Vorlesung 11. Wissenschaft

Inhalt
Erfahrung
Methode

Wir haben in der letzten Stunde vor Weihnachten begonnen, über Wissenschaft zu sprechen. Wir waren dahin gekommen von Überlegungen zu den Begriffen Beweis und Definition bei Nizolio. Ich habe gesagt, ich möchte zu vier Stichwörtern etwas sagen: Erfahrung, Methode, Mathematisierung, Experiment. Ich habe schon begonnen mit dem Wort “Erfahrung”.

Erfahrung

Der Punkt, den ich bereits gemacht habe betrifft die “Spezifität” der Erfahrung. Sie erinnern sich, ich habe gesagt: In der Antike ist die Erfahrung, die man mit einer Art von Dingen hat, ganz etwas anderes als die, die man mit einer anderen Art von Ding hat oder macht. In der Neuzeit hingegen wird Erfahrung “vergleichlich”. Wenn wir das Wort “Erfahrungswissenschaft” verwenden meinen wir damit etwas, was auf total verschiedene Wissenschaften seine Anwendung findet - Physik, Soziologie etc. Wie es dazu kam, daß der Erfahrungsbegriff diese zusätzliche Prägung erhalten hat, das untersuche ich jetzt nicht; es ist eine sehr komplizierte Sache, die ihre philosophischen, wissenschaftstheoretischen, psychologischen und wohl auch technologiegeschichtlichen Dimensionen hat. Ich möchte stattdessen in ähnlicher Unverbindlichkeit noch auf einen anderen wichtigen Unterschied hinweisen.

Sehen Sie, ich habe letztes Mal ja gesagt, daß man auf keinen Fall so naiv sein darf, etwa den Galilei als Empiristen dem Aristoteles als einem Rationalisten avant la lettre gegenüberzustellen. Aristoteles ist selbst ein Empirist gewesen, habe ich gesagt. Aber auf der anderen Seite, als wir über Nizolio sprachen, ist doch zum Ausdruck gekommen, daß nach der Auffassung des Aristoteles die Wissenschaft überhaupt nicht so sehr mit der Erweiterung des Wissens zu tun hat, sondern mehr mit der Erklärung oder dem Beweisen aus bereits bekannten Gründen - und das ist sicher nicht Empirismus. Hier sollten wir noch ein bißchen klarer sehen, und die Sache hat natürlich zu tun mit der gegenseitigen Stellung von Erfahrung, Theorie und Wissenschaft.

Im Prinzip läßt sich das, was wie ein Widerspruch in jener Beschreibung des Aristoteles aussieht, leicht auflösen: Es stimmt schon, daß für ihn die eigentlich wissenschaftliche Aktivität nicht das Erforschen, sondern das Beweisen ist. Aber Beweisen heißt eben, etwas auf allgemeine Gründe zurück beziehen zu können, und damit wird immer die Frage verbunden sein, wie man zu deren Kenntnis gelangt. Und da lautet die Antwort: Durch Erfahrung. Ich meine, natürlich ist das eine hoch komplexe Sache, auf keinen Fall ist gemeint, daß man vierzehn Stunden Erfahrung macht mit einer Sache, und dann knallt's einem die allgemeinen Gründe ins Hirn. So ist das ganz und gar nicht, man kann ein ganzes Leben Erfahrung mit einer gewissen Sache sammeln und auf diese Weise auch sehr kundig werden - und doch keinerlei Einsicht in die allgemeinen Grundlagen des Gebietes haben, um das es sich handelt. Also es spielt noch etwas anderes mit in diesem Prozeß, in dem man zu der Kenntnis der Grundlagen kommt - eine Aktivität der Analyse, der Vertiefung und Strukturierung, das ist etwas durchaus Philosophisches übrigens, nach der Auffassung des Aristoteles. Doch das Entscheidende bleibt die Erfahrung. Erfahrung führt uns zu den allgemeinen Gründen, und insofern ist Aristoteles Empirist - aber dieser Prozeß läuft ab, bevor die Wissenschaft beginnt. Er ist eine absolut notwendige Voraussetzung der Wissenschaft, aber nicht die Wissenschaft selbst. Wenn die Erfahrung gemacht ist, und wenn noch ein Prozeß der Klärung und Analyse dieser Erfahrung stattgefunden hat, dann erst geht es mit der Wissenschaft los. Die Aufgabe der Wissenschaft im strengen Sinn ist zwar nicht die Forschung, aber der Ursprung der wissenschaftlichen Grundsätze ist immer die Erfahrung - es hat keinen Sinn, von wissenschaftlichen Grundsätzen eines bestimmten Gebietes zu reden, die nicht aus der auf diesem Gebiet gemachten Erfahrung gewonnen wären.

Insofern war es durchaus berechtigt, daß ich auch Galilei gegenüber, oder überhaupt der ganzen neuzeitlichen Philosophie gegenüber, Aristoteles einen Empiristen genannt habe. Denn auch in der Neuzeit wird das Wort ja so verwendet, daß es sagt, welche Auffassung jemand von dem Ursprung der Prinzipien hat.

Drastische Unterschiede gibt es aber in der Tat hinsichtlich der Stellung von Erfahrung und Theorie. Ein Aspekt ist, daß in der Neuzeit eben diese Trennung aufgehoben wird, dieses Nacheinander. Man könnte es so ausdrücken, daß die Neuzeit eine Logik will für die Erfahrung selbst, nicht für das Beweisen. Sie will Rationalität, das Maximum von Rationalität, investieren in den Prozeß des Findens, des Erweiterns von Wissen. Und diese Rationalität heißt dann, vor allem im 16. Jahrhundert, nicht mehr so sehr Logik, sondern immer öfter Methode.

Der andere Aspekt betrifft den Begriff der Erfahrung noch unmittelbarer. In der Neuzeit, in der neuzeitlichen Wissenschaft, ist etwas ganz Entscheidendes die provozierte Erfahrung - eine Erfahrung, die man nur macht, weil die Theorie danach verlangt. Eine Erfahrung, die man gar nicht machen kann, wenn man sich nur einfach immer genauer und intensiver auf eine bestimmte Art von Dingen oder Phänomenen einläßt, sondern die man erst macht, wenn man den natürlichen Zusammenhang und Ablauf der Dinge absichtlich und auf kontrollierte Weise unterbricht; wenn man ihnen Fragen stellt, denen sie von ihrer eigenen Natur her nie konfrontiert wären. Das hat es in der Antike nicht gegeben.

Dh, die griechische Naturforschung macht keinen wirklich systematischen Gebrauch des Experiments. Es gibt zwar das Experiment im Sinne des augenfälligen Beweisstücks für eine Hypothese, und es gibt auch auf der anderen Seite ein handwerkliches Experimentieren in Bereichen wie dem Bau von Kriegsmaschinen oder Theatermaschinen oder Heizungsanlagen. Aber zwei wesentliche Dinge gibt es nicht: Erfahrung als künstlich angestellte Provokation der Natur - das wäre pervers erschienen, daß ein Wissen von den natürlichen Vorgängen nur um den Preis zu haben ist, daß man genau ihre Natürlichkeit stört. Und das andere: Daß eine Erfahrung eine Theorie als ganze testet. Daß man von einer theoretischen Konstruktion her fragt nach einer Erfahrung, die diese Konstruktion in ihrer Gesamtheit bestätigt oder widerlegt. Diese Isolierung oder Vereinzelung der Erfahrung in einem crucial experiment.

Sie sehen, diese allgemeinen Gedanken zum Begriff Erfahrung führen schon von selbst auf die weiteren Punkte Methode und Experiment.