Entstehungsgeschichte des neuzeitlichen Platonismus

Ich habe Sie schon vorige Stunde darauf aufmerksam gemacht, daß der schöne Spruch von den Jahrtausenden aristotelischer Tradition, aus denen angeblich unsere Philosophiegeschichte besteht, in gewisser Weise höchst irreführend ist. Die sog aristotelische Tradition umspannt zwar in der Tat Jahrtausende, aber ihre Präsenz ist keineswegs eine kontinuierliche. Es gibt in der Spanne, von der man da spricht, durchaus lange Zeiträume, in denen der Aristotelismus kaum eine Rolle spielt, und, wie ich ja angedeutet habe, ist der Aristotelismus zB des 11.Jh. philosophisch etwas ganz anderes als der des dreizehnten Jh., und dieser ist wieder sehr verschieden von dem Aristotelismus zB unserer Tage, der eine ganz und gar nicht unbedeutende Angelegenheit ist - ein sehr großer Teil, und vielleicht der interessanteste Teil, der sog modernen analytischen Philosophie ist eigentlich aus aristotelischen Motiven heraus zu verstehen.

Ja, und wenn wir nun von der platonischen Tradition sprechen wollen, dann ist mit noch viel einschneidenderen Diskontinuitäten zu rechnen.- Dabei ist es völlig unbestritten, daß es in der Renaissancezeit eine platonisierende Bewegung gegeben hat, und daß diese ganz entscheidende Impulse gesetzt hat für die europäische Philosophiegeschichte. Genau dieser Umstand hat dazu geführt, daß man sich schon seit langem mit der Frage auseinandersetzt, wie diese platonische Bewegung entstanden ist, wie sie plötzlich an Kraft gewonnen hat. Dabei stößt man regelmäßig auf ein Erklärungsmuster, das sehr verführerisch und auch keineswegs falsch ist, das aber zumindest aus philosophischer Perspektive letztlich nicht befriedigen kann. Ich möchte es Ihnen kurz vorstellen.

Eine einfache Geschichte

Man liest immer wieder, daß das entscheidende Datum für die Wiedergeburt des Platonismus das Jahr 1453 sei, der Fall von Konstantinopel. Das ist ein attraktiver Vorschlag: tatsächlich hat dieses Ereignis eine Unzahl von Intellektuellen, darunter Theologen und Philosophen, zur Emigration Richtung Westen gezwungen. Und manche dieser Leute, die nach Italien und/oder Spanien gegangen sind, haben dann Lehrstühle an den Universitäten angenommen, oder sie sind konvertiert und haben Einfluß in der Kirche bekommen etc. Und die haben nun, neben anderem Reisegepäck, ein traditionelles philosophisches Wissen mitgebracht, das gegenüber der Überlieferung des lateinischen Mittelalters tatsächlich als etwas ganz Neues erscheinen mußte - und es war auch etwas Neues. Das wichtigste einzelne Element darin war eben der Platonismus - eine Tradition der Beschäftigung mit Platon, die es im Westen nicht gegeben hatte, und die zB auf die italienischen Zeitgenossen gewirkt hat wie die Entdeckung einer ganzen philosophischen Welt. Also die Grundfigur der Erklärung ist ungefähr so, daß man sagt: Da gab es schon eine Zeit lang gewisse Absetzbewegungen von der aristotelischen Philosophie, eine größere Offenheit, und in diesem historischen Moment taucht, von der Woge jener Emigranten getragen, eine ganz neue mächtige Philosophie auf, bei der als besondere Attraktion hinzukommt, daß sie in ihrer Neuheit zugleich auch noch älter und ehrwürdiger ist als das bisher Gewohnte.

Trotz aller Vorzüge dieser kleinen Geschichte muß man, glaube ich, sagen, daß es sich dabei vor allem um ein historisches Symbol handelt. Nebenbei gesagt, ein altes Symbol, denn es läßt sich bis zu einem Zeitgenossen verfolgen, einem gewissen Pier Candido Decembrio, der von 1392 bis 1477 gelebt hat, ein Humanist aus der Lombardei. Der war der erste, der für das Aufkommen des Platonismus diese politischen Umstände verantwortlich gemacht hat. Die Schwächen der Erklärung liegen irgendwie auf der Hand: Die Tatsache der Aus- bzw. Einwanderungswelle erklärt sehr wenig, vor allem nicht die enthusiastische Einstellung, die die italienischen Intellektuellen den Einwanderern und ihrem platonischen Reisegepäck entgegenbrachten. Da muß sich die Erwartungshaltung schon vorher geändert haben. Also ich lese Ihnen ein kurzes Zitat vor von einem Autor, der die Geschichte überhaupt ablehnt, was ich nicht ganz richtig finde, denn eine gewisse Bedeutung kann man ihr nicht absprechen. Aber irgendwie hat er schon recht, ich spreche von Joachim Schumacher und seinem Buch: Leonardo daVinci der Maler-Philosoph (Ffm1974). Er schreibt: "Daß ein Dutzend griechisch-byzantinischer Buchgelehrter, die nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken als Emigranten nach Italien kamen (und) den Italienern die italienische Renaissance mitgebracht haben sollen, ist so grotesk wie zu behaupten, daß wir deutsche Emigranten den New Deal nach Amerika eingeschleppt hätten." (p.45f.).

Auch auf der rein faktischen Ebene liegen die Dinge nicht so einfach: Die bedeutendsten Vertreter der byzantinischen Philosophie und Theologie reisten aus begreiflichen Gründen schon jahrzehntelang nach Italien und wurden dort zum Teil seßhaft. 1354 schon hatten die Osmanen mit Gallipoli ihre erste europäische Eroberung gemacht, und bereits 1422 hatten sie Konstantinopel belagert. Spätestens seit damals war es für Byzanz eine Überlebensfrage, seine Beziehungen mit Rom auf allen Gebieten so zu verbessern, daß man militärische Stützung erhoffen konnte. Entsprechend intensivierte sich die Diplomatie und mit ihr der kulturelle Austausch bzw. Export. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt das Konzil dar, das am 7.März 1438 in Ferrara begann und dann nach Florenz verlegt wurde, und bei dem die höchsten Vertreter der östlichen und römischen Kirchen (EugenIV und Joh.VIII Paleologus) die Aufhebung des Schisma berieten - Vorbedingung jeder Allianz.

An jenen Beratungen nahmen zwei byzantinische Philosophen teil, deren Einfluß auf den neuzeitlichen Platonismus nicht hoch genug veranschlagt werden kann: Johannes Bessarion und Georgios Gemistios Plethon. Plethon war eine Kultfigur, ein Guru: er wurde für die Italiener zu einer Art Inkarnation Platos. Aber vergessen wir nicht: es handelte sich um politische Beratungen von höchster Dringlichkeit, und weder waren diese Leute als Missionare ihrer Philosophie gekommen, noch waren ihre unmittelbaren Verhandlungspartner Studenten. Daß man trotzdem so bald und so enthusiastisch ihre philosophische Bedeutung als Repräsentanten Platos zu feiern begann, kann also auch in dieser Phase nur dadurch erklärt werden, daß schon auf anderen Wegen Aufmerksamkeit entstanden war. Um jetzt nur einen kleinen Hinweis zu geben auf ein anderes sehr frühes, freilich selbst wieder irgendwie symbolisches Datum, lese ich Ihnen einen Satz vor aus einem Buch von Giuseppe Saitta, das 1923 erschienen ist (Das Buch heißt: Marsilio Ficino e la filosofia dell'Umanesimo. 3.Aufl. Bologna 1954): "L'anno 1423 è degno di ricordanza per il risorgimento del platonismo in Italia, perchè in quell'anno l'Aurispa e il Traversari tornando da Constantinopoli sbarcarono a Venezia con il manoscritto completo dei dialoghi platonici: materiali preziosi su cui si travaglierà l'umanesimo filosofico, preceduto da quello puramente filologico."

In Wirklichkeit muß man noch ein beträchtliches Stück weiter zurückgreifen, um sich diesen neuen Platonismus verständlich machen zu können - aber ich möchte an dieser Stelle unterbrechen, und vielleicht ein paar Bemerkungen einschieben zu der alten, gewissermaßen zu der eigenen Geschichte der platonischen Philosophie.

Die Antike

Ja, also Sie wissen, daß Plato 427-347 gelebt hat, und daß zwei ganz wichtige Daten in seinem Leben die Jahre 399 und 387 sind. 399 ist das Todesjahr des Sokrates; 387 ist das Jahr der Akademiegründung: Plato gründet eine richtige eigene Philosophenschule. Zwischen diesen Daten oder Fakten gibt es einen - na sagen wir: philosophischen Zusammenhang. Die Philosophie des Sokrates, dessen Schüler Platon gewesen ist, war ja eine durch und durch mündliche Angelegenheit in dem Sinn daß man wohl sagen muß, ein Sokrates der seine Gedanken aufschreibt, statt sie mit dem Leuten auf der Straße und im Fitneß-Center und am Markt zu diskutieren - das wäre einfach unvorstellbar, das könnte nicht der Sokrates gewesen sein, den wir als Philosophen kennen. Ich glaube, wenn heute jemand daherkommt der behauptet, Sokrates habe ein Buch geschrieben, das würde die philosophische Welt als eine Obszoenität betrachten.

Und da ist dann als nächstes diese Entscheidung von Platon, dem Schüler, etwas aufzuschreiben, und zwar charakteristischerweise zunächst einmal nicht seine eigene Philosophie und auch keineswegs die Philosophie des Sokrates - sondern ganz einfach die Gespräche, die Sokrates geführt hat. Natürlich gehen in diese Dialoge sowohl die Philosophie Platons, als auch die des Sokrates mit ein - aber das ist nicht das, was da primär aufgeschrieben steht. Was zB den Sokrates betrifft, da ist es ja besonders auffällig und anstößig an manchen Stellen, wie seine Philosophie eben gerade nicht klar wird oder Kontur gewinnt. Aber doch muß man vor allem festhalten, daß Platon, gegenüber dem Sokrates, jetzt einmal ein schreibender Philosoph ist.

Und dann haben wir einen zweiten Schritt, die Gründung einer philosophischen Schule durch Plato, und zwar mit dem ganz ausdrücklichen Zweck, seiner philosophischen Lehre einen dauerhaften Bestand und freilich auch eine systematische Weiterentwicklung zu ermöglichen. Also das ist doch sehr beachtlich, meine ich, daß der schreibende Plato sich da, wo es darum geht, in welcher Form seine Philosophie eigentlich optimal existiert, lebt - daß er da keineswegs nur an die Form des Buches oder der Schrift überhaupt denkt, sondern eine Diskutiergemeinschaft mit pädagogischer sowohl wie wissenschaftlicher Ausrichtung und, zum Unterschied von Sokrates, mit einer gewissen Disziplin.

Die Akademie - Sie wissen, das ist ein Garten etwas außerhalb von Athen gewesen, ein beträchtliches Grundstück muß das gewesen sein, ein Athene-Heiligtum hat sich dort ursprünglich befunden. Also die Lehre in dieser Akademie war die Form, in der Platon selbst sein philosophisches Werk sah, keineswegs die Dialoge, obwohl Platon auch nach der Gründung der Akademie natürlich noch geschrieben hat (der Theaitetos, Parmenides, Sophistes, Timaios, die Nomoi, die sind alle nach der Gründung der Akademie). Und da die Akademie so enorm lange existiert hat, viel länger als jede moderne Universität bis jetzt, nämlich von 387 B.C. bis 529 A.D., also 916 Jahre, so sollte man doch als erstes wohl festhalten, daß die platonische Tradition in der Antike eben in der Existenz der Akademie besteht. Wir werden bald sehen, daß zB einer der wichtigsten Männer in der Entstehung des Renaissance-Platonismus, Cosimo Medici, auch dieser Auffassung war, daß die Existenz einer platonischen Philosophie eben in der Existenz einer platonischen Akademie besteht, und deshalb hat er die platonische Akademie wieder aufgemacht, nach einer längeren Pause. Aber zurück ins alte Fach. So einfach ist die Sache nicht, wie sie auf den ersten Blick ausschaut.

Die platonische Akademie hat sich nämlich eigentlich in keiner Phase ihrer Geschichte nach dem Tod Platons als eine Anstalt zur Bewahrung des Platonismus verstanden. Da sind sehr entscheidende Abweichungen gesetzt worden, da wurden Einflüsse von außen aufgenommen, von der aristotelischen Schule etc.

Liste der Nachfolger als Präsidenten der Akademie

Ältere Akademie

Speusippos 347- 339
Xenokrates 339-314
Polemon 314- 270
Kranto

Mittlere Akademie

Arkesilaos gest. 241. Mit ihm beginnt eindeutig eine neue Phase, die Phase des Skeptizismus, des akademischen Skeptizismus.
Lakydes 241-215
Telekles
Euandros
Hegesinus

Neuere Akademie

Karneades (214-129) - hier beginnt vor allem der aristotelische Einfluß immer stärker zu werden
Mitte des dritten Jh.in Rom: Plotin
Plutarch 380-433
Proklus 410-485. Den aber muß man wirklich schon als einen Neuplatoniker bezeichnen

Jetzt sind wir natürlich in einer Zeit, wo es längst auch schon eine christliche Aneignung der platonischen Philosophie gibt, als Figuren die hier am Ursprung stehen sollte man Clemens v.Alexandria nennen im zweiten Jh. und Origenes im dritten. Aber v.a. Augustinus im 4./5.Jh, der ist die Zentralfigur für alle Vermittlung platonischer Gedanken im Mittelalter dann. Aber wir haben eben schon bei Augustinus das ganz Charakteristische, daß wir nicht annehmen können, daß er irgendwelche Texte von Platon in der authentischen Form gekannt hat, sondern seine Platonkenntnisse stammen schon aus neuplatonischen Quellen oder aus dem Cicero etc. Also dort, wo für die mittelalterlichen Bezüge auf Platon mehr oder weniger der Ankerpunkt ist, dort ist schon gar kein authentischer Platon mehr gewesen.

Der Vollständigkeit halber muß man allerdings hinzufügen, daß es sich da wirklich um kontingente historische Umstände handelt. ZB ganz am Ende des Altertums, da haben wir noch einmal den großen Boethius, den römischen Philosophen (480- 524), der als ein Repräsentant des klassischen Altertums sogar noch Fuß fassen kann in der neuen politischen Welt, der also die Anerkennung des Ostgotenkönigs Theoderich genießt, bis er dann schließlich doch hingerichtet wurde. Dieser Boethius hatte den Plan, das Gesamtwerk Platos ins Lateinische zu übersetzen, und man kann wohl annehmen, daß er da Unterlagen im Sinne von Quellentexten vor sich hatte, wie sie dann das ganze MA hindurch einfach nicht mehr da waren, das ist alles verschwunden. Also Boethius, einer der letzten, die auch noch die griechische Sprache beherrschten vor dem Ausbruch einer eher finsteren Zeit, wollte den Plato übersetzen und hinübernehmen in die neue Welt. Das ist nicht mehr möglich gewesen für ihn, aber das ist so ein einfacher historischer Punkt wo man schon sagen muß, das hätte die ganze Ideen- und Philosophiegeschichte, aus der wir kommen sehr geändert, wenn Boethius noch ein bißchen länger gelebt hätte und sein Projekt hätte verwirklichen können.

Überlieferung im Mittelalter

Was ist nun, da diese Chance sich nicht erfüllt hat, die wirkliche Überlieferungsgeschichte im MA gewesen? Insgesamt ist Plato während des MA in drei relativ scharf gegeneinander abgeschotteten Traditionslinien überliefert worden.

Lateinisch-christliche Tradition

In dieser Linie gab es außer dem Timaios-Kommentar von Chalcidius praktisch keine Plato-Texte. (Chalcidius war ein neuplatonischer Philosoph, besonders beeinflußt von Prophyrius, der im vierten Jh. gelebt hat, und dieser Kommentar, von dem die Rede war, der beinhaltete auch eine Übersetzung der ersten Teile des Platonischen Timaios). Es gab noch eine Übersetzung des Phaidon von Apuleius aus dem 2.Jh.A.D., aber die ist nach dem 6.Jh. nicht mehr so richtig nachweisbar. Also der Platonismus in dieser Überlieferungslinie war hauptsächlich gespeist aus Zitaten von oder Anspielungen auf Platon, und da gab es natürlich eine ganze Menge Steinbrüche, die man benützt hat, Augustinus, Cicero selbst, und va noch Dionysius Areopagita, ein Neuplatoniker aus dem 5./6.Jh. Ich möchte betonen: noch im 15.Jh., noch in der individuellen Bildungsgeschichte der Leute, die faktisch den neuen Zugang zu Platon gebahnt haben, ist man zuerst einmal immer mit einem Syndrom von Platonismus konfrontiert, das aus diesen Autoren, Augustinus, Cicero, Dionysius besteht. Und etwa die platonischen Elemente in der Philosophie des Nikolaus von Cusa, die beruhen ganz auf dieser Überlieferung.

Arabische Tradition

Die zweite Tradition ist die arabische. Sie geht nicht auf direkten Kontakt mit den Griechen zurück, sondern mit syrischen Christen, die in mehreren Wellen, zuerst im 5.Jh., dann um 800 ihr Wissen um griechische Kultur nach Bagdad gebracht haben und in die arabische Welt. Ungefähr um 800 sind dann wohl die ersten arabischen Plato-Übersetzungen entstanden, und es hat sich die Beschäftigung mit ihm eingermaßen erhalten. Jedenfalls stellt Klibansky fest, daß das was die Araber im 9., 10. Jh. von Plato kannten, schon rein quantitativ alles weit übertrifft, was dem ganzen christlichen MA bis ins 13.Jh. zugänglich war.(Klibansky - das ist das Standard-Werk über diese Frage, es heißt: Klibansky, Raymond. The Continuity of the Platonic Tradition During the Middle Ages. London; 1939.) Gegen Ende des MA begann diese Tradition, durch die Vermittlung jüdischer Gelehrter, dann auch auf die christliche einzuwirken. Aber das war erst zu einer Zeit, wo diese sich schon in verschiedenen Richtungen aufgelockert hatte, wo alles schon wieder mehr in Bewegung und Kommunikation gekommen war.

Byzantinische Tradition

Die wichtigste Plato-Tradition im MA ist wahrscheinlich die byzantinische. Sie ist auf jeden Fall die kontinuierlichste, sie hält eigentlich den Faden in der Zeit von der Schließung der Akademie bis zu den Tagen Ficinos in Florenz. Auch für diese Linie gilt, daß sie Platon zuerst kaum von Neuplatonikern oder christlichen Mittlern wie Dionysius unterschieden hat. Allerdings wurde in Byzanz auch schon im frühen MA ein spezielles grammatisches und philologisches Interesse an Platons Sprache kultiviert. Damals wurde vielleicht die Sprache Xenophons und Platons zu dieser Norm erhoben, die sie heute in unsrem Schulunterricht noch darstellt für das Griechische. Und schließlich gab es dann im 11.Jh. in Byzanz ein einschneidendes Ereignis, die erste wirklich auf Plato konzentrierte philosophische Wiedergeburt des Platonismus. Diese Wende ist verbunden mit dem Namen des Michael Psellus, er hat eine Tradition des philosophischen Platonismus gegründet, die von ihm und seinen unmittelbaren Schülern aus lückenlos bis uns 14.Jh. gehen dürfte. Damit schließt sich in gewissem Sinne unser Bogen, die Inhalte dieser Tradition sind eben das, was die Italiener dann im 15.Jh. so begeistert hat.

Wir können wieder zurückkehren in die Neuzeitliche Situation und uns nochmal fragen, was waren eigentlich die Voraussetzungen dafür, daß man, mehr oder weniger abhängig von der politischen Geschichte der Auseinandersetzungen mit den Osmanen, so eine positive Erwartungshaltung gehabt hat gegenüber dieser letzten von uns erwähnten platonischen Überlieferung.

Die von Petrarca ausgehende Geschichte in Italien

Petrarca und der Modernismus

Ich biete Ihnen jetzt also eine neue, eine zusätzliche Orientierungsmarke, die auch ein gewisses symbolisches Element hat, aber es ist eine historisch genauere und strukturell interessante Orientierung, wenn wir feststellen, daß der erste und entscheidende Impuls zu einer Erneuerung des Platonismus in Italien von Petrarca kam. Petrarca ist nicht nur deshalb ein günstiger Fixpunkt, weil er so früh (1304-1374) ist, und auch nicht nur wegen des unbestreitbaren Einflusses, den er auf das geistige Leben der folgenden Generationen hatte; für uns ist Petrarca va so aufschlußreich, weil er explizit zu dem Philosophen Plato Stellung bezieht und diese Stellunghame einige Eigentümlichkeiten aufweist, die auch in der weiteren Entwicklung des Platonismus nie ganz verschwinden.

Da ist einmal festzustellen, daß Petrarca als erster jene große rhetorisch-historische Geste vorführt: Wir leben in einer Zeit entsetzlichen Niederganges, am Ende und am tiefsten Punkt einer Entwicklung zur Barbarei; Erneuerung kann für uns nur aus dem kommen, was älter ist als der Anfang dieser Entwicklung - aus der klassischen lateinischen und griechischen Welt. Beachten Sie, daß im 14.Jh. die Begriffe des Alten und des Modernen noch in einer anderen Konstellation stehen als im 16.Jh. und dann später bis auf unsere Tage. Es gibt zu Petrarcas Zeit und kurz danach noch Autoren, die den Ausdruck "modern" ganz abwertend gebrauchen, zur Bezeichnung dessen, was sozusagen der letzte Schrei ist, aber keineswegs etwas substantiell Neues. Sondern eher der Bereich einer dauernden sinnlosen und im Grunde immer gleichen Veränderung. Wirklich neu wäre nur das, was dieses System als Ganzes sprengt oder verläßt. Das Neue, das dazu geeignet ist, das in eine andere und hellere Zukunft weist, kann demgegenüber nur etwas Uraltes sein. Das ist eine sehr interessante Konstruktion, in die auch noch weitere charakteristische Versatzstücke einbezogen sein können, zB der Mythos vom Goldenen Zeitalter.

Ich lese Ihnen eine kleine Stelle vor aus einem Aufsatz, der sich beschäftigt mit dem Gefühl der Angst und ihrer Rolle in der Weltdeutung der Renaissance, von Lynn White. Da heißt es (p.39, Kinsman): "By the later thirteenth century, when the witch mania appeared, vast numbers of people seem to have been spiritually out of breath from running too fast. Their inherited axiom was that change was bad; Roman antiquity, or the age of the early Church, was their ideal. Any change, they thought, served only to put them further from that past Golden Age". Nun, wenn wir die Sache von der Seite ansehen, daß in so einer turbulenten und unsicheren Zeit jeder immanente Fortschritt dessen, was schon da ist, als Bedrohung verstanden wird, und daß Erneuerung nur von etwas ganz Alten erwartet werden kann, dann identifizieren wir damit natürlich auch schon einen gewissen Gehalt des Begriffes Renaissance als solchen. Das ist eben auf dieser Ebene zunächst einmal die Einstellung, der die Wiedergeburt eines Alten als die einzige Möglichkeit der Heraufkunft von etwas ganz Neuem erscheint.

Und besonders wichtig bei Petrarca ist nun, daß er dort, wo er diese Geste vorführt, zugleich immer auch auf Plato hindeutet als denjenigen, der ein so ein Uraltes verspricht oder verbürgt, und den es also gleichsam zu entdecken gilt, damit die Zeit überhaupt gerettet werden kann. In Plato und seiner Philosophie ist der Schatz verborgen, seine Rezeption wird uns in eine neue Zeit führen - hinaus vor allem über das erstickende Denken des Aristotelismus. Es ist sehr wichtig, daß man schon hier ganz am Anfang diese scharfe polemische Entgegensetzung gegen Aristoteles findet. Plato ist der wahre christliche Philosoph und so weiter - das sind rhetorische Figuren, die die ganze Entwicklung des Platonismus im 15.u.16.Jh begleiten werden. Vor allem in diesem frühen Stadium bei Petrarca ist das natürlich eine sachlich ganz unfundierte Polemik, das ist reine Propaganda, und zwar Propaganda in sehr schrillen Tönen.

Also halten wir als wichtig fest, daß Petrarca erstens schon in rhetorisch vollendeter Weise diese Geste vorführt, in der sich der spezifische geschichtsphilosophische Sinn von Wiedergeburt, Renaissance konsituiert, und daß er zweitens mit dieser Geste immer auf den Platon zielt. Daß also diese Erwartungshaltung gegenüber dem zu entdeckenden Uralt-Neuen eine Erwartung gegenüber Platon ist.

Ich möchte hier noch auf einen scheinbar äußerlichen Begriff besonders hinweisen, den Begriff des Enthusiasmus. Petrarcas Wendung zu Platon ist vor allem und im höchsten Grade durch ihren Enthusiasmus gekennzeichnet.Es ist nicht die Entdeckung oder der Standpunkt eines Wissenschaftlers, sondern schiere Begeisterung. Boccaccio sagte einmal: "Der illustre Petrarca, mein Meister, hat den Weg der Antike mit solcher Charakterstärke, und solchem Enthusiasmus eingeschlagen, daß kein Hindernis ihn aufhalten konnte..." Ich weiß nicht mehr, an wen der Brief gerichtet war, aus dem das ist, es ist entnommen aus einer Briefsammlung die 1877 in Florenz von Corrazzini herausgegeben wurde. In der Wortwahl eine sehr treffende Beschreibung, und das Interessante daran ist eben, daß dieser enthusiastische Zug in der ganzen platonischen Bewegung der italienischen Renaissance erhalten bleibt. Man muß sogar sagen: eine überraschend lange Zeit hindurch ist dieser Enthusiasmus, genau wie bei Petrarca selbst, überhaupt das dominierende Merkmal schlechthin für die Strömung, dh er ist viel wichtiger als jede sachliche oder gar immanent philosophische Kenntnis der Werke oder Theorien Platos. Und da ist nun etwas sehr Faszinierendes festzustellen, nämlich wenn man einmal wirklich in die Philosophie Platons hineintritt und sich da auszukennen lernt, dann wird diese äußerlich-enthusiastische Zugangsweise am Ende belohnt. Denn da stößt man dann an einem der höchsten Punkte philosophischer Selbstreflexion, im Dialog Phaidon, tatsächlich im Innersten der platonischen Philosophie, eben genau auf den Begriff des Enthusiasmus, des begeisterten Wahnsinns. Bei Marsilio Ficino, in der zweiten Hälfte des 15.Jh., wird das dann explizit gemacht, und das bringt natürlich auch nochmal einen enormen zusätzlichen Schwung: die Einstellung, die wir gleichsam von außen zum Werk Platons hatten, die findet ihre Rechtfertigung und Belohnung dadurch, daß sie als höchster Punkt der Selbstreflexion im Inhalt des Werkes selbst uns entgegentritt. Das ist doch toll, das werden wir auch bei Gelegenheit noch genauer besprechen, nächstes Mal, und dann vielleicht nochmal bei dem Thema der Liebesphilosophie, und dann schließlich nochmal ganz am Schluß in Bezug auf Giordano Bruno.

Petrarca und seine humanistischen Nachfolger

Von Petrarca geht aber natürlich nicht nur dieser Trend zur heiligmäßigen Plato-Verehrung aus, sondern von ihm aus muß man auch die etwas irdischeren Aspekte der Geschichte rekonstruieren. Ich habe das einmal schon so ausgedrückt, daß ich gesagt habe, Petrarcas Liebe zu Plato war nicht nur platonisch, sondern sie hatte auch ihren sinnlich-körperlichen Aspekt, insofern nämlich als Petrarca tatsächlich im Besitze von handschriftlichen Plato-Texten im griechischen Original war. Die hat er gekauft, und man muß sich nebenbei erst mal vorstellen, was das gekostet hat. Also dieser Erwerb von griechischen Plato-Texten durch Petrarca, das ist sicher einer der Gründungsakte des Humanismus überhaupt, und Petrarca ist auch auf nichts so stolz gewesen, diese Manuskripte waren ihm heilig, wie man aus Berichten von Boccaccio weiß.

Das wirklich Tolle an der Sache ist aber, daß er gar nicht griechisch konnte, und daß es ihm auch nicht gelungen ist, es zu lernen. Klibansky sagt einmal sehr einfühlsam: "Like the prophet, he saw the object of his desire, but was unable to grasp it." Also Petrarcas tatsächliche Kenntnisse der Philosophie Platons beruhten ganz auf denselben minimalen Quellen, wie die des christlich-lateinischen Mittelalters insgesamt; aber auf der ideologisch-symbolischen Ebene hat der Besitz der Texte alles geändert. In vieler Hinsicht ist dieser kleine, fast tragikomische Umstand interessant: zB von Petrarca an entbrennt in Italien ein wahrer run auf griechische Manuskripte, und auf Plato insbesondere. Va steht die ganze sachliche Entwicklung dieser platonisierenden Bewegung für eine lange Zeit im Zeichen des Sprachproblems. Für fast hundertdreißig Jahre bleibt die Grundkonstellation dieselbe und verändert sich nur ganz allmählich: es ist die gespannte Faszination vor der noch nicht gezündeten Bombe, die einem dauernd vor den Füßen herumkugelt. Es ist die ganze Zeit hindurch viel eher Erwartung, als Kenntnis Platos. Und nur ganz allmählich verbreitet sich auch die Kenntnis der griechischen Sprache unter denen, die sich als Plato-Fans verstehen.