Vorlesung 7. Humanismus II (Inhalte)

Inhalt
1. Fächerkanon
2. Verweltlichung
3. Das Medium der Sprache

Wir haben vorige Woche begonnen über den Humanismus zu sprechen, und ich bin stehengeblieben bei dem Punkt Inhalte. Ich habe bezüglich der Inhalte drei Dimensionen unterschieden: Fächerkanon, Tendenz der Verweltlichung, und Medium (Sprache). Wir waren noch bei der ersten dieser Dimensionen.

1. Fächerkanon

Wir haben über die studia humanitatis gesprochen, daß sie konzentriert sind auf Grammatik, Poesie, Geschichte, Moralphilosophie. Dann, am Beispiel des Ruhmes, habe ich auf die besondere Bedeutung des Literarischen hingewiesen.

Aber diesen Kanon muß man auch in seinen Abweichungen vom Überkommenen verstehen, also etwa von dem System der sieben freien Künste: Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik. (Das sind traditionell die möglichen Bildungsziele eines freien Mannes). Ein zweiter Kontrast besteht gegenüber den an den Universitäten gelehrten Fächern: Medizin, Theologie, Jus, und in der Philosophie insbesondere: Naturphilosophie, Moralphilosophie, Logik. Die Abgrenzung gegen alle diese Fächer ist interessant. Das ist nämlich nicht einfach so, daß die alle in gleicher Weise einfach draußen bleiben aus dem humanistischen Programm, sondern die Abgrenzungen haben verschiedenen Charakter in verschiedenen Richtungen. Teilweise sind sie gar nicht rigid, teilweise polemisch.

Also da gibt es einmal die Gruppe Naturphilosophie, Medizin, Logik und eventuell auch Metaphysik. Die sind Gegenstand polemischer Ausgrenzung, dh wir finden Humanisten die sagen: Diese Fächer gehören überhaupt nicht in den Kanon höherer Bildung. Die höhere Bildung hat letztlich nur mit Sittlichkeit zu tun, und die Sittlichkeit ist etwas, was über dem bloß Natürlichen steht; die Kenntnis der natürlichen Prozesse und Gegebenheiten ist daher zwar vielleicht nützlich und brauchbar, aber nicht Teil der eigentlichen Bildung. Solche Argumente werden auch gegen die Medizin vorgebracht. Da gab es bittere Auseinandersetzungen zwischen Humanisten und Aristotelikern. Salutati, Anfang des 15. Jh., hat gegen die Logik alle Register der anti-aristotelischen Polemik gezogen. Allerdings handelt es sich hier direkt darum, einer Disziplin ihr Sachgebiet wegzunehmen, und neu zu besetzen, nämlich durch eine philosophische Rhetorik. Auf diesen Punkt werden wir bei anderer Gelegenheit noch gründlich eingehen, wenn wir eine Schicht tiefer gelangt sind. Ich lese Ihnen eine Stelle vor, die Übersetzung ist aus dem Buch von Garin über den Humanismus, lockere Zitate aus einem Werk Salutatis, De nobilitate legum et medicinae:

Ziel der Spekulation ist das Wissen, dessen Gegenstand das Wahre ist. Ziel der Gesetze ist die Regelung der menschlichen Handlungen. Ihr Gegenstand ist also das Wohl, und zwar nicht irgendein beliebiges Wohl, sondern das wahrhaft göttliche Wohl der menschlichen Gemeinschaft. ...

Die Gesetze besitzen die Unfehlbarkeit der menschlichen Kundgebung und enthalten in sich die natürliche Vernunft, die jeder mit gesundem Verstand begabte Mensch sieht und durch Nachdenken und Diskutieren zu finden vermag. Dagegen sind die Prinzipien der Medizin, wenn die Erfahrung versagt, ungewiß und täuschend, und entbehren jener allgemeinen Vernunft.

Das wäre also die eine Art der Abrenzung, die polemische.

Dann gibt es zweitens die relativ neutrale Beziehung zu Arithmetik und Geometrie. Das bleibt einfach draußen, wenn man von einzelnen wichtigen Entwicklungen absieht, wie etwa dem sog “mathematischen Humanismus” in Padua.

Drittens gibt es durchlässige Grenzen gegenüber Rechtswissenschaft, Theologie, Musik, Astronomie. Die Theologie ist am einfachsten zu behandeln, denn das kann ja keine wahrhafte Ausgrenzung bleiben, wie wir schon bei Ficino gesehen haben. Mit dem Recht gibt es sowieso einen starken Zusammenhang, das haben wir soeben der Stelle bei Salutati entnehmen können. Das Recht ist ein Hauptgebiet, auf dem sich der Humanismus bewährt. Was die Musik betrifft, so gibt es viel interessante positive Effekte, auf die wir nicht eingehen können, insbesondere über Ficino wäre zu reden. Vielleicht später im Semester. Und ein eigener und besonders wichtiger Fall ist die Astronomie und Astrologie. Da ist nämlich der Punkt getroffen, wo der Humanismus in gewisser Weise die Entscheidung gesucht hat über sein Bildungsprogramm: die Astrologie war der Platz, wo die Diskussion um die Gegenbegriffe von “fatum” und Menschenwürde bzw Freiheit ausgetragen wurde. Da gibt es dann unglaublich verzwickte Positionen, zB bei Pico von Mirandola, aber darauf werden wir vielleicht eingehen, wenn wir über Wissenschaft und über Magie sprechen.

Wenn wir diese Abgrenzungen einmal zur Kenntnis genommen haben, dann interessiert uns natürlich besonders die Moralphilosophie. Was wurde da vertreten oder gelehrt. Zuerst muß man berücksichtigen, daß die Moralphilosophie ganz anders plaziert war als dann später bei einem Autor wie etwa Kant. Da ist sie Teil eines philosophischen Systems, dh ihr Platz ist bestimmt durch Relationen zur Ontologie, zur Naturphilosophie, zur Logik. Bei den Humanisten steht sie dagegen in einem Kontinuum mit Dichtung und Geschichte. Sie ist keine Wissenschaft. Dichter sind Morallehrer, Geschichtsschreiber sind beides: Dichter und Moralisten. Also in dem Bereich der sog Moralistik oder Sentenzenliteratur, wo es um Verhaltensregeln, um Lebensweisheit etc geht, da ist die eigentliche philosophische Ethik, die Frage nach Prinzipien also, nur ein Teil. In diesem speziellen Bereich freilich gilt, das ist sehr wichtig, die Ethik des Aristoteles nach wie vor als zentral. Auch für Leute gilt das, die alles andere als Aristoteliker sind. Mitten in der Platonischen Renaissance gibt es einige neue Kommentare zur Nikomachischen Ethik, Bruni zB hat auch die Nikomachische Ethik übersetzt. Freilich gibt es auch noch andere Einflüsse, Epikur etwa. Aber wenn wir nicht ins historische Detail gehen, sondern uns einen groben Überblick verschaffen wollen, dann würde ich sagen sind folgende Aspekte interessant:

Man hat von verschiedenen Seiten her versucht, so etwas wie systematische Grundzüge einer Ethik der Renaissance zu erfassen. Man hat es probiert mit dem Schlüsselbegriff des Individualismus, oder mit dem Freiheitsbegriff, mit dem Begriff der Tugend etc. Natürlich ist kein solcher Ansatz (ein Beispiel wäre das Buch von Agnes Heller[1]) je falsifiziert worden. Aber zur Verifizierung hat man auch immer nur Konglomerate von Ideen nehmen können, die einen konkurrierenden Ansatz genau so plausibel machen können.

[1] Der Mensch der Renaissance

Ich möchte auf etwas eingehen, was zu diesen Versuchen quer liegt, und was aber doch, zumindest aus unserer späteren Sicht, eine Besonderheit ausmacht. Also das ist nicht ein Prinzip, aus dem heraus wir die ganze Moralphilosophie der Renaissance verstehen wollen, das einfach etwas, was sich mehr oder weniger auffällig hindurchzieht und für uns interessant, weil nicht selbverständlich ist.

Lebensformen

In einem hohen Maß werden in der Renaissance ethische Fragen als Fragen der Wahl und der Konsequenz von Lebensformen behandelt. Eine universalistische Willensethik modernen Typs zB baut auf Anwendbarkeit in jeder von einer unbegrenzten Vielzahl von Lebensformen, da verschwindet das Problem sofort. Oder auf der anderen Seite müßte man ja gar nicht akzeptieren, daß Lebensformen überhaupt Entscheidungsgegenstand sind, weil sie einfach zu umfassend sind, als daß wir als Individuen oder vielleicht sogar als Gemeinschaft zu ihnen überhaupt Stellung beziehen könnten[2]. Oder wieder aus einer anderen Sicht könnte man der Auffassung sein, daß die Lebensform sozusagen zu wenig hoch greift, daß die moralische Entscheidung noch vor einer höheren Instanz als dem Leben verantwortet werden muß, und daß zB das gescheiterte Leben moralisch wertvoller sein kann als das sog gelungene. Natürlich, da gibt es ein großes Feld für Kasuistik, terminologische Bereinigung und Kompromisse, aber zunächst mal geht es um prinzipielle Akzente.

[2] Spengler, Spranger, Wittgenstein

Auch den Humanisten der Renaissance war klar, daß zwischen der Wahl einer Lebensform und dem Glücken des Lebens ein Abstand besteht - die Differenz zwischen virtus und fortuna, könnte man sagen. Aber grundsätzlich geben sie alle der Tugend den Primat. Ich lese eine Stelle von Leon Battista Alberti, aus dem Buch von Garin:

Werden wir etwa dasjenige der Unbeständigkeit und der Willkür der Fortuna zuschreiben, was die Menschen aus reifer Überlegung, mit hartnäckiger kraftvoller Tat sich vornehmen? Und wie werden wir behaupten können, die Fortuna habe mit ihrem Wankelmut und ihrer Ungewißheit die Gewalt, dasjenige zu zerstreuen und über den Haufen zu werfen, was wir eher unserer Wachsamkeit und Vernunft, als der fremden Willkür untergeordnet wissen wollen? Wie werden wir bekennen können, daß nicht das, was wir uns mit Sorgfalt und Fleiß zu erhalten und behalten vorsetzen, in höherem Maße uns, als der Foruna gehört? Es liegt nicht in der Macht der Fortuna und ist nicht so leicht, denjenigen zu besiegen, der nicht besiegt werden will. Sie kann nur den unterjochen, der sich ihr willig fügt.

Hier ist die Tugend nicht einfach die moralische Qualität einer Entscheidung, wie später vielleicht bei Kant. Dort kann ich vor der Entscheidung stehen, soll ich bei Rotlicht über die Kreuzung gehen oder nicht. Und das ist die Frage tugendhaften Handelns. In diesem Kontext hier ist die Tugend viel komplexer. Sie ist die Kraft und die Konsequenz in und auf einem Lebensweg. Beachten Sie diese Vokabel wie Hartnäckigkeit, Wachsamkeit, Sorgfalt und Fleiß: ihr Sinn besteht darin, daß es darum geht, einen solchen Lebensweg als ganzen und auf lange Sicht zu formen. Fast scheint Alberti zu sagen, daß die Fortuna der Tugend definitionsgemäß nichts anhaben kann, weil die Unberechenbarkeit und Unbeständigkeit der Umstände von der Konstanz des Willens analytisch ausgeschlossen ist.

Was wir aber vor allem beachten müssen bei diesem humanistischen Tugendbegriff ist eine gewisse tendenzielle Abweichung von seinem klassisch-antiken Vorbild. Die klassische Tugend besteht darin, das Richtige zu tun, wobei dieses Richtige - wenn wir von ausdrücklich philosophischen Begründungen absehen - vor allem durch einen Konsens in der Gemeinschaft abgestützt und definiert ist. Also tugendhaft ist, wer für das Vaterland einsteht, die Götter verehrt, seinen Gelüsten mit Mäßigung frönt und brav seine Morgengymnastik macht. In der Renaissance ist die Tugend nicht mehr so strikt als allgemeine Sitte definiert, sondern etwas formaler: Es kann verschiedene Lebensformen geben, die gleichermaßen tugendhaft sind. Worauf es ankommt, ist die Konsequenz und die Fähigkeit, auf einem bestimmten Lebensweg seine Kräfte auszubilden. In einer bestimmten, einmal gewählten Einstellung zum Leben mehr und mehr zu meistern, immer Größeres zu leisten.

Das kann man vor allem dort erkennen, wo sich - wie bei Macchiavelli - diese Kriterien der Konsequenz verselbständigen auf Kosten desjenigen, was uns als das eigentlich ethische Prinzip des Guten erscheint. Während bei Alberti die Tugend die Verwirklichung des Guten im Lebenszusammenhang ist, so ist sie bei Macchiavelli tendenziell umgekehrt dasjenige, was sich faktisch den Wechselfällten des Schicksals gegenüber durchgesetzt hat, auch wenn es nur Schurkerei gewesen sein sollte. Im Deutschen haben wir da in den Wörtern ganz passende graduelle Abstufungen: Tugend - Tüchtigkeit - Durchsetzungsvermögen. Natürlich ist an diesen Punkten gerechtfertigt, von Individualismus oder von “ethischem Naturalismus” zu sprechen. Ich lese eine Stelle von Poggio Bracciolini, wieder aus dem Buch von Garin:

Nur der Pöbel und das gemeine Volk sind durch eure Gesetze gebunden; nur für sie bestehen die Bande des Rechts. Die ernsten, klugen, bescheidenen Menschen brauchen keine Gesetze. Sie haben ihr eigenes Lebensgesetz, da ihre Charakterbildung und ihre Erziehung sie von selbst zur Ausübung der Tugend und zu den guten Sitten führt... Die starken Menschen übertreten, lehnen die Gesetze ab, welche für die Schwachen, die Feiglinge, die Krämer, die Elenden, die Faulen, für all die Mittellosen geeignet erscheinen.... Tatsächlich sind alle hervorragenden Taten, die der Erinnerung würdig sind, aus der Ungerechtigkeit, der Gewalt, kurz aus der Übertretung der Gesetze entstanden.

Na, da würde ich sagen, das ist schon eine tolle Sache Mitte des 15.Jh. Was wir beachten müssen ist nicht so sehr der radikal individualistische Ton, sondern so ein Wort wie “Lebensgesetz” oder “Charakterbildung”. Nicht auf Willkür und Schrankenlosigkeit läuft dieser Individualismus hinaus, sondern die Konsequenz und die Entwicklung auf einem selbstgewählten Weg mit eigener Gesetzlichkeit. Also man könnte so ein Wort wie “Tugendpluralismus” nehmen.

Natürlich, das ist jetzt nur eine Anmerkung zwischendurch, kann man sagen, daß in der Fluchtlinie dieser Position genau die allgemeine Entscheidungsethik liegt, die ich bisher immer als Kontrast genommen habe. Über die Berechnung der Umstände, den Erfolgskalkül kann sich die Vorstellung so eines eigengesetzlichen Lebensweges dann auch wieder auflösen, und übrig bleiben davon nur mehr Ideen wie Autonomie, Zurechenbarkeit, Selbstübereinstimmung der Vernunft.

Wenn wir zu unseren Anliegen zurückgehen, dann müssen wir jetzt aber sagen, daß in der Renaissance diese Fragen der Lebensform vor allem konkret, nicht in derartiger Allgemeinheit, behandelt worden sind. Die berühmteste Gegenüberstellung ist eben die von aktivem und kontemplativem Leben.