Vorlesung 2. Schulen, Strömungen etc

Inhalt
Begeisterung und Theorie
Alternativen
Die Schulen
Theorie, System, Aristotelismus
Zur konkretenSituation

Ich möchte Sie erinnern an jene Stelle, die ich Ihnen letztes Mal vorgelesen habe aus dem Aufsatz von Ernst Cassirer über Pico della Mirandola. Cassirer sagt dort, daß die geistige Bedeutung Pico's ganz außer Frage steht, daß es sich wirklich um folgenreiche gedankliche Entwicklungen handle - daß aber trotz allem noch ein Problem bestehe, ob man da auch von einer strikt philosophischen Leistung sprechen könne. Und als Kriterium verweist er darauf, daß nicht so ohne weiters eine klar umschreibbare philosophische Doktrin feststellbar sei. Ich habe gleich gesagt, man muß diese Äußerung von zwei Seiten sehen. In einer Hinsicht ist sie gewiß ganz treffend, nämlich es fällt uns manchmal in der Tat schwer, eine Aussage aus diesen Texten herauszuholen, die man schwarz auf weiß nach Hause tragen könnte. Auf der andern Seite möchte ich mich nicht ganz so fraglos der Auffassung anschließen, daß das Wesen - oder die Bedeutung oder Identität - einer Philosophie so ausschließlich durch die in ihr enthaltene Doktrin bestimmt wird. Das, habe ich gesagt, scheint mir nicht ganz so umstandslos auf der Hand zu liegen. Also ich möchte, um es anders auszudrücken, nicht gerne grundsätzlich auf den Platz verzichten für eine eventuell ganz charakteristische und unverwechselbare Philosophie, die gleichwohl doktrinal nicht besonders hoch profiliert ist. Heute wollen wir uns dieser Frage ein bißchen nähern, indem wir uns von verschiedenen Seiten her mit dem Begriff der "Schule" beschäftigen. Dabei können wir durchaus von dem ausgehen, was Cassirer bei Pico della Mirandola aufgefallen ist: daß es diesem Autor ja weitgehend überhaupt nicht darum geht, uns - seinen Lesern - die Welt ein für allemal auf eine bestimmte Weise und in einer bestimmten ausgezeichneten Sprache zu erklären. Denken Sie an das zurück, was ich letztes Mal unter dem Stichwort “Einheit der Philosophie” gesagt habe über den Menschen als Einheitsprinzip, den Menschen, der sich entwickeln wird, ganz zum Unterschied von einer Theorie über den Menschen.

Begeisterung und Theorie

Es kommt nicht auf die Festlegung einer Sprache an, in der die Welt dann als erklärt gelten soll. Man hat nicht das Gefühl, daß Pico sich erst dann verstanden fühlen würde, wenn man nach beendeter Lektüre so etwas sagen kann wie:

Ja, also darin, daß man so eine Litanei oder eine Abwandlung davon aufsagen kann, darin besteht also ganz eindeutig nicht, was sich diese Autoren selber unter dem Verständnis erwarten, das man ihnen entgegenbringen sollte. Nun ist es aber genau diese Art von Wissen oder Verständnis, die wir in unserem gewöhnlichen und überkommenen Sprachgebrauch als Schulwissen bezeichnen, und daher kann man das Problem, das ich an jener Cassirer-Stelle aufgegriffen habe, auch so bezeichnen, daß die Renaissancephilosophie eine eigentümliche Stellung - eine ambivalente Stellung - zur Schulphilosophie einnimmt. (Ich weise jetzt ausdrücklich darauf hin, daß das Wort “Schule” in der Philosophie natürlich noch andere und mindestens genau so wichtige Bedeutungen hat; so gesehen wäre sie ja nur eine Form für Texte; auf jene anderen Bedeutungen kommen wir noch zu sprechen).

Man wird sich jetzt fragen, wenn es einem Philosophen nicht darauf ankommt, daß seine Philosophie, sein Anliegen, in gewissen Lehrsätzen eindeutig festgehalten werden kann - worauf kommt es ihm denn dann an? Was gibt es denn da noch, was man als Philosoph anzielen kann? Da ließen sich verschiedene Dinge nennen, an erster Stelle werden wir an Begriffe wie Glückseligkeit oder Erlösung denken. Das sind zwar heutzutage etwas ungewohnte Vorstellungen, aber es sind Zielsetzungen, die lange Zeit das Verständnis von Philosophie bestimmt haben: daß es weniger darauf ankommt, irgendwann einmal eine möglichst klare und eindeutige und richtige Feststellung zu treffen in seinem Leben - sondern eher darauf, aus der eigenen Vernunft das Maximum dessen herauszuholen, was an ihr, an der Vernunft, der eigenen Glückseligkeit dienlich ist.- Ich glaube, es ist so in etwa verständlich, was ich da meine; aber natürlich bedarf es noch der Erläuterung. Also zB erhebt sich sofort die Frage, ob nicht die Dienlichkeit der Vernunft für unsere Glückseligkeit genau darin besteht, daß wir uns gewisse Sachlagen, die die Grundlagen unserer Entscheidungen ausmachen, so weit wie möglich in klaren und richtigen Feststellungen vor Augen führen. Wenn es das und nur das ist, was wir an Nutzen aus unserer Verständigkeit (und letztlich auch aus unserer philosophischen Reflexion) ziehen können - dann ist vielleicht wirklich das Wesentliche einer Philosophie in dem Lehrgebäude erfaßt, das von ihr übrig bleibt, auch wenn ihr Autor, ihre Epoche, ihre Sternstunde gewissermaßen, vorbei ist. Dann ist in der Philosophie selbst der Unterschied zwischen einer lebenden und einer toten Philosophie irrelevant.

Nun, ich glaube nicht, daß es sich so verhält. Es gibt verschiedene Bedenken, die man gegen diese Auffassung vortragen kann. Vielleicht können manche davon in der Auffassung berücksichtigt werden, auf jeden Fall aber muß man die Sache ein wenig komplexer sehen, zb in dem Sinne einer Unterscheidung zwischen Einsicht, Erkenntnis, Lehrbarkeit und Verallgemeinerbarkeit. Sodaß man nicht einfach Erkenntnis und Handlung einander gegenüberstellt, sondern auf der Seite der Erkenntnis eben diese Differenzierungen anbringt. Ich meine ungefähr folgendes: Wir sprechen ja jetzt von einer Situation in der a) eine Entscheidung zu treffen ist, in der wir, b), wissen, daß von unserer Entscheidung wirklich ein Mehr oder Weniger unserer eigenen Glückseligkeit abhängt, in der c) die optimale Entscheidung auch wirklich von der richtigen Beurteilung der Situation abhängt, und in der d) diese Beurteilung auch dermaßen komplexe Umstände in Betracht zu ziehen hat, daß wir sagen können, wir müssen sie aus einer philosophischen Perspektive einzuschätzen versuchen.- Ja, und wenn ich nun konkret den Vorgang betrachte, in dem so eine Beurteilung zustande kommt, dann läßt sich davon natürlich primär unterscheiden die Entscheidung selbst, aus diesem Unterschied lebt ja die Moralphilosophie: die moralische Frage erhebt sich dort, wo es darum geht, ob man nun seiner besten Einsicht folgt oder nicht. Unmoralisch handelt, wer wider besseres Wissen handelt; unmoralisch verhält sich, wer seinen lasterhaften Neigungen nachgibt, obwohl er weiß, daß er sie bekämpfen sollte, oder etwas raffinierter ausgedrückt: unmoralisch handelt, wer seiner Neigung unverzüglich folgt, obwohl er weiß daß er, würde er sich die Zeit zum Nachdenken nehmen, starke Gründe finden würde, die dagegen sprechen. Na gut, wie immer man das ausdrückt, jede Formulierung dieses Standpunktes setzt eben das sogennante bessere Wissen bereits als gegeben oder zumindest als ohne weiters zugänglich voraus. Und das beste von diesem besseren Wissen haben wir die Entscheidungsgrundlage genannt in so einer Situation wie der vorhin beschriebenen. Sie ist, in Unterschiedenheit von der moralisch zu bewertenden Entscheidung selbst, also etwas Theoretisches. Es gibt einen eigenen Ausdruck dafür: die moralische Gewißheit. Die moralische Gewißheit ist die beste theoretische Einsicht, die man in einer bestimmten Erkenntnissituation erzielen kann, in der man zugleich auch aufgrund eben derselben Einsicht eine unwiderrufbare moralische Entscheidung treffen muß.

Und nun haben wir es, um unsere Frage wieder aufzunehmen, also mit dem Standpunkt zu tun, daß der ganze Nutzen und Sinn unserer Vernünftigkeit - und damit letztlich auch der Philosophie, die wir als eine Art höchste Kultur der Vernünftigkeit ansehen wollen -, daß der ganze Sinn dieser Vernünftigkeit also in der Optimierung dieser moralischen Gewißheit besteht.- Aber da frage ich mich: Muß diese Einsicht, nur weil sie als eine theoretische Einsicht von der Entscheidung selbst ablösbar ist, deshalb auch zwingend schon als eine lehrbare und als eine verallgemeinerbare Einsicht gedacht werden? Ist es wirklich so, daß eine Einsicht nur dann eine bewährte Einsicht sein kann, wenn sie sich als allgemein bewährt ausweisen kann? Könnte es nicht sein, daß es eine Einsicht gibt, die zwar insofern theoretisch ist, als sie die wirkliche Handlung noch offenläßt, die aber auf der andern Seite nur mir, nur dem einzelnen Individuum überhaupt faßbar ist? Man kann diese rhetorische Frage auch noch in eine andere und vielleicht etwas handlichere Form kleiden: Ist denn wirklich auszuschließen, daß der optimale Gebrauch der Vernunft ein egoistischer wäre, einer, dessen Nutzen ich, der ich denke, allein und für mich kassiere?- Und wenn es so ist, dann stehen wir wieder auf der anderen Seite: dann ist die Qualität, die Kraft einer Philosophie gar nicht in erster Linie nach jenen sogenannten Lehrsätzen zu beurteilen, die man einem andern Menschen in einer Unterrichtssituation oder in einem Buch beibringen oder plausibel machen kann.