Ficino zum Phaidros

Sehen wir uns als nächstes einmal in ein paar charakteristischen Punkten an, wie Ficino diese philosophische Erzählung aus dem Phaidros interpretiert. Dabei wird es nicht schlecht sein, wenn wir gewissermassen ganz von aussen anfangen.

Bild und Rede

Sie erinnern sich, daß die ganze Geschichte von Sokrates ausdrücklich als ein Bild, als ein bildhafter Notbehelf angeboten wird. Sokrates wollte die wahre Natur der Seele erklären, aber dazu ist er nicht im Stande, und stattdessen kann er nur ein Bild entwerfen; wenn man dieses aufmerksam betrachtet, erkennt man vielleicht auch das Wesentliche von dem, was man durch eine Erklärung lernen könnte. Nun, eigentlich müssen wir schon hier eine Pause einlegen und nachdenken, denn diese Aussage ist nicht harmlos. Sie enthält, in all ihrer Vagheit, ganz bestimmte Annahmen über die Natur von Erkenntnis. ZB scheint sie doch die Folgerung unausweichlich zu machen, daß es sowas gibt wie eine Intuition, die einen eigenen Typ von Erkenntnis ausmacht, und nicht nur ein bestimmtes Stadium oder ein bestimmter Aspekt in der diskursiven Erkenntnis ist. Sonst hätte es ja wohl keinen Sinn zu sagen, daß man - als Mensch - durch das Bild etwas erkennen kann, was als Erklärungsaufgabe unsere Kräfte übersteigt. Hier muß man sich natürlich fragen, was heißt denn dann Erkennen, wenn es nicht übergeführt werden kann in Sätze von der Form: Es ist so und so... Was für eine Bedeutung muß das Wort “Erkennen” haben, daß ich sagen kann, ich habe etwas über eine Sache erkannt, aber ich kann nicht sagen, und zwar grundsätzlich nicht sagen, was das ist? Das ist eine Frage von sehr hoher Bedeutung, denken Sie nur daran, daß man in diesem Falle damit rechnen muß, daß verschiedene Menschen Erkenntnisse haben, von denen sie grundsätzlich nicht entscheiden können, ob das dieselben Erkenntnisse sind oder nicht, weil sie sich darüber keine Mitteilung machen können (Sie erinnern sich jetzt vielleicht wieder einmal an Dinge, die ich in den ersten beiden Stunden über das Verhältnis von Theorie, Philosophie etc gesagt habe).

Nun, wenn man die Frage so allgemein stellt, dann wird das natürlich uferlos. Ganz nebenbei, was für Umstände könnten es denn sein, die so eine Redeweise überhaupt rechtfertigen? Ich denke, am ehesten die Probleme mit einem Begriff wie “Welt”: die Welt, die Gegebenheit einer Welt für mich überhaupt, das ist so eine Sache von der ich Kenntnis habe, ich muß darauf bestehen daß ich davon Kenntnis habe, aber ich kann diese Kenntnis gleichsam nicht buchstabieren, ich kann die Welt und meine Stellung in ihr nicht erklären. Aber das sind Dinge, die uns jetzt wirklich nicht interessieren, und wir brauchen es uns auch nicht ganz so schwer zu machen. Denn Sokrates bzw. Platon haben ja etwas viel Bestimmteres im Auge. Ihr Problem ist spezieller gestellt. Nämlich an unserer Phaidros-Stelle scheint es ja um den Schlüsselbegriff der Analogie zu gehen: So wie das Bild uns zeigt, daß es sich mit der Seele verhält, so würde eine Erklärung uns sagen, daß es sich mit ihr verhält. Die Beziehungen, die wir in dem Bild wahrnehmen - also z.B. die Unterscheidbarkeit von drei Teilen: Lenker, gutes Pferd, schlechtes Pferd -, diese Beziehungen würde eine Erklärung oder, sagen wir es gleich: eine psychologische Theorie, uns in einem Begründungs- oder Ableitungszusammenhang darstellen. Aber so eine Erlärung oder Theorie übersteigt eben die menschlichen Fähigkeiten. Also gut, hier stecken eine Menge Probleme drin, mit denen wir im Weiteren noch zu tun bekommen werden, die wir aber für den Augenblick beiseite lassen müssen.

Wir halten nur fest: offenbar ist gemeint, daß unsere Erkenntnisfähigkeit insofern komplex ist, als wir unterscheiden können zwischen einerseits einem Aufnehmen oder Gewahren von Beziehungen etc in bildlicher Form, und anderseits einer diskursiven Darstellung oder Anordnung derselben Beziehungen in einer sprachlichen und tendenziell begründungsfähigen Form. Und es scheint zweitens gemeint zu sein, daß es sowas gibt wie einen Erkenntnisinhalt, der bis zu einem gewissen Grad invariant ist gegenüber diesen Auffassungs- oder Darstellungsweisen. Das ist sehr wichtig, denn nur auf dieser Basis kann man ja sagen, daß man genau dasjenige, was Gegenstand einer wissenschaftlichen Erklärung wäre, ersatzweise in einem Bild verdeutlichen kann, wobei das Bild eine Art von ewigem anthropologischem Provisorium ist. Ja, also wenn wir das jetzt so aussprechen und vor uns haben, dann ist es ja vielleicht gar nicht so schwierig zu verstehen. Es geht, wenn wir die Sache so abstrakt betrachten, um den Unterschied zwischen dem Fall, wo ich einfach sehe oder sonstwie wahrnehme, wie es sich verhält in einer bestimmten Situation, und dem Fall, wo ich diese Verhältnisse auch in Begriffe fassen und in ihren Konsequenzen überblicken kann. Zum Beispiel von den großen Schachspielern sagt man, daß es da eine signifikante Differenz gibt zwischen dem, was so ein Spieler intuitiv erfaßt an Möglichkeiten einer Stellung, und dem, was er erklären und damit letztlich auch an eine Maschine übertragen kann.

Aber ganz so einfach ist die Sache bei Plato resp Sokrates auch nicht. Wir haben es ja hier in Wirklichkeit gar nicht mit dem Gegensatz zwischen der Wahrnehmung eines Bildes und der diskursiven Darstellung seines Inhaltes auf der andern Seite zu tun. Das wäre ja ein totales Mißverständnis! In Wirklichkeit haben wir es hier zu tun mit der Gegenüberstellung von zwei verschiedenen Formen des Diskurses, der Rede. Die eine Rede, die unmögliche Rede, ist die Erklärung im Sinne der psychologischen Theorie; das, was sie ersatzweise vertritt, ist aber klarerweise auch eine Rede - ich habe sie nacherzählt. Ich habe nicht mit einem Diaprojektor Bilder auf eine Leinwand projiziert, sondern ich habe eine Rede nacherzählt. Aber, so wird eben gesagt, das ist eine besondere Art von Rede, eine bildliche Rede, und eine bildliche Rede kann, zumindest aus einer bestimmten Perspektive, beanspruchen, selbst Bild zu sein. Die bildliche Rede ist, ihrem Erkenntnisanspruch nach, eher Bild als Diskurs. Aber das ist eine ungeheuer exponierte Behauptung, die man gewiß nicht so einfach schlucken kann. Das ist zuerst mal einfach eine Behauptung. Denn wenn wir etwa so eine Rede wie die des Sokrates im Phaidros hernehmen, dann ist ja ganz offensichtlich, daß da sogar eine sehr komplexe und subtile diskursive Struktur vorliegt. Vor allem muß man sagen: da ist eben der entscheidende Übergang von dem bildlichen Gewahren irgendwelcher Beziehungen zu einer sprachlichen und logischen Gliederung schon getan. Was soll die Ankündigung eines bildhaften Gleichnisses bedeuten, wenn dann eine Rede folgt, eine Erzählung?

Wenn wir uns das verständlich machen wollen, werden wir wohl einige Akzente verlagern müssen. Zunächst werden wir zugeben müssen, daß es gar nicht sinnvoll sein kann, den Begriff einer gleichnishaften oder bildhaften Rede so zu strapazieren, daß darunter letztlich nur etwas fallen kann, was gar keine Rede ist: Bilder eben, oder ideogrammatische Schriftzeichen oder dgl. Man sollte vielleicht eher so sagen: eine gleichnishafte Rede oder ein bildliches Sprechen, das ist grundsätzlich einmal ein Sprechen wie jedes andere auch, nur hat es die Besonderheit, daß es den Hörenden zum Verständnis nicht auf irgendwelche abstrakte Begriffe von Eigenschaften oder Relationen etc. verweist, sondern auf konkrete Bilder bzw Anschauungen.

Ich gebe einmal ein ganz extremes Beispiel, an dem man sehen kann, was gemeint ist - aber das Beispiel ist wirklich sehr extrem und deshalb auch angreifbar, und ich will es bitte auf keinen Fall diskutieren, ich bringe es nur, damit Sie sich eine Vorstellung davon machen können, was es heißt, daß das Verständnis einer Aussage nicht so sehr von der Einsicht in eine begriffliche Struktur abhängt sondern eher von bildlicher Vergegenwärtigung. Also wenn man jemandem - im konkreten Fall ist das meistens ein Kind - den Unterschied zwischen links und rechts erklären soll, also wenn man diskursiv, sprechend, erklären soll was es eigentlich bedeutet, daß der Herr, wenn keine besonderen Umstände es anders erheischen, links von der Dame zu gehen hat - wenn man erklären soll, was dieses links von bedeutet, was damit gemeint ist, - ja in einem solchen Fall kann die Pflicht begrifflicher Erklärung außerordentlich drückend werden. Es ist leider nicht so, daß man die Dinge unserer Welt einteilen kann in linke und rechte. Der Ausdruck links in so einem Satz wie dem erwähnten bezieht sich überhaupt nicht auf ein abstraktes Merkmal, das von irgendwelchen Dingen dann aufgewiesen wird oder nicht, er bezeichnet keine Eigenschaft im gewöhnlichen Sinne. Wenn man verstehen will, was mit links gemeint ist, muß man sich eine Situation vergegenwärtigen, muß man sich auf eine bestimmte Intuition zurückbesinnen, muß man eine sehr konkrete Anschauung evozieren: die Situation, die Intuition, die uns mit der Stellung unseres Körpers in der Welt gegeben ist, mit der Doppelung von Extremitäten und Organen und mit der Orientierung vor allem unseres Gesichtssinnes. Also wozu dient dieses Beispiel? Es kann als ein Fall von bildlicher Sprache aufgefaßt werden, weil das Verständnis des fraglichen Ausdrucks letztlich auf eine Intuition, und nicht die Kenntnis eines abstrakten Einteilungsbegriffes, zurückverweist.