons
Mißverständnis besteht darin, daß er das Kino als solches verwechselt hat mit
jener Analyse der Wahrnehmungssituation, die es sich technisch zunutze macht;
und dies muß man natürlich relativ sehen auf die Wahrnehmungstheorien, die zu
jener Zeit geläufig waren.
IM = L'image mouvement. Paris 1983
ZB = Das Zeit-Bild. Frankfurt 1991
QuPh = Qu'est-ce que la philosophie. Paris 1991
PP = Pourparlers. Paris 1990
N = Nietzsche und die Philosophie. Muenchen 1976
DW = Differenz und Wiederholung. Muenchen 1992
Der folgende Text wurde von mir am 17. November 1995 im Rahmen der Veranstaltung
'Deleuze sehen. im Kino. im Bild. im Denken.' (Institut Francais de Vienne) vorgetragen.
Fuer Informationen, die mit dem Kino zu tun haben - Aktuelles, Theorie,
Literatur, Kritik etc - wende ich mich an
cinetext
film cinema moving images
[MERKWOERTER]
ENTWICKLUNG DES FILMS IM DENKEN
EINLEITUNG
Im PROGRAMMHEFT steht ein kurzgefasstes Konzept meines Referates, und
da habe ich geschrieben, ich würde versuchen, Deleuze's Arbeit über das
Kino als einen doppelten Entwicklungsvorgang zu verstehen: wie sich das
Denken aus dem Kino entwickelt, und wie zugleich das Kino einen
Gedanken entwickelt. Vor ein paar Monaten war das, inzwischen habe ich
mich ein klein wenig in der Sache orientiert, und dieser Satz (Vorsatz)
erscheint mir nun in einem sehr veränderten Licht.
Das hat kaum etwas zu tun mit jener Idee von der doppelten Entwicklung,
die sehe ich nach wie vor als einen plausiblen Zugang; aber was
auf den ersten Blick viel unschuldiger wirkt, der Vorsatz nämlich,
Deleuze's Arbeit über das Kino zu verstehen: der macht mir Probleme.
Oder sagen wir deutlicher: Er kommt mir jetzt recht blaß und mager vor
angesichts dessen, was dieses Werk eigentlich fordert: Fortführung,
Ergänzung, Verzweigung oder Verästelung, Kritik. Einsatzpunkte dafür
gäbe es ohne Zahl.
Denken Sie etwa an den auffälligen Umstand, daß Deuleuze in den
Kino-Büchern keine Filme interpretiert, so wie er sich auch nicht mit
Filminterpretation als solcher (auf eine theoretische Art)
befaßt. Das ist kein Mangel, weil er einfach andere Ziele hat.
Aber Interpretation ist natürlich trotzdem eine Dimension des Kinos,
und daher auch eine Richtung, in der man fortfahren sollte, weiterdenken,
von Deleuze aus.
mischung
Oder denken Sie, zum Gegensatz, an konkrete einzelne
Vermutungen, die ebenso unausgeführt wie herausfordernd dastehen: die
Thesen im zweiten Buch etwa über das komplizierte Verhältnis von
Kadrierung des Films und Mischung des Tons. Was heißt es dann, den Ton einer
Kadrierung zu unterwerfen, die gleichwohl von der des Films durch
einen Zwischenraum getrennt ist? Wo sind dafür die Beispiele, welche
Potentiale stecken da?
Und umgekehrt: Auf verschiedenste Weise sind die
Techniken der Magnetaufzeichnung in den letzten Jahren in die
Filmproduktion und auch -Rezeption eingewandert, und bedeutet das
nicht, daß das Mischungsprinzip nun auch auf den Film als solchen
übergreift, daß also ein Begriff wie die "Kadrierung" noch einmal neu
profiliert werden müßte in diesem Zuammenhang? Da müßte man weiterdenken.
Eiligst weiterdenken an tausenderlei solchen Punkten, das scheint im
Grunde die einzig adäquate Reaktion auf diese Arbeit.
Nur mit einem schlechten Gewissen kann ich also sagen, daß ich trotzdem
bei meinem Vorsatz bleibe: ein paar Ansatzpunkte zum Verstehen zu
suchen, noch dazu aus einer vor allem philosophischen Perspektive.
Denn im Rahmen der Philosophie ist mit dem Wort "Verstehen" eine
besonders prekäre, um nicht zu sagen dubiose Sache angesprochen. Aber
darüber will ich mich jetzt nicht im Allgemeinen verbreitern, darauf
kommen wir vielleicht später zurück, unter bestimmteren Voraussetzungen.
denken
ERSTER ABSCHNITT - GRUNDSÄTZLICHES
Also da ist bei Deleuze diese Konstellation von vier termini:
kino-begriffe
Es gibt einen Fall ganz am anderen Ende der Skala, wo diese Termini einen
Nukleus zu bilden scheinen ohne jeden Zwischenraum. Das sind die Aussagen
von der Art:
"... das Wesen des Kinos, das nicht die Allgemeinheit der Filme ist,
hat als oberstes Ziel das Denken und nichts anderes als das Denken und
seine Funktionsweise."(ZB, 220) Das Kino nötigt die Philosophie, ganz
bestimmte Begriffe zu erfinden, nämlich Kino-Begriffe.
(Also der Unterschied zu der ersten Art von Beziehung ist vor allem, daß hier
nicht von einer Position des reflektierenden Beobachters aus verglichen,
unterschieden und erklärt wird; Nötigung ist vielmehr eine konkrete Beziehung,
in der zwei termini (Personen, Institutionen, Wesen...) selbst zueinander
stehen; und ebenso verhält es sich mit der teleologischen Beziehung, die in
dem Begriff des Zieles angesprochen ist.)
Und wenn solche Begriffe (die das Kino der Philosophie aufnötigt)
einmal da sind, in der philosophischen Praxis, dann bedeutet das, daß sie in
Beziehung kommen auch zu anderen Begriffen, daß sie unter diesen
anderen Begriffen Reaktionen im Sinne von Verschiebungen,
Intensivierungen, Umordnungen etc. auslösen. Sodaß dann z.B. eine
Philosophie der Bewegung ohne die Erfahrung des Kinos gar nicht
vorstellbar ist.
Da ist keine Rede von der abstumpfenden Strategie der theoretischen
Vorentscheidungen durch Hypothesenbildung, sozusagen der Ausbeutung der
Empirie durch gezielte Verifikation. Kino, Denken,Philosophie sind so eng
aneinandergerückt, daß wirklich nur die Frage ist: Wer agiert oder reagiert
wie, wann, worauf, woraufhin?
Das meint Deleuze am Ende von ZB (358) meint, wenn er sagt:
"Aus diesem Grund besitzt die Praxis der Begriffe gegenüber anderen
Praktiken keinerlei Vorrecht, sowenig wie ein Gegenstand gegenüber
anderen Gegenständen Vorrechte hat."
Nun, das waren zwei Extremzustände, die ich da angedeutet habe für
unsere Konstellation von Termen. Dazwischen liegen andere, aber jeder
von ihnen ist in sich vollständig. Z.B. daß wir, wenn wir "das Kino
denken", den Begriff "Bewegung" gebrauchen, das liegt nicht
daran, daß wir als Philosoph(inn)en über diesen Begriff schon
anderswoher verfügen - verfügen heißt hier: daß wir durch viele
theoretische Versuche seine Tücken, seine Macht, seine Funktionen
etc. kennengelernt haben - und also gleichsam als kompetente Experten
seine Aufschließungskraft für dieses Phänomen garantieren können.
Es liegt vielmehr daran daß, wie Deleuze sagt, das Kino einen Schock
auslöst, der das Denken in eine Bewegung zwingt, es in Bewegung setzt
(so in der Art der anstoßgebenden Ursache des Aristoteles). In ihrer
Gesamtheit bilden jene Zustände den Aufbau der zwei Bände.
Nun, klarerweise eine naheliegende Frage ist die nach ihrem
Anordnungsprinzip. Für mich jedenfalls ist das die spannendste Frage
gewesen, und ich werde ein bißchen berichten wie ich mir da eine
Antwort vorstelle. Ich benütze ein konventionelles und
abstraktes Hilsfmittel. Ich beschreibe die Anordnung, indem ich
einerseits ein Anfangsglied angebe, und zweitens die Operation
charakterisiere, mit der aus einem Glied das jeweils nächste
hervorgeht.
+
apparat
bergson
ZWEITER ABSCHNITT - DER ANFANGSZUSTAND
Der Anfang ist ein Komplex der, so sage ich einmal behelfsmäßig, aus
zwei Elementen besteht:
- einem Gedanken, der seiner selbst nicht mächtig ist, der sozusagen nicht
seine eigene Wirklichkeit denken (an-erkennen) kann;
- und einer ziemlich zusammengesetzten Apparatur.
Die Apparatur ist unter verschiedenen Gesichtpunkten beschreibbar:
technischen, teleologischen, psychologischen etc. (Aber ich glaube, Deleuze
wollte, daß wir sie nicht bloß als unter diesen Hinsichten beschreibbar
ansehen, sondern als wirklich aus ihnen zusammengesetzt.) Sie wird "Kino"
genannt.
Der Gedanke ist das Denken Bergsons über die Bewegung. Das ist
natürlich eine verzwickte Geschichte, davon kann ich nur eine
behelfsmäßige Skizze geben.
Also im Prinzip gibt es (bei Bergson, wie Deleuze ihn sieht) eine kritische
und eine positive Seite. Auf der kritischen Seite steht die Behauptung, daß
Bewegung sich nicht darstellen läßt als eine Funktion, die unbewegliche
Einschnitte anderen unbeweglichen Einschnitten gesetzmäßig zuordnet.
Diese "unbeweglichen Einschnitte", das sind natürlich primär Raum- und
Zeitpunkte. Also die These lautet, daß wirkliche Bewegung von raum-zeitlichen
Positionen her nicht rekonstruierbar ist.
Was auf der positiven Seite steht bei Bergson, das würde ich nicht so sehr
als eine These oder Behautpung bezeichnen, sondern als Eröffnung einer
zusätzlichen Dimension. Das ist eine Reflexion darüber, daß die Gesamtheit
der unbeweglichen Einschnitte, also der Raum-Zeit-Punkte, ja in einem
bestimmten Ganzen liegt (Gesamtheit und Ganzes sind nicht identisch) - den
Ganzheiten von Raum und Zeit. In Bezug auf diese Ganzheiten nun hat die
Bewegung sozusagen ein eigenes, autonomes und charakteristisches Verhältnis.
Auf andere Art als die Punkte und Augenblicke, aber auf gleichberechtigte
Art, ist die Bewegung ein Schnitt in die entsprechenden Ganzheiten, die
Dauer der Zeit etwa. Aber eben nicht ein unbeweglicher Schnitt, sondern ein
beweglicher. Und so kann man sich das Verhältnis dann auch umgekehrt
denken: daß nämlich nicht die Bewegung von den unbeweglichen Schnitten
her zu erfassen wäre, sondern diese ihrerseits durch den Einschnitt der
Bewegung in das Ganze konstituiert werden (als Grenzwerte vielleicht oder
auf ähnliche Art).
Der tiefere Sinn, den Bergson in dieser Überlegung sieht, ist der: Die
Bewegung ist ein "beweglicher Einschnitt" in die Dauer; dadurch kommt in
ihr etwas zum Ausdruck, was der Dauer als solcher eignet, nämlich ihre
Veränderung in sich. Was die Dauer (der Zeit) vom Augenblick unterscheidet,
das ist ja, daß sie sich in sich selbst ständig ändert. Der
Ausdruck dieses Aspektes der Dauer ist die Bewegung, und darin liegt die
Wahrheit der Bewegung: daß sie nicht etwas artifizielles oder scheinbares
ist, das durch die Punkte von Raum und Zeit bestimmt und theoretisch
eliminiert werden kann, sondern daß sie eine Ausdrucksdimension der Dauer,
der Ganzheiten selbst ist.
Da gäbe es dann noch hochspekulative Zusammenhänge, über die Verhältnisse
von ursprünglicher Ganzheit, Gruppen von unbeweglichen Elementen, die man
als sekundäre Gesamtheiten bezeichnen könnte (ensemble), der Bewegung etc. Aber wir
lassen es bei dieser einfachen Skizze bewenden.
und
kino
Deleuze sagt, daß dieser Gedanke Bergsons seiner selbst nicht
mächtig ist, seine Wirklichkeit nicht erfaßt. Und diese Verfehlung ist
zugleich die Beziehung zwischen ihm (jenem Gedanken) und der Apparatur des
Kinos. Nämlich Bergson hat in seine kritische Position mit aufgenommen
die Behauptung, daß die Kinematographie nichts anderes sei als die Illusion,
aus unbeweglichen Einzelbildern Bewegung synthetisieren zu können.
(Diese Illusion sei übrigens dieselbe, auf der faktisch unsere gewöhnliche
Wahrnehmung von Bewegung beruht, d.h. die Wahrnehmung gibt niemals die
Wahrheit über die Bewegung zu erkennen.)
Diese Einstellung ist falsch. Denn tatsächlich funktioniert das Kino eben
nicht so, daß es uns unbewegliche Bilder gibt und dazu ein Verfahren, wie
man ihnen Bewegung aufprägt; sondern es gibt uns unmittelbar ein
Bewegungsbild.
Hier muß ich nun doch auf ein Detail eingehen, weil das für
Deleuze so entscheidend ist. Nämlich man könnte ja meinen, das sei bei der
gewöhnlichen Wahrnehmung genau so - da sehen wir ja auch unmittelbar die
vorbeilaufende Katze und sind uns keineswegs bewußt, daß wir dieses Bild
aus einzelnen Momentaufnahmen synthetisieren. Aber wenn wir das
analysieren, dann finden wir heraus, daß in Wirklichkeit ein "computational
process" abläuft, der mit einer speziellen kognitiven Kompetenz identisch
ist. Hingegen im Kino, wenn wir "einen Film sehen" (wie man auch ein wenig
irreführend sagt), da tritt uns eine solche Synthese gleichsam schon
objektiv gegenüber. Das Bild taucht unmittelbar als dieses Bewegungsbild
auf. Das Kino ist nicht die Analyse der gewöhnlichen Wahrnehmungssituation
(obwohl es eine solche Analyse technisch gesehen benützt); es ist eine
veränderte Wahrnehmungssituation, und zwar so verändert, daß wir über die
Bewegungswahrnehmung gleichsam hinaussehen auf die Bewegung selbst.
Das Kino bietet uns direkt jenen beweglichen Schnitt und nicht die
Heterogenität: unbeweglicher Schnitt plus abstrakte Bewegung.
Also es ist wichtig sich klarzumachen, auf welche Weise Bergson schief lag
bezüglich des Kinos: er hat sich nicht bloß irgendwie darüber geirrt, was das
Kino ist; sondern er hat übersehen, daß das Kino in Wirklichkeit das ist, was
nach seiner eigenen Auffassung das Wahre ist an der Bewegung. Und daraus
folgt, daß jene ganze Dimension, die Bergson der Spekulation über Dauer und
Bewegung eröffnet hat, sich nur im Kino wird aktualisieren können.
Allerdings kann und konnte das nicht so geschehen, daß man sich vom Kino
nun einfach einen richtigeren Begriff bildet als Bergson und sagt: Seht alle
her, da ist ja der handfeste Beweis, daß seine Thesen stimmen. Das geht
deshalb nicht, weil das Kino neu ist. Und das Wesen, die wesentlichen Kräfte
einer Sache sind immer verborgen, wenn diese Sache eben erst entsteht. Sie
treten erst im Laufe ihrer Entwicklung hervor.
Also so ist dieser Anfangszustand, von dem Deleuze ausgeht, in etwa
beschaffen: Der Gedanke von Bergson einerseits, und anderseits das Kino, das
die Wahrheit dieses Gedankens entwickeln wird. Natürlich kann die Wahrheit
eines Gedankens, seine ganze Kraft etc. nur denkend entwickelt werden. Also
wird uns am Kino das kino-spezifische Denken interessieren, das seiner
Entwicklung Profil gibt. Aber das wird kein begriffliches Denken sein, und
daher kehrt sich die Beziehung noch einmal um, wenn Deleuze Konzepte erfindet,
durch die dieses Denken über seinen ursprünglichen Ort hinaus zu wirken
beginnen kann, beginnen kann, seine Kräfte immer weiter auszuschöpfen.
Das ist eine zweite Entwicklung: die Entwicklung des Films im Denken.
Und da liegt ja der Sinn von Philosophie: dem Denken die Möglichkeit zu
geben, seine Kraft ganz auszuschöpfen, alles herzugeben, was es für das Leben
bedeuten und bewirken kann.
beispiele
mobilisierung
der
kamera
DRITTER ABSCHNITT - ÜBERGÄNGE
Jetzt zeichnet sich eigentlich schon ab, was ich mit der allgemeinen Form
des Überganges gemeint habe, der von einer Konstallation der vier Termini:
Kino - Denken - Begriff - Philosophie zu einer anderen führt. Ein solcher
Übergang hat immer folgende Form: da ist erstens die Apparatur in ihrer
relativen Neuheit - also wir wissen noch nicht (alles), was sie kann und
ihrem Wesen nach ist; dann ist da zweitens eine Innovation, eine intelligente
Innovation, die etwas von dieser verborgenen Kraft freisetzt, herausholt;
und dann ist da eine spezifisch philosophische Leistung, die Begriffe
erfindet, durch die sich diese Kraft verteilen kann. Dann sind Kino, Denken,
Philosophie in eine neue, konkrete Konstellation getreten. Das ist Empirismus.
Als nächstes sollten jetzt wohl Beispiele folgen. Aber ich bin nicht
kompetent das so zu tun, daß dabei für Sie wirklich ein Erkenntnisgewinn
herausschaut. Ich bringe nur ein paar Stichworte, die vielleicht nützlich
sind, um die verschiedenen Faktoren, von denen hier die Rede war, konkreter
zu beleuchten.
Was kann so eine "intelligente Innovation" sein- d.h.: wie denkt das Kino?
Da haben wir eine große Bandbreite. Zunächst elementare Verfahren, die so
aussehen, als wären sie rein technisch zu beschreiben. Z.B. mit welchen
Mitteln das Kino eigentlich den Blick auf die Bewegung freigibt, d.h. jene
Öffnung zustandebringt, in der wir die Synthese der Bewegungswahrnehmung
nicht nur vollziehen, sondern sie zugleich auf uns zukommt. Dazu muß die
Bewegung eine Präsenz haben, in der sie relativ unabhängig ist von "dem,
was sich bewegt". Das ist untrennbar verbunden mit der Mobilisierung der
Kamera und dem Schnitt des Films. Die Mobilisierung der Kamera bewirkt,
daß uns Bewegung entgegentritt unabhängig von der Bewegung oder Ruhe der
Objekte, die wahrgenommen werden. Die Einstellung ist der Träger dieser
Bewegung.
Es wäre eine Täuschung zu glauben, daß wir hier (und insbesondere
beim Schnitt) nur eine technische Neuerung vor uns haben, aus der
akzidentell ein gewisser künstlerischer Effekt gezogen wird. Das sieht man
dort, wo die Innovation ebenso schwerwiegend ist, ohne daß man so einen
technischen Aspekt identifizieren könnte. Etwa beim Übergang vom
Bewegungsbild zum Zeit-Bild. Das verstärkte Aufkommen der rein
akustischen oder optischen Situationen im modernen Film seit dem Neo-
Realismus (Situationen, wo das Bild ruht, kontemplativ ist...) ist ja nicht
einfach ein Verzicht auf das bereits konstituierte Bewegungsbild. Das ist
eine Entwicklung, die mühsam und auf riskante Weise erarbeitet werden
mußte: Das Risiko ist, daß ein solches Verfahren überhaupt die Logik des
Kinos verletzen oder verlassen könnte, nur als artifiziell-extrinsisches Anhängsel sich
entpuppen könnte. Wenn es sich aber bewährt, dann deshalb,
weil damit tatsächlich das Denken weitergetreiben wird. Im
gegenständlichen Fall: das Bewegungsbild wird nicht so sehr in Frage
gestellt, sondern es kommt jetzt noch zusätzlich und primär in den Blick,
wie der bewegliche Schnitt in der Dauer als solcher gründet. Und das holt
erst aus dem Kino heraus seine verschiedenen Möglichkeiten, das Bild als
solches zu denken. Bild, das nicht einfach Abklatsch vom Stillstand der
Bewegung ist, sondern Dimensionen der Zeit präsent macht, von denen die
Bewegung ihrerseits Ausdruck ist. Deleuze spricht von dem Zeit-Bild, das
sich die Bewegung unterordnet. Bewegung wird bestimmbar nach
zusätzlichen Parametern: Relationen, die nur in einem zeit-artigen Bild
konkret gedacht werden können, wie etwa die zwischen vergangenen und
gegenwärtigen Zuständen, reflexive Zustände und dergleichen (Grundlage
der Lesbarkeit, Grundlage der Zeichenkonstitution).
Natürlich kann man sich dergleichen immer abstrakt "dazudenken", z.B. in
der Form: Wo mag dieser Zug wohl hergekommen sein, den ich da eben auf der
Leinwand fahren sehe? Aber es geht genau darum, ob der Film selbst diese
Frage stellt, und mit welchen Mitteln er das kann.
Ein Fall, wo das vielleicht noch eklatanter hervortritt, ist die Rückblende.
Das diskutiert er sehr eingehend. Da muß man sich mit dem Standpunkt
auseinandersetzen, daß das eine extrinsische literarische Technik ist, die
im Film gar nicht authentisch verankert werden kann. D.h. der Verdacht
lautet: das kann vom Seher nur verstanden werden aufgrund von Konventionen,
die er anderswoher mitbringt, die sozusagen von ihm verlangen, daß er
mental das Kino verläßt. Aber entschieden wird diese Auseinandersetzung
natürlich nicht durch theoretische Argumente, und seien die noch so
raffiniert. Entschieden werden kann sie nur durch die intelligente Arbeit der
Autoren selbst, denen es gelingt oder nicht, die Rückblende als ein Prinzip
des Denkens im Kino zu etablieren.
des
visuellen
Ein anderes Element, das in den Übergängen eine große Rolle spielt, ist
dieser Ausdruck: daß das Kino, denkend, etwas aus sich herausholt; oder
vielleicht auch: daß das Kino etwas aus dem Gedanken herausholt, den Bergson
hatte. Diese Ausdrucksweise ist enorm wichtig für Deleuze. Man muß das ganz
ernst und buchstäblich nehmen, das ist nicht nur eine Metapher, das ist der
Vorgang selbst. Ich bringe da zwei Beispiele, wieder aus ungefähr denselben
Bereichen.
Die ursprüngliche Konstitution des Bewegungsbildes im Kino ist wirklich ein
Herausziehen der reinen Bewegung aus den beweglichen Körpern:
" l'image-mouvement, c'est-à-dire le mouvement pur extrait des corps ou des
mobiles" (IM, 38; vgl. auch 65).
Auf eine analoge Weise gibt es in der Entwicklung des Zeit-Bildes ein
Herausziehen der Sinne, des rein Visuellen etwa, aus den Gegenständen und
den Handlungen. Dafür könnten wir noch viele Beispiele finden. Dieses
Herausziehen ist nicht ein Abstrahieren, sondern wirklich eine Freisetzung,
das Herüberholen über eine Grenze (affranchissement), die verdeckend
gewirkt hat. Es ist die Realisierung, die Befreiung einer dynamis. Und auch
in dem Sonderfall, wo Begriffe etwas aus dem Kino herausholen, auch und
besonders da handelt es sich nicht um Abstraktion.
ueber das
denken
An diesem Punkt liegt es für mich nahe, selbst ein wenig den Gesichtpunkt
zu wechseln. Ich meine, wir könnten hier noch ein wenig fortfahren und
würden sehr interessante Probleme finden. Z.B. wenn wir eine solche
Aufeinanderfolge von Zuständen in ihrer Gesamtheit thematisieren, dann
drängt sich auch auf, nach einem möglichen Endzustand zu fragen.
Das Kino entfaltet, in seiner denkenden Entwicklung, die philosophische
Spekulation Bergsons; je intensiver Deleuze in seinen Begrifen und
begrifflichen Strategien aus dem Kino herausholt, was daran noch nicht
verstanden war, umso deutlicher wird uns auch die Wahrheit werden, die das
Kino über das Denken enthält. Was ist das am Ende für eine Wahrheit?
Da gibt es bei Deleuze, im Zusammenhang mit Artaud, eine hochangespannte
theoretische Situation. Daß dasjenige, was das Kino über das Denken enthält,
die Einsicht ist, daß wir noch gar nicht denken, daß wir noch gar nicht
angefangen haben zu denken. Aber darauf will ich nicht eingehen. Ich will
gewissermaßen, zum Schluß, noch ein wenig seitlich ausbrechen.
Dieses Verfahren, das ich umrissen habe durch Angabe eines Anfanges und
einer allgemeinen Übergangsform, das ist natürlich kein mechanisches
Verfahren, kein Algorithmus. Und es ist auch nicht durch eine immanente
Teleologie bestimmt. Es überschreitet in jedem einzelnen Moment alle
Grenzen, die durch eine noch so formale Definition oder durch die
Beschreibung eines Endzustandes gezogen würden. Es ist ein Verfahren der
Interpretation. Ich meine: rein intuitiv ist für mich völlig klar, wenn ich
diese beiden Bücher lese und mich fage, Was ist das? - dann gibt es nur die
Antwort: das ist Interpretation, Interpretation des Kinos. Aber die
Einführung gerade dieses Wortes im Zusammenhang mit Deleuze ist eine
delikate Sache. Dazu einige Überlegungen (wie ja auch am Anfang versprochen).
Zunächst muß man sich mit den Äußerungen auseinandersetzen, die Deleuze
über die Philosophie, über die spezifisch philosophische Aktivität, getan hat.
Da dominieren andere Aspekte: Kreativität und Konstruktivität der
Philosophie. Die Philosophie ist das Erfinden von Begriffen, sie ist
schöpferisch und revolutionär. Dazu gehören wichtige negative Pointen: die
Philosophie ist nicht Kontemplation, Reflexion, Kommunikation. Insbesondere
dieser letzte Punkt muß uns interessieren: die Philosophie hat nichts zu tun
mit der Konstitution oder dem Aufrechterhalten eines Gespräches oder dgl.,
also nichts damit, etwas kommunikabel zu machen (z.B.: über das Kino reden
können, als Philosophin). Und das heißt, wenn wir mit Verstehen eine
fundamentale Dimension der Kommunikation bezeichnen: Die Philosophie hat
nichts zu tun mit dem Verstehen. Meine Begriffe so arrangieren, meine
intelligenten Reaktionen so disziplinieren, daß ein bestimmter Inhalt in
ihrer Bewegung mitschwingen kann. Darum geht es nicht. Das setzt, wie
Foucault sagen würde, eine Synthese voraus, die wir nicht akzeptieren
können.
Deleuze erschwert die Auffassung seiner philosophischen Interpretationsleistung
als Verstehen (in diesem kommunikativen Sinn) ja auch dadurch, daß er
ein Artefakt interpretiert. Es geht nicht um einen Gegenstand, der uns fremd
gegenübertritt und von dem wir wissen wollen, was er ist; und auch nicht um
Rede oder Text eines Anderen, deren Sinn wir ergründen wollen; sondern um
etwas, was wir mit einer ganz bestimmten Zwecksetzung selbst gemacht
haben. Machen wir, bauen wir doch einen Apparat, der das kann, daß er
bewegliche Bilder projiziert. Und also bauen wir ihn, und er kann es. Alles
scheint völlig klar und transparent. Die Synthese, die Kontinuität, die ein
Verstehen begründet, ist hier so selbverständlich gegeben in der Deckung von Zweckbegriff
und Produkt, daß sie gar nicht nicht funktionieren kann. Und
doch müssen wir sagen, wir wissen noch überhaupt nicht, was dieser
Apparat kann und ist. In diesem Abstand, diesem Auseinanderklaffen muß
der Begriff Interpretation plaziert werden.
Es ist nicht schwer zu sehen, Sie wissen es alle, daß Deleuze ihm vor allem
Profil gegeben hat in der Auseinandersetzung mit Nietzsche: "... die
Bewertung von Diesem und Jenem, die heikle Gewichtung der Dinge und ihres
Sinns, die Einschätzung der Kräfte, die zu jedem Zeitpunkt die Aspekte eines
Dings und seiner Verhältnisse zu den anderen definieren - all das geht aus der
höchsten Kunst der Philosophie, der Interpretation, hervor."
(N, 8). Die heikle, aber unerbittliche Kunst der Philosophie ist: die
pluralistische Interpretation. Sie ist deswegen heikel, weil die Kraft, die
ein Ding ausmacht, sein Vermögen, grundsätzlich sich gar nicht unmaskiert
bilden kann. Sie ist immer am Anfang verborgen hinter oder in einer
Ähnlichkeit mit genau dem, was das Ding nicht ist, worüber es hinaus geht.
Und das trifft auch auf die (philosophische) Interpretation selbst zu. Sie ist
unzureichend beschrieben, wenn wir sagen, sie sei das Zerschlagen von
Masken und Aufdecken wahrer Kräfte - etwa des Denkens im Kino. Sie ist
auch selbst quasi Maske, die ihre eigenen Kräfte verdeckt, und nur in ihrem
Werden, in der Entwicklung ihrer eigenen dynamis kann sie die Kraft des Dinges
freilegen. Nicht die Angleichung (das Äquilibrium von allgemeinem
Vorverständnis und unverwechselbarer Individualität der Sache), sondern die
Differenzierung der Kräfte ist die philosophische Lust: "das Viele, das
Werden, der Zufall bilden die eigentliche philosophische Lust"
(N, 205).
Wie gesagt, diese Beziehung zu Nietzsche ist nicht schwer zu sehen, und sie
macht uns deutlich, wie kreatives und interpretatitves Verständnis der
Philosophie ineinandergreifen können. Ich möchte von diesem Zusammenhang
aber nur einen Leitsatz zurückbehalten: Die Philosophie muß ihre Kräfte, muß
sich selbst in dem Gegenstand bilden, den sie interpretiert.
Das hat verschiedene Aspekte. Zum einen können wir das konkret belegt
finden in vielen Passagen bei Deleuze. Denken sie etwa an den Begriff des
Immanenzplanes in QuPh, 38:
"Die Begriffe sind wie vielfältige Wellen die aufsteigen und
sich senken, aber der Immanenzplan ist die eine Welle die sie einrollt und
abrollt. Der Plan hüllt die unendlichen Bewegungen ein, die ihn durchlaufen
und (in ihm) wiederkehren, aber die Begriffe sind unendliche Geschwindigkeiten
von endlichen Bewegungen..."; oder über Denken und Bewegung in PP 167f..
Da sagt er sinngemäß folgendes: Auch wenn wir nur von einer äußeren, rein
historischen Paralellität ausgehen: daß nämlich die philosophische
Aufnahme der Bewegung in den Begriff (Nietzsche, Kierkegaard, Bergson) zu
derselben Zeit stattfindet wie die Einführung der Bewegung in das Bild
(Kino) - selbst dann müssen wir in Hinblick auf die generellen
Entwicklungsmöglichkeiten sagen, daß das Kino das einzige mögliche
Laboratorium ist, in dem wir die Erfahrung machen können, daß Zeit und
Bewegung zu Konstituentien der Bildlichkeit selbst geworden sind. Also das
ist einmal ein exemplarischer, das andere Mal ein theoretischer Beleg.
geschichte
Aber ich möchte an jenem Leitsatz noch einen anderen Aspekt hervorheben.
Ich glaube, von diesem Satz her: "Die Philosophie muß ihre Kräfte, muß sich
selbst in dem Gegenstand bilden, den sie interpretiert" kann man sich jene
enorm wichtige Behauptung einsichtig machen, daß Begriffe Singularitäten
sind. Das ist eine absolut unverzichtbare Position von Deleuze, ohne die ist
unmöglich zu kapieren, wie jemand einerseits darauf bestehen kann, daß die
Philosophie ausschließlich mit Begriffen zu tun hat, und anderseits
behaupten kann, ein Empirist zu sein. Aber wenn der Begriff an so einen
Interpretationsprozeß gebunden ist, dann ist es sehr wohl verständlich, daß
er die Singularität eines Ereignisses hat. (Das muß man in Kontrast sehen zu
der Auffassung von Begriff als einer allgemeinen Struktur, in der "etwas
prozessiert wird", wie etwa bei Hegel, oder ansatzweise vielleicht auch
schon bei Kant).
Und von dieser Lehre gibt es nun eine Sonderanwendung, die mich deshalb
interessiert, weil ich ein Philosoph an der Universität bin, mit einem -
zumindest teilweisen - akademischen Selbverständnis. Nämlich wenn wir
schon in Bezug auf Deleuze so einen Begriff der Interpretation ventilieren,
dann sollte sich das auch bezahlt machen dadurch, daß unser Blick schärfer
wird auf seine historisch-interpretierenden Arbeiten - die Bücher über
Kant, Hume, Spinoza, Leibniz, Foucault.
Es wäre eine Schande, wenn wir diesen Teil seines Werkes nur als eine Art
Verzierung, eine witzige Demonstration von Kunstfertigkeit und Bildung
ansehen könnten. Wir müssen das, was er selber sagt: "La philosophie est
devenir, non pas histoire" (QuPh, 59) ernst nehmen als ein Programm, das er mit
diesen Arbeiten verfolgt hat: An den Orten, wo geschrieben steht: "Geschichte
der Philosophie" soll einmal stehen: "Werden der Philosophie".
Deleuze hat gelegentlich die Geschichte der Philosophie als Machtagentur
beschreiben, eine Schule der Einschüchterung des Denkens. Dabei handelt es
sich keineswegs bloß um eine Kritik am "Ist-Zustand" einer Disziplin, die
man auch attraktiver gestalten könnte, mehr in Übereinstimmung mit den
Idealen von kreativer Phantasie, demokratischer Mitbestimmmung,
Minderheitenrechten oder dergleichen. Sondern die Kritik richtet sich direkt
gegen die Synthese, die in dem Begriff Geschichte selbst gedacht ist. Wenn
er seine eigenen Interpretationen in jenem berühmten Bild kommentiert, wo
er sich da in Rücken des Autors schleicht und ihm von hinten ein Kind macht,
und das ist ein Monstrum - dann ist ein Aspekt den wir in dieser
Monstrosität auf jeden Fall wahrnehmen müssen, das Singuläre. Das auf
einmalige Weise Abweichende. Das, was sich unter keiner Bedeutung von
Geschichte in eine Geschichte der Philosophie einfügen ließe.
und
idee
singularitaet,
differenz
und
wiederholung
Ich nehme an, ich habe jetzt, mit diesen letzten Andeutungen, Ihnen ein
bißchen deutlicher gemacht wie in mir jener Verdacht entstanden ist, daß
es nicht besonders angemessen sein kann, sich Deleuze's Kino-Arbeiten in
der Form eines Verstehens-Versuches zu nähern. Etwas Positives kann ich
dem nicht wirklich hinzufügen, und insoferne habe ich nur Vorüberlegungen
angestellt. Trotzdem halte ich es für notwendig, wenigstens am Schluß noch
gewissermaßen vorauszublicken über jene Schwelle, an der solche
Vorüberlegungen in eine tatsächliche Aktivität der philosophischen
Auseinandersetzung übergehen. Ich sehe da zwei Möglichkeiten, die Deleuze
offeriert.
Das eine wäre ein Schritt, der auf den ersten Blick nach Verallgemeinerung
aussieht. In einem kleinen Artikel über das Imaginäre (in hors-cadre, 1986,
publ. in PP, 91f.) sagt er: Die Beziehung Kino - Philosophie, das ist die von
Bild und Begriff. Aber das ist keine rein externe Beziehung, weil es schon im
Bild selbst einen "rapport" gibt mit dem Begriff: z.B. daß das Kino immer
schon ein Bild des Denkens konstruieren wollte, der Mechnismen des Denkens.
Und deswegen wird das Kino nicht abstrakt. Das gilt natürlich auch umgekehrt
(daß das Denken immer schon ein Bild entwickelt oder hat). Und nun kann
man sagen, daß es Instanzen gibt, über die diese Beziehungen - ihre internen
und externen Aspekte - vermittelt werden. Das könnte man Idee nennen, so
eine Instanz. Die aktualisiert sich mal in Bildern, mal in Begriffen, mal in
Funktionen (d.h. wissenschaftlich). Also in dieser Äußerung, da schlägt er
einen weiteren Begriff vor, der sollte so eine Art zusätzliche
Erklärungsfunktion haben.
Das ist ein harmloser und gefährlicher Vorschlag
zugleich. Gefährlich gerade wegen seiner Harmlosigkeit. Auf diesem Weg
wird man unweigerlich abrutschen, wenn man nicht sehr genau nachfragt,
was für ein Begriff ist eigentlich "Idee", zu welchem Zweck ist er erfunden
worden, was kann er wirklich?
Die andere Möglichkeit ist mir sympathischer. Sie bietet sich an, wenn man
direkt an dem Punkt weiterdenkt, wo das begriffliche Denken jenem
nietzscheanischen Prinzip der Interpretation unterworfen wird - also an
dem Punkt der "Singularisierung" der Begriffe. Wenn wir uns hier aufstellen,
an diesem Ort, dann können wir nämlich nicht so einfach eine affirmative
Ausage über das Verhältnis Kino - Philosophie machen. Wir müßten immer
mindestens zwei Aussagen machen. Nehmen wir an, wir würden folgendes
sagen (und es legt sich von meinen Vorüberlegungen her nahe, das zu sagen):
Die beiden Bücher über das Kino sind deshalb so interessant, weil sie genau
dieselbe Fähigkeit und Aktivität des Philosophen manifestieren, wie die
Bücher über Philosphie und Philosophen. Nämlich: das Werden des Denkens.
Dann müssen wir unweigerlich als nächstes sagen: Sie sind genau insofern
interessant, als sich ihnen jedesmal etwas ganz anderes, unvergleichliches
manifestiert. Deshalb nämlich, weil das Denken im Gegenstand seiner
Interpretation jedesmal auf völlig singuläre Weise einen Begriff erfindet.
Wir haben auch nicht die Möglichkeit, diese Situation so zu bereinigen, daß
wir sagen: na ja, das ist ja weiter nicht tragisch, das ist ja nur der ganz
normale Unterschied zwischen einem allgemeinen Begriff (eines
Interpretationsverfahrens etwa) und seinen konkreten, einzelnen Instanzen.
Das geht nicht, weil der Begriff selbst eine Singularität ist.
An diesem Punkt, oder von diesem Punkt aus, sehen wir uns also veranlaßt,
etwas ganz anders zu denken als einen Begriff, der durch seine
Allgemeinheit Differentes unter sich zusammenfaßt oder verteilt (so wie
das zumindest auf den ersten Blick bei der Idee aussah): hier geht es um das
Denken des Begriffes als in sich different, und um sein Komplement: das
Einzelne nicht als Instanz, sondern Wiederholung.
Wie gesagt, das ist ein Ausblick in einen Bereich, den man traditionell oder
in einem engeren Sinne philosophisch nennen würde. Und es legt sich jetzt,
nach dem Tod des Philosophen, nahe, solche Perspektiven zu vermehren und
in ihrer Anordnung eine große Einheit zu bewundern. Man sollte dem nicht
ganz unmittelbar nachgeben. Erinnern wir uns an ein paar Sätze, die er in
dem Buch über "Differenz und Wiederholung", im Zusammenhang einer
Überlegung zur modernen Kunst, geschrieben hat, und die doch auch den
charakteristischesten Impuls seiner eigenen Arbeit beschreiben: "Es genügt
nicht, die Perspektiven zu vervielfältigen, um Perspektivismus zu betreiben.
Jede Perspektive oder jeder Blickpunkt muß einem autonomen Werk
entsprechen, das einen zureichenden Sinn hat: Was zählt, ist die Divergenz
der Reihen, die Dezentrierung der Kreise, das Monster."
fn 1 zu: ENTWICKLUNG DES FILMS...
kreativer Gebrauch von Begriffen
Im Prinzip setzt Deleuze das philosophische Denken vom Denken in
Kunst und Wissenschaft immer so ab, dass es ein Denken in Begriffen
ist. Aber genau genommen ist es vor allem die Kreativitaet im
begrifflichen Denken, die die Philosophie auszeichnet.
Typisch eine Bemerkung in einem Gespraech mit Catherine Clement,
in der Zeitschrift L'ARC, nouvelle edition, No.49, bes. S.99f.:
Un peintre, c'est quelqu'un qui cree dans l'ordre des lignes et des
couleurs... Eh bien un philosophe, c'est pareil, c'est quelqu'un qui
cree dans l'ordre des concepts, quelqu'un qui invente de nouveaux
concepts.
ZURUECK
fn 2 zu: ENTWICKLUNG DES FILMS...
unbeweglicher Schnitt : Illusion der Bewegung
Man darf nicht glauben, daß dieser Umstand - "daß wir über
die Bewegungswahrnehmung gleichsam hinaussehen auf die Bewegung selbst" -
mit der Apparatur als solcher, also auf einer rein technischen Ebene, bereits
gegeben wäre. Er besteht nur in Bezug auf einen Komplex von Denken und
Apparat. Wenn man ihn augenscheinlich machen will, dann kann man etwa
auf Effekte verweisen, die mit der Mobilisierung
der Kamera einhergehen. Vgl. IM, 36.f.
ZURUECK