Methode

Wir wollen unsere Rationalität mehr in die Forschung, weniger in das Beweisen investieren. Das - so habe ich gesagt - ist die Devise, die hinter dem Begriff der Methode steckt, oder besser: hinter dem steigenden Interesse an der Methode. Man könnte auch sagen: Zwar geht es noch immer darum, die Gründe und Ursachen zu finden, aus denen man dann Beweise führen kann - aber diese Prinzipien sollen nun planmäßig gefunden werden. Bevor ich auf zwei oder drei speziellere Fragen eingehe, die in der konkreten Situation der Wissenschaftstheorie in der frühen Neuzeit mit dieser Zielsetzung verbunden waren, möchte ich etwas Allgemeineres zu dem Begriff der Methode sagen. Was ist eine Methode überhaupt?

An diesem Punkt werde ich meinen Plan für den Rest der Vorlesung ein wenig ändern. Wir haben ja vor Weihnachten verschiedene Möglichkeiten überlegt, was wir in den verbleibenden drei Stunden machen wollen, und da war neben dem Schwerpunkt Wissenschaft auch noch die Kunstphilosophie im Gespräch, aber die drei Stunden haben sich nach meiner Erkrankung auf zwei reduziert und da habe ich mich doch zu einem anderen Konzept entschlossen, und ich will Ihnen in dieser Stunde überproportional ausführlich etwas über diesen Begriff der Methode sagen, weil das doch ein Schlüsselbegriff nicht nur der Wissenschaft, sondern vor allem der Philosophie in der Neuzeit ist. Erfahrung, Methode, System - das sind drei Begriffe, die in der Philosophie seit dem 16. Jahrhundert und mit Wirkung bis heute, so ungeheuer aufgewertet worden sind, daß wir sie schon fast nicht mehr mit bestimmten Inhalten oder Motiven verbinden. Also zu dem Begriff der Methode so eine Art kleiner Exkurs heute, von dem aus wir auch noch zu ein paar anderen Themen Querverbindungen andeuten können. Und nächstes mal werden wir dann das Thema Wissenschaft abrunden.

Was ist eine Methode?

Wenn man sagt: “Ein Verfahren”, dann ist das zwar eine schöne Übersetzung des Wortes, aber inhaltlich sicher ein bisserl wenig. Doch gerade das Unbefriedigende dieser Antwort hat auch etwas Positives, etwas Richtiges an sich. Denn es handelt sich ja in der Tat um etwas ganz Allgemeines: im Grunde alles, was irgend eine beliebige Vorgehensweise zu mehr macht als einem “Vorgehen aufs Geratewohl”. Ich suche meinen Schlüssel. Und wenn ich das so mache, daß ich einfach alles, was mir unter die Hände kommt, aufmache, umdrehe, ausleere etc - na dann mache ich es aufs Geratewohl. Aber wenn ich irgendein noch so armseliges Konzept verfolge, wie zB daß ich sage: Ich fange im Vorzimmer an, weil er da am wahrscheinlichsten ist, und dann mache ich weiter mit dem Ankleidezimmer - schon da kann man sagen: ich habe eine Methode. Natürlich ist das eine extrem schwache Bedeutung. Jede Art von Struktur, die man in eine Handlungsfolge bringen kann, ist dann eine Methode. Was uns interessiert, ist insofern ein bißchen spezieller, als es ja auch um das Wissen geht, also mindestens den Zusammenhang Handlung - Wissen - Struktur. Nun ist es so, daß man auch beim Wissen selbst einen analogen Unterschied machen kann wie vorhin beim Suchen. Es gibt das Wissen, das einem nur zustößt - das man hat, weil man eben zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Platz war und gesehen hat, was sich dort abspielte. Und es gibt das strukturierte Wissen, in das man irgendwas investiert hat, zB auf der niedrigsten Ebene daß man etwas nachgeschlagen hat in einem Wörterbuch. Oder am anderen Ende der Skala dann das Wissen eines Experten. Wenn die Investition von Intelligenz absichtlich und planvoll war, dann kann man hier mit genau demselben Recht von Methode sprechen wie beim Suchen.

Zusätzlich zu diesem Parallelismus gibt es einen direkt-inhaltlichen Bezug zwischen den beiden Fällen. Die Struktur, die man in die Handlungsfolge bringt, ist umso effektiver, als sie intelligenter ist, und dh tendenziell hat sie den Charakter eines in die Handlung sozusagen “eingesenkten” Wissens. Wenn wir von der Struktur einer Handlungsfolge sprechen, dann können wir verschiedene Dinge im Auge haben: Es gibt Strukturen, die sind zwangsläufig vorgegeben durch natürliche oder andere kontingente Umstände. Also wenn ich zB im fünzigsten Stockwerk eines Gebäudes stehe und die Aufgabe ist, hinunterzugehen bis ins Erdgeschoß, dann gibt es verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, ob ich einen Lift benutzen kann und darf etc. Aber eines ist gewiß, ich muß mit dem Hinuntergehen hier im 50. Stock beginnen, ich kann damit nicht im 36. Stock beginnen. Ich muß zuerst vom 50. irgendwie zum 36. kommen, damit ich anfangen kann vom 36. in Richtung Erdgeschoß weiter zu kommen. Das ist eine zwangsweise Struktur, und das interessiert uns relativ wenig. Sehr interessant dagegen ist schon die Art von Struktur, die in einer Handlungsfolge durch Übung entsteht, in Vorgängen der Abrichtung, des Drills, oder einfach durch unbeabsichtigte Wiederholung. Also ich nehme ein relativ komplexes Beispiel, sagen wir zwei Freunde, die im Alter von vierzig Jahren beschliessen gemeinsam Tennisspielen zu lernen. Die fahren auf irgend so einen grauslichen Urlaub in einem Ferienklub wo man alles umsonst hat, da gibt es auch einen Tennistrainer, und sie nehmen gemeinsam drei oder vier Stunden. Es gefällt ihnen, und wieder zu Hause treten sie in einen Klub ein und spielen dreimal in der Woche Tennis. Und zwar spielen sie immer miteinander, die zwei Unglücksraben, und bringen sich jetzt gegenseitig das Tennis bei. Sie haben ja von ihrem Trainer die wichtigsten Sachen erklärt bekommen, das haben sie sich aufgeschrieben und gemerkt, und so verbessern sie sich gegenseitig, wenn sie einen Fehler bemerken. Nehmen wir an, das geht ein paar Monate so dahin.

Was wird da passieren? Ich sage Ihnen was da passiert, ganz realistisch: die trainieren sich ihre Fehler an, die üben Fehler. Nach zwei Monaten haben sie ihre Fehler so perfekt geübt, daß sie sie auch mit dem besten Trainer nicht mehr loswerden. Dabei haben sie aber keineswegs die Absicht gehabt, diese Fehler zu üben, sondern haben durchaus die richtigen Bewegungen lernen und einüben wollen, die Bewegungen, die ihnen der Trainer vorgemacht hat und die sie auch immer wieder bei Pete Sampras im Fernsehen beobachten. Also das, was sie faktisch eingeübt haben, haben sie keineswegs absichtlich eingeübt, aber sie haben es eingeübt, und wenn wir die Aufschlagbewegung zB des einen Freundes, sagen wir Heinz-Rüdiger, beobachten, dann sehen wir da eine sehr streng strukturierte Handlungsfolge, die leider ziemlich anders aussieht als die entsprechende Handlungsfolge von Pete Sampras. Das, würde ich sagen, ist ein Fall, wo die Struktur der Handlung durch Übung, und zwar mit einem sehr geringen Aufwand von relevanter Intelligenz zustandekommt.

Und davon sollten wir nun unterscheiden, auf einer dritten Stufe, eine Struktur, die wirklich absichtsvoll-intelligent aufgebaut worden ist. So wie es eben der Fall ist, wenn wir einen Kurs in einer guten Tennisschule besuchen, wo wir unter der Aufsicht eines geschulten Trainers üben, der ein Verständnis von den Bewegungsabläufen hat, der uns das auf die richtige Weise vermitteln kann, der uns, wie man so sagt, klarmachen kann, worauf es wirklich ankommt, wie die Haltung des Handgelenks mit der Beweglichkeit der Schulter zusammenhängt etc. Auch die besten Tennisschulen können keine Garantie geben für einen Erfolg in einer bestimmten Zeit, aber eines ist klar: Wenn man Fälle extremer Unterbegabung wegläßt, dann führt immer mehr und aufmerksameres Üben dieser Art zu immer besserem Spiel und besseren Bewegungen.

Und was ich Ihnen nun sagen will ist, daß wir wenn wir genau diese Art von Fällen ins Auge fassen, daß wir dann einen um genau eine Stufe präzisierten Begriff von Methode haben. Es gäbe an diesem Beispiel sehr viele Ansatzpunkte für interessante Vertiefungen, wir halten nur zwei Punkte fest: Einmal, was ich schon gesagt habe, daß die Struktur sozusagen intelligent gesteuert ist. Und das zweite ist die Tatsache, daß es sich bei unserem Beispiel um einen Lernvorgang handelt. Das kommt von der Art, wie ich die kleine Geschichte präsentiert habe, aber vielleicht ist es auch nicht zufällig.

Einerseits kann man natürlich von Methode in Hinblick auf die strukturierte Handlung selbst sprechen: der eine macht es so, der andere anders - der eine nach dieser Methode, der andere nach der anderen. Aber gerade wenn wir die Strukturen danach unterscheiden, ob sie auf reflektierte, intelligente Weise zustande gebracht worden sind, gerade dann werden wir sagen: Die Methode, wie er oder sie es macht ist vor allem bestimmt durch die Methode, die Art, wie er oder sie es gelernt hat. Man macht es so, wie man es gelernt hat - aber wenn man es gar nicht methodisch im Sinne der kompetenten Schulung gelernt hat, dann sagen wir manchmal: “Da ist beim besten Willen keine Methode erkennbar”, obwohl ja bekanntlich gerade beim Tennis in solchen Fällen die Charakteristik und die Wiederholbarkeit so einer unglücklichen Bewegung sehr hoch ist. Das ist genau dieser engere oder präzisere Sinn, den ich gemeint habe. Mit einem Wort, das Methodische an einer Sache (in diesem Sinn) hat immer etwas mit dem Erlernen dieser Sache zu tun, und zwar mit den intelligenten Komponenten dieses Lernens. Und wenn wir jetzt noch ein wenig genauer hinschauen, dann sehen wir, daß diese Komponenten über den sog “geschulten Lehrer oder Trainer” transportiert werden. In dem, was dieser Trainer sagt, vermittelt, eben: “transportiert”, ist das Spezifische der Methode am objektivsten faßbar.

In diesem Zusammenhang von Handlungskompetenz, Wissen und Lehrbarkeit ist bei Plato der Begriff Methode zum ersten Mal einigermaßen konturiert. Das, was den Übergang von einer Fertigkeit zu einer Kunst ausmacht. Und das ist vor allem, daß man weiß, daß man erklären und begründen, und daß man auch lehren kann, was man tut. Ich bringe da immer das Beispiel mit den Köchinnen, das ist stark an Plato angelehnt:

Die Geschichte ist die, daß es in der Familie meines Vaters eine böhmische Köchin gegeben hat, die nach allen Berichten über ganz außerordentliche Fähigkeiten verfügt hat, aber nicht in der Lage war, dieses Wissen an meine Großmutter weiterzuvermitteln; wenn man sie gefragt hat, wie dieses oder jenes eigentlich geht, dann hat sie angeblich immer gesagt, Na ja das mach' ich dann halt immer so wie die Tante Finni oder dergleichen; während in der Familie meiner Frau irgendwann einmal eine böhmische Köchin mit ähnlichen Fähigkeiten existiert hat, die ihr Wissen auch darstellen und lehrend weitergeben konnte, und irgendein Familienmitglied hat dann einmal ein Heft angelegt mit den wichtigsten Rezepten etc. So einen Unterschied geben wir wieder indem wir sagen: Die erste Köchin war zwar vielleicht genial, aber dumm, während die andere war genau so genial und außerdem hat sie noch eine gewisse Mindestintelligenz gehabt oder dgl. Plato hat an diesem Punkt den Unterschied gemacht zwischen Fertigkeit und Kunst.

Beachten Sie bitte, daß hier die Lehre, die Lehrbarkeit sozusagen am anderen Ende wieder vorkommt, jetzt nämlich nicht als Voraussetzung der Kompetenz, sondern als integrierender Bestandteil der Kompetenz selbst. Man kann von dem Unterschied in der Position natürlich abstrahieren, in gewisser Weise ist ja das, was ich als gelehriger Schüler meines Lehrers eines Tages werde weitergeben können genau das, was er oder sie mir gegeben hat. Wenn man diese Abstraktion vornimmt, dann kann man schon fast eine Definition riskieren und sagen: Mit dem Methodischen an einer Sache (einer Handlungsweise) meint man genau das Lehrbare an ihr. Eine Kunst im antiken Verständnis ist nichts anderes als eine intelligent und planvoll optimierte Fertigkeit, und das bedeutet dasselbe wie: Eine methodisch strukturierte Fertigkeit. Und das wieder bedeutet nichts anderes als: Eine Fertigkeit auf dem Niveau der Lehrbarkeit. Und so verstehen wir, daß in diesem antiken Verständnis eine Kunst fast schon definitionsgemäß etwas ist, was man in einer Schule lernt.

Wie gesagt, ich habe das schon indirekt angedeutet, das ist eine erste Präzisierung des Begriffes Methode, noch keineswegs eine endgültige. Aber es ist ein grundlegendes Syndrom, und ich unterstreiche daher noch einmal den wesentlichsten Punkt.

Lernvorgänge ganz im Allgemeinen sind Erfahrungsprozesse, und insofern durchläuft der jeweilige Schüler einen Weg vom Nichtwissen zum Wissen, den auch der Lehrer einmal durchlaufen hat. Daher, könnte man sagen, ist der Unterschied zwischen ihnen nur akzidentell. Aber mit dem Begriff “Methode” wird ausdrücklich auf die Asymmetrie reflektiert, auf die eigentümliche zusätzliche Qualität, die die systematische Intervention eines Lehrers darstellt, und die nichts anderes ist als die Optimierung des Lernvorganges. Wir können jetzt weiterfragen nach den spezifischen Kompetenzen des Lehrers selbst in genau dieser Hinsicht - also nicht hinsichtlich dessen, was beide, Lehrer und Schüler dann gleich gut können werden, Tennisspielen zB, sondern hinsichtlich der Optimierung des Lernvorganges selbst. Und da gibt es bei Plato einige ziemlich aufschlußreiche Hinweise, da geht es um solche Dinge wie die Fähigkeit, den Gegenstandsbereich oder die Aufgabe (“das Wissenswerte”) zu gliedern, die Elemente in eine Reihenfolge zu bringen, Grund - Folge - Beziehungen herzustellen etc. Diese Begriffe - Gliederung, Serielle Anordnung, Ursächlichkeiten - bilden sich in drei verschiedenen Dimensionen ab: Erstens sind das Kompetenzen des Lehrers, mit denen er sein (persönliches) Wissen in eine Form bringt. Zweitens sind es Parameter, in denen der Lernprozeß des Schülers optimiert wird. Also der Lehrer stellt dem Schüler nicht nur sein Wissen in gegliederter und sinnvoll angeordneter Form zur Verfügung, sondern er achtet vor allem darauf, daß der Schüler eine gewisse Haltung in der Aneignung dieses Wissens erwirbt, der Lehrer gestaltet den Lernprozeß. Und drittens sind das aber auch Kategorien oder Dimensionen, in denen man das Wissen als solches formen, sozusagen standardisieren kann. Und hier kommen wir auf eine neue, zusätzliche Komplikation.

Wir können uns vorstellen, daß wir genau dieses sog “Wissen als solches”, den Inhalt, den der Lehrer dem Schüler mitteilt, von der ganzen Situation abstrahieren. Also wir vergessen den Lehrer, den Schüler und all das Drumherum, und schauen jetzt nur auf den Inhalt, der da weitergegeben wird, allerdings nicht im Sinne einer bloßen Aufzählung, sondern in einer solchen gegliederten Form, in der Form eines sog “folgerichtigen Aufbaues” - was immer das jetzt genauer heißen mag, da mögen auch durchaus Alternativen oder unvereinbare Lösungen dafür möglich sein, das ist jetzt nicht wichtig. Also wir können das ein Wissen als “abstrakte Struktur” nennen. Das ist dann eine Wissenschaft, ein ganz bestimmter und sehr wichtiger Aspekt von dem was wir eine Wissenschaft nennen. Ich glaube, Aristoteles war der erste, der Wissenschaft konsequent unter diesem Gesichtspunkt gesehen hat - als ein System von Sätzen, die in völlig abstrakten Beziehungen zueinander stehen. Wissenschaft, so gesehen, ist eine Abstraktion von einer Kunst. Und das, was sie nicht mehr hat von der entsprechenden Kunst, das ist vor allem das praktische Element der Fertigkeit, und damit auch der Methode. Ich meine: unter der Methode selbst haben wir schon das intelligente, strukturgebende Element in einer Kunst verstanden. Aber wenn wir nun noch einen Schritt weiter gehen und diese Struktur von dem Bereich des Handelns, der Gewohnheit etc wegverlagern in den Bereich bloßer logisch-sprachlicher Beziehungen, dann ist es auch nicht mehr Methode. (Sondern eben Logik).

Das ist ein Abstraktionsschritt, und noch dazu sicher einer der wichtigsten, die man in der Ideen- oder Geistesgeschichte lokalisieren kann. Aber: Auch ein Abstraktionsschritt muß, wenn er wirklich folgenreich sein soll, konkret vollzogen werden. Die abstraktere Vorstellung von Wissenschaft, die mit Aristoteles aufkommt, hätte zB gar nie aufkommen oder sich durchsetzen können ohne die Schriftlichkeit. Denn sie setzt ja voraus daß etwas als konstant erfahren und in Anspruch genommen werden kann jenseits seiner Repräsentation in der Handlungsweise oder der Haltung eines Individuums. Nun, was ist die Sprache jenseits der Aktivität und der Kompetenz eines Individuums, wie kann sich die Sprache erhalten jenseits der Aktivität von Individuen? Als Schrift. Also das war jetzt nur eine kleine Nebenbemerkung, obwohl es noch viel zu sagen gäbe in dieser Richtung.

Ich hoffe, Sie können sehen, daß es hier mit diesen Begriffen vor allem um Akzentverlagerungen geht, aber deswegen sind es keine Nebensächlichkeiten. Sie können außerordentlich folgenreich sein in der realen geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaften. Wir rekapitulieren also:

Wenn wir den Begriff “Wissenschaft” festhalten, dann können wir mit den Begriffen “Logik” und “Methode” jeweils verschiedene Akzente setzen. Und zwar geht es da genau um diesen letzten Abstraktionsschritt, der die Struktur von der gewissermaßen lebendigen Intelligenz wegverlagert in die Sprache als solche. Es ist ganz klar, daß wenn wir diesen Schritt machen, daß dann so ein Unterschied wie der zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden ausgelöscht ist. Das ist zwar ein Unterschied, der sozusagen eine “genetische Bedingung der Möglichkeit” jener Abstraktion ist, aber er ist nach ihrem Vollzug nicht mehr wahrnehmbar. Hingegen in Bezug auf den Begriff “Methode” ist er noch wahrnehmbar. Das heißt vor allem, daß wir mehrere Begriffsoppositionen haben, die hier ineinanderspielen und gar nicht eindeutig einer Super-Dualität untergeordnet werden können. Neben dem Paar Logik/Methode haben wir noch das Paar Lehren/Lernen und schließlich das Paar Finden/Beweisen.

Daß die nicht alle in eine fixe Ordnung gebracht werden können, erkennen Sie zB daran, daß wenn wir die Methode der bloßen Übung gegenüberstellen, wie ich das in meinen Beispielen getan habe, dann ist sie die Repräsentantin der Lehre oder Lehrbarkeit; wenn wir sie aber der Logik gegenüberstellen, dann wird sie fast zwangsläufig zu einer Repräsentantin des Lernens: Die Wissenschaft, als eine abstrakt strukturierte Ganzheit betrachtet, schlüpft automatisch in die Rolle des großen Lehrers; und die Methode hat dann hauptsächlich zwei Aufgabengebiete, die auf den ersten Blick recht verschieden ausschauen: Einerseits fällt ihr der Bereich des Lernens im Sinne des Findens der Inhalte zu; anderseits aber natürlich auch des Lernens im Sinne des Zugangs zur Wissenschaft, der Einübung in jene Abstraktion. Hier, unter dieser Perspektive, müßte man dann übrigens den Begriff der Didaktik ins Spiel bringen.

Alle diese Unterscheidungen, und überhaupt diese ganze Sache kommt Ihnen vielleicht ein bißchen komisch vor, daß man da darüber nachdenkt. Aber ich sage Ihnen, das ist alles andere als nebensächlich oder unwichtig, das sind Unterscheidungen und Gewichtungen über die im 16. und 17. Jahrhundert Entscheidungen getroffen worden sind, die auch noch heute unsere Lebenswelt total prägen. Die Wissenschaft ist in dieser Zeit als ein Lernprozeß mit einer ganz besonderen Struktur institutionalisiert worden, und das ist ein Vorgang, der alle Systeme der Gesellschaft involviert hat, aber natürlich vor allem und mit der höchsten Wichtigkeit alle Systeme, die irgendwie mit Bildung, Erziehung, Wissen etc zu tun haben. Also zurück zur Sache: Je nachdem, in welcher Richtung wir uns orientieren oder den Gegensatz betonen wollen, kann die Methode als Funktion des Lehrens oder des Lernens erscheinen. Wenn wir sie zur Logik in Gegensatz bringen, dann ordnet sich zum Lernen freilich auch von selbst das Finden dazu. Und das ist die Achse, die in der Renaissance zunächst einmal die entscheidende Rolle spielt. Wenn ich von der Parole “Methode statt Logik” gesprochen habe, dann heißt das: Lernen und Finden statt Lehren und Beweisen.

Spezielle Fragen der Wissenschaftlichen Methodologie

Aber Sie werden gleich sehen, daß es doch wichtig war, die feineren Unterscheidungen im Hintergrund wenigstens anzudeuten. Daß die Struktur, die in der Wissenschafts-Logik erfaßt wird, primär eine Abstraktion von etwas ist, was auch schon die Methode prägt, spielt eine immense Rolle, wenn es darum geht, konkrete Aussagen über den wissenschaftlichen Prozeß zu machen. Gliederung, Serielle Anordnung, Ursächlichkeiten - diese drei Kompetenzen haben wir hervorgehoben an dem besonderen Input, der von der Seite der Lehre in einen Lernprozeß kommt. Und dann habe ich gesagt: das sind aber auch zugleich wesentliche Dimensionen, in denen man sich die abstrakte, rein sprachliche Strukturierung eines Wissens vorzustellen hat. Wenn Sie eine Wissenschaft beschreiben, wie sieht das aus? Da sagt man zunächst, um welchen Gegenstand es sich handelt, dann sagt man ob und welche Arten es von diesem Gegenstand gibt, dann stellt man fest, ob dieser Gegenstand bestimmte Teile mit Notwendigkeit hat und dann stellt man noch einmal Unterarten fest und dann beschreibt man Beziehungen zwischen Teilen und Arten etc. Machen wir ein Mini-Modell.

In unserer Wissenschaft befassen wir uns mit einem Gegenstand A. Ein Gegenstand A besteht typischerweise aus den Teilen 1, 2, 3, 4, und 5. Dabei kommt es manchmal vor, daß Teil 3 oder 4 fehlt, aber nie beide zugleich und nie einer von den anderen. Wir könnten nun schon die Gegenstände A einteilen in A12345, A1245, A1235. Es könnte jedoch sein, daß unter irgendeinem anderen Gesichtspunkt, sagen wir dem Gesichtspunkt der Funktion, sich herausstellt, daß die Gegenstände A12345 von den Gegenständen A1245 gar nicht unterscheidbar sind; so gesehen würde man dann nur zwei Unterarten unterscheiden, die man A4 und A0 nennen könnte, weil eben nur die ohne den Teil 4 sich anders verhalten. Als nächstes könnte man zu fragen anfangen, worauf dieser funktionelle Unterschied eigentlich beruht, und man würde vielleicht die Teile weiter analysieren etc. Aber nicht nur Teile, sondern auch andere Elemente, die in den Beschreibungen auftauchen, zB bestimmte Abhängigkeiten, können Grund für alternative Einteilungen sein. Denken Sie daran, wie man in der Geometrie durch Gleichungen Kurven beschreibt, da sind die wesentlichen Kriterien Eigenschaften von Funktionen. Wir wollen uns aber keine weiteren Einzelheiten vorstellen. Worauf es mir im Augenblick ankommt ist, daß Sie hier einen ganz speziellen Aspekt von dem realisiert sehen, was man “Struktur einer Wissenschaft” nennen könnte: Es wird ein Überblick gegeben, und so einen Überblick zu haben, sich da auszukennen, das heißt in gewissem Sinne durchaus diese Wissenschaft zu kennen. Außerdem ist die Möglichkeit, so einen Überblick herzustellen, fast so etwas wie eine notwendige Bedingung der Wissenschaftlichkeit: Von den Bereichen, in denen es nicht möglich ist sagt man ja auch: Dieses Gebiet, diese Frage ist noch nicht wissenschaftlich erschlossen.

Also das wollen wir einmal festhalten, diese Vorstellung eines Überblicks, oder einer Einteilung oder Disposition. Es ist aber leicht zu sehen, daß das allein nicht den Sinn von Struktur wiedergibt, den man eigentlich mit dem Begriff der Wissenschaft anzielt. So ein Überblick zeigt ja erst recht wieder nur “wie es sich mit den Sachen verhält” ( wenn auch aus einer anderen Perspektive natürlich, als es sich der unreflektierten Erfahrung zeigt); in der Wissenschaft soll aber doch vor allem gezeigt werden, daß es sich mit gewissen Sachen gar nicht anders verhalten kann, als so und so, daß gewisse Sachen unter gewissen Voraussetzungen so sein müssen. Durch derartige Überlegungen ist man letztlich auch zu der überblicksartigen Einteilung gekommen, nur kann man die aus ihr nicht mehr entnehmen. Also gehört zur Struktur einer Wissenschaft neben dem Darstellungsaspekt noch der Begründungsaspekt. Warum schwimmt ein Stück Styropor, das drei Kilo wiegt, auf dem Wasser, und ein kleines Kugerl aus Gold, das 20 dag wiegt, geht unter? Und warum, wenn ich das Goldkugerl plattwalze und in die Form eines flachen chips bringe und vorsichtig auf die Wasseroberfläche lege, geht es dann erst recht wieder nicht unter? Diese Fragen müssen zuerst beantwortet werden, und sie müssen auf die richtige Weise beantwortet werden, damit wir in unsere Einteilung die passenden Begriffe überhaupt eintragen können. Mit den Begriffen Gewicht und Form allein zB werden wir nicht auskommen. Wir brauchen den Begriff des spezifischen Gewichts, und dann müssen wir so weit kommen, daß wir sagen können: “Wenn ein Körper ein bestimmtes spezifisches Gewicht hat, dann geht er unter. Basta” oder daß wir sagen können: “Wenn ein Körper schwimmt, dann ist klar, daß sein spezifisches Gewicht keinesfalls höher ist als das von Wasser” ( vorausgesetzt, daß es sich um Wasser handelt). Hier gibt es noch immer mindestens zwei sehr wichtige offene Fragen, nämlich erstens wie diese beiden Behauptungen sich zueinander verhalten, und zweitens, was wir mit dem Gold machen sollen, das in die Form eines chips gebracht wurde. Aber davon rede ich jetzt gar nicht, sondern allein von dem spezifischen Gewicht als solchen, und daß das als Grund erkannt worden ist. Das funktioniert auf eine ganz andere Weise, als man einer Einteilung entnehmen kann. ZB funktioniert es auf keinen Fall so, daß man die Gewichte einteilt in absolute und spezifische. Das ist eine völlig irrsinnige Idee; genau so irrsinnig ist es natürlich, die Gewichte einzuteilen in solche von drei Kilo, von vier Kilo etc. Es ist auch nicht besser sie einzuteilen in leichtere und schwerere. Alles das, was man da erreichen will, wird auf ganz andere Weise erreicht.

Also wir halten, ohne daß wir uns da jetzt wirklich darum kümmern, fest, daß es eine Begründungsordnung gibt in der Wissenschaft, die letztlich auch die Basis der Darstellungsordnung abgibt. Wir könnten den Begriff “Argument” in Gebrauch nehmen um das bündig festzuhalten: die eigentlich wissenschaftliche Struktur ist argumentativ, nicht rein bildlich. Ich glaube, das ist plastisch genug. In der Wissenschaft sind nicht so sehr Begriffe miteinander verknüpft in Tableaus, sondern Sätze, und zwar in logischen Beziehungen. Die legen fest, was woraus folgt und was nicht. Und nun kommen wir zu einem subtilen aber sehr wichtigen Punkt. Es macht nämlich einen gewaltigen Unterschied, ob man glaubt, daß die logischen Beziehungen als solche immer von derselben Art sind, egal ob wir jetzt die Beweise einer Wissenschaft oder die Methode der Forschung hernehmen - oder ob man glaubt, daß die Logik der Forschung eine andere ist als die des Beweisens. In dieser Hinsicht hat sich im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts eine deutliche Entwicklung zugunsten der zweiten Auffassung vollzogen. Descartes zB war der Auffassung, daß die Logik des Forschens eine andere ist als die des Beweisens, daß sie aber darüber hinaus auch das einzige Interessante ist, und daß man sich daher im Grunde überhaupt sparen kann von einer Logik zu sprechen, es genügt die Methode der Forschung als solche zu beherrschen. Viele Autoren des 16. Jahrhunderts haben das nicht so gesehen, sondern waren eher der Auffassung, daß Forschung zwar etwas anderes ist als Beweisen, aber daß beide sich ein und derselben Logik bedienen, nämlich der aristotelischen Logik, der Syllogistik. Wenn man das so sieht, ergibt sich die interessante Frage, ob man die Unterschiede überhaupt allgemein beschreiben kann.