Theorie, System, Aristotelismus

Wenn ich jetzt zusammenfassend noch einmal Stellung nehme zu diesem grundlegenden Begriff von Schule oder Lehrform, dann würde ich sagen, daß das Wesentliche nicht so sehr in der Mitteilbarkeit als solcher liegt, sondern in der Absicht einer gewissen Normierung. Wenn ich meine Philosophie in eine explizite Lehrform bringen will, dann geht es nicht nur darum, daß andere mich ausreichend oder besser verstehen, sondern vor allem darum, daß andere meine Ansichten weitergeben können, ohne etwas daran verändern zu müssen oder zu können. Die Lehrform dient der Ausschaltung von Umdeutungen dessen, was ich gesagt habe. Ich meine: sie soll nicht verhindern, daß jemand sich was anderes denkt, aber es soll dann immer klar sein, daß es nicht ich war, der das gedacht hat.

Natürlich geht die Herausbildung einer derartigen kanonischen Form oft gar nicht von dem Individuum selbst aus, dessen Namen sie trägt, sondern irgendwelchen Nachfolgern, aber das ist ja im Prinzip irrelevant.

Das Interessanteste nun, was man sich in Bezug auf diese Lehrform fragen kann, betrifft ihr Verhältnis zu gewissen anderen Begriffen, die die innere Verfassung einer Philosophie noch grundlegender beschreiben. Insbesondere denke ich hier an den allgemeinen Begriff einer Theorie. Für uns heute sind diese Begriffe sehr nahe aneinander gerückt. Vor allem so weit wir die Philosophie als eine Wissenschaft auffassen, sind wir der Auffassung, daß sie dann auch trivialerweise als eine bestimmte Theorie oder ein Theorien-Konglomerat darstellbar sein muß. Und wir meinen dann auch, daß das, was man lernt, wenn man die Philosophie lernt, eben diese Theorie ist. Das verschärft sich noch weiter, wenn man annimmt, daß durch den Begriff Theorie als solchen eine gewisse Struktur eindeutig und universal festgelegt ist, daß also alle Theorien zB eine gewisse logische Struktur gemeinsam haben. Dann kann man sagen: die theoretische Form ist die Lehrform.

Aber es gibt Grenzen, die dieser Auffassung gesetzt sind. Man erkennt sie zB dort, wo für eine bestimmte Lehre ihre theoretische Form erst nachträglich rekonstruiert wird. Ein extremes Beispiel ist die mengentheoretische Rekonstruktion, die Joseph Sneed für die Newton'sche Physik vorgenommen hat. Da haben die Inhalte dieser Lehre auf einmal eine Gestalt, die der Autor gar nicht hätte vorhersehen können. Die Grundbegriffe haben uU ihre Position und ihr relatives Gewicht verändert. Also da muß man sagen: wir sehen hier eine Theorie vor uns, die Newton bestimmt nicht in dieser Form vertreten hat, und die gleichwohl alles wiedergibt, was uns an seiner Theorie haltbar erscheint; auf der anderen Seite jedoch hat ja Newton das, was er sagen wollte, effektiv in eine Lehrform gebracht, die gehalten hat, auch ohne Mengenlehre. Also sollte man unterscheiden zwischen Lehrform und Theorieform. Ein anderes, viel banaleres Motiv um diese Unterscheidung zu machen wäre: daß Theorie vernünftigerweise einfach als abstrakterer Begriff verwendet wird, gegenüber Lehre oder Lehrform. So beschäftigt man sich in der Wissenschaftsgeschichte heute vielfach damit, Theorien aus historisch bestimmten Lehrformen heraus zu rekonstruieren, und dabei ist immer interessant die Frage, welchen Spielraum Theorien sozusagen haben gegenüber der Lehrform, in der sie auf uns gekommen sind.

Das Wort Theorie kann aber auch eine andere Bedeutung haben, und in gewissem Sinn ist das die ursprünglichere: Wo Theorie nämlich nicht die Form, sondern das Ziel einer philosophischen oder überhaupt einer intellektuellen Aktivität ist. Eine höchste Art der Einsicht, die es erst zu erreichen gilt. Diese Bedeutung von Theorie spielt in der modernen Zeit kaum noch eine Rolle, in der Renaissance vielleicht gerade noch.

Ein anderer Begriff, den man ähnlich wie den der Theorie in Beziehung setzen kann zu dem der Lehrbarkeit, ist “System”. Bei Hegel ist es so, daß Philosophie ihre Identität letztlich überhaupt nur als System gewinnt. Das ist bei ihm ein sehr hoher Anspruch. Aber auch dieser Begriff hat klarerweise eine länger zurückliegende Geschichte - wir werden sie jetzt nicht thematisieren. Wir halten fest: So weit unter den Intentionen einer Philosophie auch die Aussage ist, also daß ihre Autorin etwas sagen oder feststellen möchte, so weit kann man wohl auch in irgendeinem Sinn von theoretischem Gehalt sprechen. Eine lehrbare Form der Philosophie steht in mehr oder weniger enger Beziehung zu dieser Theorie. Es muß aber keineswegs sein, daß Philosophie überhaupt nach der schulmässigen Form sucht - auch wenn sie durchaus theoretische Ansprüche stellt.

Nun, wenn man über das Problem der Schule in der Renaissance-Philosophie spricht, muß man aber noch einen sehr konkreten Umstand in Betracht ziehen, nämlich die faktische Konvergenz der beiden Bedeutungen, die ich unterschieden habe im Aristotelismus. Bisher haben wir nur abstrakt ein paar Begriffe hin und her verschoben, um uns an gewisse Frageweisen zu gewöhnen. Aber in Wahrheit sind ja die Schwierigkeiten, die die Renaissancephilosophen mit dem doktrinalen “Element” haben, ganz konkret ihre Schwierigkeiten mit, ihre Ambivalenzen gegenüber dem Aristotelismus.

Der Aristotelismus ist eine Schule im Sinne der Strömung, aber er ist ja zugleich auch der absolute Standard für das, was die schulmässige Verfassung einer Philosophie, ja einer Wissenschaft schlechthin, ausmacht. Dh zB, daß Kritik an Aristoteles schon an sich den Eindruck erweckt, daß es um eine gewisse Befreiung vom Schulzwang geht, und daß diese Tendenzen natürlich auch nur dadurch sich effektiv durchsetzen können, daß auf einer ganz banalen institutionellen Ebene der Schulzwang gebrochen wird. Mit der Relativierung des Aristotelismus in der frühen Neuzeit geht nicht zufällig einher eine große Öffnung in der Art der Institutionen, in denen Wissenschaft und Philosophie betrieben, gelehrt und kultiviert werden.

Die Geschichte des Aristotelismus in der abendländischen Philosophie, von der Antike bis zum späten Mittelalter, ist ja keineswegs eine so einheitliche Sache, wie manchmal suggeriert wird. Schon in der Antike ist der Aristotelismus neuplatonisch eingefärbt worden, und dann ist er christlich eingefärbt worden etc, und vor allem ist der Aristotelismus des Mittelalters immer wieder mit platonisierenden Tendenzen konfrontiert gewesen. Das Entscheidende war doch immer, daß er die Lehre, die Schule, dominieren konnte. Er hat eine Lehrform dargestellt, in der auch andere Einflüsse integriert werden konnten. In der Renaissance, va in der platonischen Strömung der Renaissance-Philosophie, hat man erstmals das Phänomen, daß der Aristotelismus in beiden Hinsichten relativiert wird: als Strömung, aber auch als Standard für die Weise, wie ein wissenschaftlicher Gegenstand dargestellt und weitergegeben werden muß. Eine wesentliche Kraft, die diesen Impuls verstärkt hat, war der Humanismus.