Wenn wir die Dinge so zugespitzt formulieren, dann sehen wir freilich auch besonders deutlich, daß dagegen (Kant und) die ganze Tradition der Verallgemeinerbarkeit als ethisches Prinzip steht. Da wird der Spieß umgedreht: nur was verallgemeinerbar ist, kann eine moralische Gewißheit sein. Natürlich, auf diese Weise und mit solch einem Gegensatz wird die Sache vielleicht ein wenig zu extrem fomuliert. Aber man muß dieses Problem der Verallgemeinerung nicht unbedingt in Bezug auf das Individuum stellen, man kann es auch in Bezug auf ganze Kulturen aufwerfen, und dann wird alles gleich viel realistischer. Die Grenzen zwischen einander fremden Kulturen sind in der Tat oft Grenzen des Verstehens von tiefliegenden Werten und Auffassungen, von philosophischen Deutungen; und trotzdem sollte man doch den Wert und die Statur einer Philosophie anerkennen, auch wenn man weiß, daß man sie nicht in demselben Sinne über kulturelle Grenzen hinweg lehrbar machen kann. In solchen Fällen sagt man vielmehr zurecht, daß man diese Philosophie sich nicht durch schulmäßiges Lernen, sondern nur durch Teilnahme und Einleben in eine ganze Kultur erschließen kann.
Das ist ein Problem, das heute wieder langsam an Bedeutung gewinnt, die interkulturelle Philosophiegeschichte, die Auseinandersetzung mit der afrikanischen Philosophie etwa. Aber ähnliche Aufgaben hat sich auch die Renaissance-Philosophie gestellt, die Aufarbeitung von und Versöhnung mit fremden Traditionen in Philosophie und Religion.
Wenn wir so eine Aufgabe angehen, taucht immer wieder ein charakteristisches Dilemma auf: Entweder ist es uns überhaupt nicht möglich, das eigentlich Philosophische an der vermutlichen Philosophie wahrzunehmen. Man versucht dann oft, die Inhalte, die interessant erscheinen, unter anderen Kategorien abzuschieben, wie Religion, Mythos, Brauchtum .... Oder man rekonstruiert mehr oder weniger erfolgreich doch eine Philosophie aus dem vorliegenden “Material”, dann passiert aber häufig das andere Unglück, daß man nur den Spuren oder Analogien von genau dem folgt, was in unserer Tradition als Philosophie (erfolgreich) überliefert worden ist. Gleichsam: Na ja, sie haben ja doch so was Ähnliches wie einen Substanzbegriff, also eine rudimentäre Philosophie kann man ihnen schon zugestehen, und eigentlich ist es ja toll von ihnen etc etc. Also das sind Überlegungen, die mE doch ein wenig dafür sprechen, daß man eine Philosophie nicht unbedingt binden muß an die Bedingung ihrer allgemeinen Lehrbarkeit, schon gar nicht an die Voraussetzung einer bestimmten Lehrform.
Auf der andern Seite fragt man zu Recht: Wenn eine Philosophie nicht bloß doktrinal identifiziert ist, was ist die Alternative, was gibt es da noch für Bestimmungen? Ich möchte drei Möglichkeiten kurz erwähnen, die eine davon habe ich schon angedeutet:
Eine Philosophie könnte bestimmt sein als der Gedanke, oder Denkzusammenhang, der mich, als Individuum, zu erlösen oder glückselig zu machen geeignet ist. Das ist dann mehr oder weniger audrücklich jenseits von aller Lehrbarkeit angesiedelt. In einer Variante könnte man zulassen, daß auch jemand anderer durch irgendwelche äußerliche pädagogische Maßnahmen dazu hingeführt werden kann, daß er oder sie ganz aus sich selbst auch zu einem solchen Denken findet - aber das ist dann sein oder ihr eigenes Denken. Diese Vorstellung hat enge Berührungspunkte mit Mystik, vor allem an der Zusatzüberlegung mit den Anderen sehen Sie diese charakteristische Unterscheidung von Außen- und Innenperspektive, die für die Mystik so wichtig ist. Und es ist klar, daß hier auch Affinitäten bestehen zu obskur-esoterischen Tendenzen, wie sie teilweise in unserer Zeit wieder florieren. Da gibt es wieder jede Menge Abzockervereine, die genau auf diese Art, und mit dem Titel “Philosophie” ihr Geld machen.
Man könnte sich aber auch vorstellen, daß das Charakteristikum einer Philosophie überhaupt nicht in einem Wissens- oder Denkinhalt liegt, sondern gleichsam in einer Geste. In einem intellektuellen Gestus, mit dem sie sich vorträgt, mit dem sie aber auch Räume und andere Zusammenhänge sich aneignet. Sowas ist dann eben nicht eine Frage der richtigen oder vor allem: konsistenten Theorie, sondern mehr der geistigen Energie. Philosophie in diesem Sinne kann man natürlich auch nicht lernen, man kann sie höchstens imitieren. Vielleicht wäre in diesem Kontext an Nietzsche als ein Beispiel zu denken - und an seine Imitatoren natürlich auch. Aber ein anderer verlockender Gedanke wäre, wenn ich das so sagen darf: die Renaissance selbst. Der Geist der Renaissance. Der Ausdruck “Philosophie der Renaissance” bekäme dann freilich eine andere Bedeutung, als wir bisher vorausgesetzt haben.
Man könnte sich aber drittens auch vorstellen, daß eine Philosophie zwar nicht im Sinne einer Doktrin, aber auf eine andere Art tradiert und weiterentwickelt wird. Daß also philosophische Inhalte zwar sprachlich gefaßt und verstanden und weitergegeben werden, aber so, daß dabei diese Sprache einer dauernden Umwandlung unterliegt, daß jeder der so einen Inhalt aneignet, ihn auch in bestimmter Weise verändert und bereichert. Dann ist keine fest umrissene Doktrin faßbar, und trotzdem findet Philosophie statt. Sie werden vielleicht sagen: Aber so ist es ja sowieso, wenn wir die europäische Tradition verfolgen, dann ist es doch so. Dieser Einwand wäre verständlich, denn irgenwie stimmt ja was er sagt. Jeder, der da vorkommt und eine Rolle spielt, verändert auch etwas. Aber es stimmt nur in dieser Trivialität, und wenn man über die ein wenig hinausgeht, dann sieht man schon gewaltige Unterschiede. Bedenken Sie zB die Rolle der Bücher, der Texte. Die Texte werden in unserer Tradition genau als Gegenmittel eingesetzt, als Mittel zur Fixierung einer Doktrin. Und nun bedenken Sie welche enorme Rolle diese Texte allein in der Ausbildung spielen. Oder dann eben die Schulen. Darum rede ich ja über diese Begriffe. Aber mit einer Philosophie ohne Texte, ohne Bücher, da wäre es anders, und da müßten sie auch wirklich ein anderes Verständnis von Philosophie entwickeln. Ich gebe Ihnen ein kleines Beispiel, wirklich nur ein kleines, und trotzdem kann man, glaube ich, daran sehr gut sehen, wie groß die Unterschiede sind, um die es da geht. Dieses Beispiel ist Wittgenstein. Und er ist ein kleines Beispiel, weil er ja sowieso ein Mensch unserer Zeit ist, und auch in allen Zusammenhängen gestanden ist, und auch in seinem Werk gut nachvollziehbare Einflüsse vorhanden sind. Er war kein Robinson. Eine Sache freilich ist auffällig: Texte, Bücher, Lehrmeinungen kanonischer Autoren spielen bei ihm einfach nicht die Rolle, die wir in der akademischen Philosophie gewohnt sind. Auch wenn er Plato mal kurz mitreden läßt, merkt man sofort, das ist etwas ganz anderes als das übliche philosophische Zitieren. Und in dem was er selber sagt geht er ja auch genau so vor, daß er unbedingt vermeiden will, selbst zu so einem Autor oder Text zu werden, der als Doktrin faßbar sein könnte. Und der Effekt? Enorm. Schon haben wir die allergrößten Schwierigkeiten, das als Philosophie oder in der Philosophie einzuordnen, er hat zb keine Nachfolger oder keine Schule etc. Wenn es Leute gibt, die seine Philosophie weiterführen, dann geht das auf eine ganz andere Art, als Schuldbildung (Cavell, Ziff). Stanley Cavell wäre selbst auch ein Beispiel mit seinem Projekt, Emerson und Thoreau “zu beerben” . Das sind Philosophen, bei denen hat es nie ein Schulwissen gegeben, und da soll auch keines entstehen. Da geht es um das Antreten einer Erbschaft.