Mathematik und Experiment

Ich kann jetzt in ein paar Minuten, die uns überbleiben, nichts Gehaltvolles über diese besonders wichtigen Dinge sagen. Also erwähne ich nur ein paar Punkte, über die meiner Meinung nach vor allem nachzudenken wäre.

Mathematik als Vorbild

Ein entscheidender und auch gar nicht zu übersehender Punkt ist, daß die Mathematik in der frühen Neuzeit zur “Vorbildwissenschaft” wird. Sie können hier übrigens fast immer statt “Mathematik” auch “Geometrie” sagen, nur in ausgesuchten Zusammenhängen, auf die wir nicht eingehen, gibt es da einen relevanten Unterschied. Also die Mathematik wird Vorbild für alle anderen Wissenschaften, sie wird fast zur Inkarnation von Wissenschaftlichkeit als solcher. Das ist an sich schon auch eine starke Veränderung, denn traditionell, in der aristotelischen Tradition, ist ja die Physik die Vorbildwissenschaft, der Inbegriff von Wissenschaftlichkeit.

Die Vorbildlichkeit der Mathematik ist jedoch keine einfache Sache in der Renaissance, im Gegenteil. Nämlich diese vielen Leute, die alle sagen: “Wir müssen es in der Physik so machen wie in der Mathematik, eigentlich müssen wir es auch in der Theologie so machen etc” - diese Leute meinen keineswegs immer dasselbe. Manchmal meinen sie sogar ganz entgegengesetzte Sachen. Die meisten meinen einfach die Beweissicherheit. Die Beweise des Euklid sind sicherer, überzeugender und nachvollziehbarer als die irgend eines noch so gut ausgesuchten Physikers. Wer auf diesem Standpunkt steht, kann noch immer in friedlicher Koexistenz mit dem Aristotelismus leben, denn er oder sie kann sagen: “Die Geometrie löst halt faktisch die Vorstellungen am besten ein, die Aristoteles von einer Wissenschaft hatte, aber worum es geht ist natürlich, daß wir auch die Physik in diesen Zustand bringen müssen.” Daher hat man sich in der Renaissance auch wieder verstärkt einer Aufgabe gewidmet, die schon in der späten Antike recht beliebt war, nämlich die Geometrie des Euklid in der Terminologie der Aristotelischen Wissenschaftstheorie zu rekonstruieren oder zu analysieren. Das ist übrigens niemandem je gelungen.

Es ist freilich in der frühen Neuzeit auch ein anderer Aspekt immer deutlicher betont worden, und das ist der Umstand, daß mathematische Problemlösung in Wirklichkeit anders vor sich geht, als man sowohl dem Euklid wie auch dem Aristoteles entnehmen kann. Wenn man in der Mathematik vor einer Aufgabe steht von folgender Art: “Gegeben ist eine Gerade, ein Punkt außerhalb der Geraden, und ein Abstand. Suche den Ort aller Punkt, die auf der gegebenen Gerade liegen und zugleich von dem gegebenen Punkt den gegebenen Abstand haben” - dann machen Mathematiker in Wirklichkeit etwas ganz anderes als einen Mittelbegriff zu suchen oder dgl. Wenn man die Sache so sieht, dann interessiert einen etwas völlig anderes, dann interessiert gar nicht die Beweissicherheit, sondern die Tricks und Methoden der Problemlösung, der Findung also. Und wenn man dann sagt: “Leute, das müssen wir nachmachen”, dann zielt man auf die Methode.

Aber es gibt mindestens noch eine dritte Dimension, nämlich die, wo man von der Vorbildlichkeit zu einem direkten Import übergeht. Nicht nur nachmachen, was die Mathematiker tun, sondern gleich die Mathematiker selbst ans Gerät lassen, zB in der Physik. Das ist der stärkste Sinn, den das Wort Mathematisierung annimmt: Die Naturwissenschaft wird mathematisch. Und hier liegen auch einige der interessantesten Fragen und Probleme. Es ist ja immer schon klar gewesen, daß es sich in der Geometrie um Gegenstände einer sehr eigenen Art handelt, die mit denen der Physik kaum etwas gemein haben. Solche Gegenstände wie die der Geometrie gibt es in der Wirklichkeit gar nicht, die sind in einem speziellen Sinn “imaginär”, nur vorgestellt. Also was soll es dann bringen, die Geometrie in der Physik anzuwenden? Zumindest auf den ersten Blick ist das gar nicht klar. Eine andere knifflige Frage betrifft die verschiedenen Verhältnisse von Verursachung und Begründung. “Ursache” ist ein entscheidender Begriff in der aristotelischen Physik, man möchte fast sagen, das ist der Begriff der Physik schlechthin; aber gibt es in der Mathematik eigentlich Ursachen? Gibt es da überhaupt Fälle, wo ein Ding oder Zustand eines Dings eine Veränderung in einem anderen Ding bewirkt? Wenn aber in der Geometrie die Ursächlichkeit keine Rolle spielt, wie soll die Geometrie uns dann helfen, die Ursachen der natürlichen Phänomene zu finden? Sie sehen, es gibt zunächst mehr Schwierigkeiten als unmittelbare Erfolgserlebnisse, wenn man über Mathematisierung in diesem starken Sinn nachdenkt.

Experiment

Das führt ein bißchen zu dem - oder: einem - speziellen Sinn des Experiments in der Neuzeit. Ich habe schon auf die eine oder andere Abweichung hingewiesen: daß das Experiment als Test einer ganzen Theorie verstanden werden kann, und daß es als Provokation der Natur verstanden werden kann. Wir hatten das im Zusammenhang mit dem Begriff des Empirismus angeschnitten. Die zweite dieser Besonderheiten ist auch unter dem Gesichtspunkt der Mathematisierung interessant.

Wenn die Gegenstände der Geometrie von einer grundsätzlich anderen Art sind als die physikalischen - wie kann dann Galilei folgenden berühmten Satz überhaupt sagen: “Philosophie, die wahre Philosophie, ist geschrieben in jenem grossen Buch das stets offen vor unseren Augen liegt - ich meine das Universum; aber es kann nicht gelesen werden, bevor wir nicht die Sprache gelernt haben und die Zeichen, in denen sie geschrieben ist. Das Buch ist geschrieben in der mathematischen Sprache, und die Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren - und ohne diese Mittel ist es menschlich unmöglich auch nur ein einziges Wort zu verstehen.”

Wie soll man sich das vorstellen, dieses Lesen der Dreiecke, Kreise etc in der Natur? Galilei kann doch nicht angenommen haben, daß die Physiker jetzt auf einmal in der Natur Dreiecke und Kreise sehen, die vorher niemand gesehen hat? Das wäre weniger die Leistung Galileis und seiner Nachfolger, als die Cezannes. Nein, es ist nicht einfach Sehen, es ist schon wichtig, daß er vom Lesen spricht. Nicht daß nicht auch das Lesen ein Sehen impliziert; aber zu sagen: Ich habe seinen Brief gesehen, oder: Ich habe auf dem Blatt ein paar Worte gesehen - das bedeutet auch in unserer gewöhnlichen Sprache gerade nicht automatisch, daß wir auch gelesen haben, was wir sahen. Na gut, wir wissen ungefähr, was er meint: Er meint, daß wir in den natürlichen Prozessen die mathematischen, die geometrischen Beziehungen erkennen lernen müssen. Aber wie sollen wir sie dort erkennen, wo sie doch da gar nicht sind? ZB ein wesentlicher Unterschied zwischen mathematischen und natürlichen Gegenständen, auf den schon Plato sehr aufmerksam war, besteht darin, daß die mathematischen Gegenstände immer vollkommmen das sind, was sie sind, und das was sie nicht sind, sind sie überhaupt nicht. Ein Kreis - von dem wir in einer mathematischen Aufgabe sprechen - ist nicht nur einfach nicht eckig, er ist überhaupt nicht eckig und es besteht keinerlei Aussicht oder Gefahr, daß er auf einmal eckig wird. Hingegen die Dinge in der Natur sind nie ganz vollkommen das, was sie sind, sie sind immer auch ein bißchen vom Gegenteil, wie man sagen könnte, und vor allem sind sie nie ganz vollkommen das, was die ihnen entsprechenden mathematischen Gegenstände sind. Also mit einem Wort, so wie man in den geometrischen Raum ja auch erst mal etwas konstruieren muß, so muß man dieselben Beziehungen in dem natürlichen Raum, für die Naturdinge, erst einmal herstellen. Das heißt Experiment. Die reale Verpflanzung der mathematischen Strukturen in die Natur. Die Meßlatte zB. Die Meßlatte ist ein Gegenstand, dem eine geometrische Struktur aufgezwungen ist; sie ist ursprünglich aus irgendeinem Naturgegenstand gefertigt, und sie bleibt in gewissem Sinne auch immer dieser Gegenstand. Zugleich aber ist sie etwas anderes: Abstand, reiner Abstand, reine Wiederholung der Einheit, völlig gerade etc, ideal starr etc. Oder die Skala auf einer Balkenwaage. Und was macht nun der Physiker mit diesen Dingen? Er liest auf ihnen rein mathematische Beziehungen ab, Abstände, Zahlenbeziehungen etc. Er kann das genau in dem Maße, als er diese Gegenstände selbst hergestellt hat, als diese Gegenstände Verwirklichung seiner Einbildung sind (natürlich ist das eine graduelle Sache). Auf der andern Seite jedoch sind dieselben Gegenstände, die Instrumente, auch Naturdinge und stehen immer in einer Interaktion mit allen anderen Naturdingen. Dh daß es für den Naturwissenschaftler als erstes einmal ganz primitiv darum geht, seine Meßgeräte in irgendeine absichtliche Interaktion mit andern Gegenständen zu bringen und dann zu sehen, ob aus den Daten die sich in der mathematischen Sprache ablesen lassen, auch irgendwelche signifikanten mathematischen Gesetzmässigkeiten herauszulesen sind. Und wenn das der Fall ist, dann sagt man daß man eine bestimmte sog Grösse gemessen hat und man bemüht sich eventuell noch darum, diese Grösse als die Darstellung eines Attributes zu interpretieren, das in der gewöhnlichen Sprache eingeübt ist: wie Wärme, oder Schwere, oder Geschwindigkeit. Es ist wichtig, daß man schon früh erkannt hat, daß die Grunddimensionen dieser mathematischen Sprache Raum und Zeit sind, und natürlich zunächst auch noch der Begriff der Kraft, allerdings ein völlig entdifferenzierter Begriff der Kraft. Denn es geht ja nicht mehr um irgendwelche Kräfte in den Dingen selbst, sondern der Begriff der Kraft bleibt einzig deshalb über, weil man die Schnittstelle irgendwie beschreiben muß zwischen dem Instrument und seiner Umgebung, bzw zwischen dem geometrischen und dem physikalischen Anteil in dem Instrument selbst. Nur weil man von einer Wirkung der Natur auf das Instrument reden muß, muß man auch von einer Kraft reden.

Also das Entscheidende ist: Jenseits des Umstandes, daß wir Instrumente herstellen, in denen gewisse mathematische Zusammenhänge so genau wie möglich realisiert sind, gibt es keinerlei Garantie dafür, daß wir aus der Natur mathematische Verhältnisse herauslesen können. Und das heißt: Wir müssen diese in der Sprache der Geometrie verständlichen Antworten erzwingen, und wir müssen Schritt für Schritt ausprobieren, welche Art von Frage belohnt wird. Es gibt in der Philosophie vom sechzehnten Jahrhundert bis Kant eine dauernde und sehr angestrengte Reflexion auf gewisse notwendige Rahmenbedingungen, daß das überhaupt möglich ist, diese Art von Wissenschaft. Also zB eine absolut zentrale Rolle spielt dabei der Begriff des Raumes. Was ist ein Raum in der Geometrie, was ist der Raum der physikalischen Gegenstände, können diese Räume in einer gewissen Weise so übereinandergelegt werden, daß man da einen durchgängigen Typ von Beziehungen hat etc. Aber alle derartigen Grundlagenreflexionen hätten nichts gebracht für die tatsächliche Entwicklung der Wissenschaft, wenn sie nicht begleitet gewesen wären von dem Prozeß, in dem handgreiflich die Geometrie in die Natur hineingeschrieben worden ist. Und das ist als Ganzes ein Experiment, das auch noch immer andauert und weiter geführt wird.

Das ist jetzt, am Schluß des Semesters, noch ein besonders drastischer und deutlicher Fall jener Wendung der Philosophie ins Praktische, von der ich am Anfang gesagt habe, daß sie vielleicht etwas Positiv-Charakteristisches der Renaissance ausmacht. Natürlich gibt es dann vom 17.Jh an in der Wissenschaftsphilosophie Gegenbewegungen. Tendenzen, an der Physik nicht diesen insgesamt experimentellen Charakter hervorzuheben, sondern den Aspekt des Grundlagenwissens. Newton und Kant sind da wichtig. Aber das ist nicht das Unterscheidende der modernen Naturwissenschaft. Das Unterscheidende ist vielmehr diese Einstellung, daß das Wissen nicht erworben wird durch Angleichung an etwas, das anders ist als wir, sondern durch eine spezifische, uns eigene Aktivität.