Vorlesung 12. Wissenschaft: Mathematisierung und Experiment

Inhalt
Ergänzung zum Begriff Methode
Mathematik und Experiment

Ich habe letztes Mal ausführlich und allgemein über den Begriff der Methode gesprochen, zuletzt waren wir bei einer Möglichkeit, Methode und Wissenschaft zu unterscheiden. Sie erinnern sich, der Abstraktionsschritt von der Lernsituation zu einer rein sprachlichen Struktur. Ein kleines bißchen muß ich noch sagen zur Methode, dann kurz etwas zu den beiden Punkten Mathematisierung und Experiment.

Ergänzung zum Begriff Methode

Wir waren an dem Punkt, wo wir zwischen einer Darstellungsstruktur und einer argumentativen Struktur der Wissenschaft unterschieden haben. Die Darstellungsstruktur ist die, die einen optimalen Überblick gibt, die argumentative Struktur ergibt sich aus der tatsächlichen Ordnung der Warum-Fragen. Und dann habe ich gesagt es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man glaubt, daß die logischen Beziehungen als solche immer von derselben Art sind - oder ob man glaubt, daß die Logik der Forschung eine andere ist als die des Beweisens. Die meisten Autoren haben gemeint, daß Forschung zwar etwas anderes ist als Beweisen, aber daß beide sich derselben Logik bedienen, nämlich der aristotelischen Syllogistik. Wie sind dann aber eigentlich die Unterschiede zu beschreiben?

Zwei Wege

Die einfachste Antwort ist eine Unterscheidung der Wege oder Richtungen. Wir bedienen uns beim Forschen derselben Logik wie beim Beweisen, wir arbeiten einfach in der anderen Richtung.

Wenn wir forschen, gehen wir von einem relativ komplexen und nicht völlig verstandenen Phänomen aus und versuchen durch Folgerungen auf eine notwendige Ursache dieses Phänomens zu kommen. Wir fragen: “Warum ist das [1] so (komisch)?”, dann forschen wir - forsch forsch forsch... -, und schließlich sagen wir: “Also jedenfalls wenn das [2] nicht der Fall wäre, dann könnte es [1] nicht so sein”. Wenn wir damit fertig sind, haben wir eine notwendige Folgerung von der Art “Wenn [1], dann [2]” etabliert.

Wenn wir beweisen wollen, wollen wir genau so etwas, etwas von dieser Form, sagen können: “Wenn [1], dann [2]”. Aber wenn wir die Wahrheit des Satzes oder Sachverhaltes [1] (selbst) beweisen wollen, reicht gerade das nicht aus. Da wollen wir ja nicht wissen, was sicher der Fall ist, wenn [1] der Fall ist, sondern was der Fall sein muß, damit sicher [1] der Fall ist. Also, sagt uns unser Verstand, wäre es toll wenn wir jetzt etwas hätten, was für [1] dieselbe Rolle spielt, wie [1] sie für [2] spielt. Und weil wir sehr schlau sind, erkennen wir auch, daß [2] selbst da durchaus mit dazu gehören könnte; am tollsten wäre es also, wenn wir alle Sachen überblicken könnten, die so wie [2] dabei sein müssen, damit [1] der Fall ist. Also nehmen wir an, wir hätten alle diese Sachen - wir können das insofern ruhig annehmen, als wir ja nur immer wieder denselben Vorgang wiederholen müssen, eine neue intellektuelle Anforderung tritt nicht hinzu. Und dann sagen wir: “Wenn das [2] und das [3] und das [4] .... der Fall ist”, dann - beweis beweis beweis - “ist es jedenfalls unmöglich, daß [1] nicht der Fall ist”. Wovon es unmöglich ist, daß es nicht der Fall ist, das ist notwendig. Also können wir auch sagen: “Wenn [2] und [3] etc, dann notwendigerweise [1]”. Und das können wir auch umkehren in “Wenn nicht [1], dann jedenfalls nicht [2] und [3] etc”. [1] ist eine notwendige Folge von allen diesen [2], [3] etc. Es ist bewiesen.

Sie müssen jetzt nur zwei Ausdrücke miteinander vergleichen, den Ausdruck aus dem ersten Teil:“Also jedenfalls wenn das [2] nicht der Fall wäre, dann könnte es [1] nicht so sein” und den Ausdruck aus dem zweiten Teil: “Wenn nicht [1], dann jedenfalls nicht [2] und [3] etc”. Und da erkennen Sie leicht, daß das dieselbe Form ist. Das einzige, was hier differiert, ist die Stellung - und das ist eben die Umkehrung der Richtung.

Also auf diese Weise etwa ist motivierbar - und ist auch tatsächlich motiviert worden -, daß der Unterschied von Forschen und Beweisen vor allem darin besteht, daß wir ein Feld, das immer auf ein und dieselbe Weise strukturiert ist, in verschiedenen Richtungen durchwandern. Das ist, wie sich letztlich erwiesen hat, eine allzu naive Vorstellung. Aber man darf nicht ungerecht sein und muß anerkennen, daß auch schon auf der Basis dieser Vorstellung wichtige Akzente gesetzt werden konnten. Ich verweise Sie noch einmal auf die Vorlesung, die ich im vergangenen Sommersemester gehalten habe, “Kant und die Methode der Philosophie”, die steht ja auch im Web unter der Adresse: "http://heihobel.phl.univie.ac.at//per/rh/ellvau/kaweb/k0PXT.HTM"; und zwar habe ich da insbesondere in der fünften und sechsten Vorlesung einige Dinge gesagt, die hierher gehören, also jetzt erwähne ich nur Stichworte.

ZB wenn man der Ansicht ist, daß man sich beim Finden einer notwendigen Bedingung in derselben logischen Struktur bewegt wie bei dem Beweis, daß eine Bedingung hinreichend ist, dann ist es ja vielleicht nur eine Frage der Akzentsetzung, ob man beides zusammen genommen nun einen Beweis nennt oder eine Methode. Und das ist im 16. Jh eine starke Tendenz, daß man es eine Methode nennt. Damit gibt man einer geänderten Präferenz Ausdruck. Ein wenig konkreter und interessanter wird es schon, wenn man sich fragt, wie das eigentlich funktioniert, diese Zusammenfassung von mehreren notwendigen Bedingungen zu einer hinreichenden. Ist das so selbverständlich? Ist es natürlich nicht. In Wahrheit steckt da ein ungeheures Problem. Giocomo Zabarella, ein Aristoteliker des 16. Jh, hat zumindest erkannt, daß dieses Problem besteht. Wie weiß ich, daß ich wirklich alle Bedingungen habe? Was heißt hier überhaupt “alle”? Kann ich das anders herausbekommen als durch Probieren, dadurch, daß ich probiere, ob sich die Konklusion (die zugleich das Ausgangsphänomen ist) schon ableiten läßt? Aber wenn das prinzipiell nur durch Probieren geht, dann ist das, was ich da beschreibe, eben keine effektive Methode. Zabarella hat sich daher entschieden, den Punkt, an dem der eine Weg in den anderen umschlägt, als ein eigenständiges drittes Element der Gesamtmethode (wie er es sieht) anzusetzen. Die Integration mehrerer notwendiger Bedingungen zu einer hinreichenden ist ein eigenes, nicht-triviales Element der Wissenschaft.

Aber auch das ist seinerseits nur eine Art Vorbedingung für die Entwicklung eines neuen Selbverständnisses der Wissenschaft, wie wir es dann bei Galilei finden. Der echte Durchbruch gelingt erst in dem Maße, wie man sieht, daß Beweisen und Forschen doch nicht dieselbe logische Struktur benützen, zumindest nicht, wenn man davon ausgeht, daß das die syllogistische Struktur ist. Ich habe vorige Woche schon angedeutet, daß das der Sache nach darauf hinausläuft, daß man sich den Unterschied von deduktiver und induktiver Logik klarmacht. Aber wir wollen es jetzt nicht von dieser Seite her besprechen, sondern ich gebe Ihnen nur einen kleinen Hinweis, worum es da geht, und zwar aus einer sehr späten und sehr speziellen Perspektive. Das ist die Perspektive von Descartes. Descartes kann man nicht mehr wirklich als einen Philosophen der Renaissance ansehen, aber er ist zumindest an diesem besonderen Punkt Vollstrecker eines Motives der Renaissance.

Er hätte die Sache ungefähr so gesehen. Wenn wir einen Syllogismus haben von der Art “Alle Athener sind Griechen. Alle Griechen sind Menschen. Also sind alle Athener Menschen”, dann wird das manchmal so dargestellt, als wäre die Aufgabe, bei gegebenen Prämissen die Konklusion zu finden. Aber das ist erstens nur die eine Seite, und zweitens ist es ja völlig trivial. Das kann jeder Trottel. Viel interessanter und wichtiger ist die andere Seite, nämlich wenn man die Konklusion hat, die Prämissen zu finden. Hier erst erkennt man die Bedeutung der Syllogismustheorie. Die liegt darin, daß sie diese Aufgabe signifikant zu präzisieren erlaubt. Die Prämissen zu finden läuft auf nichts anderes hinaus, als einen Mittelbegriff zu finden. Einen Begriff Y zu finden, den man von allen Athenern aussagen kann, und von dem man in jedem Fall “Mensch” aussagen kann. Das ist in unserem Beipsiel der Begriff “Grieche”. Wenn ich den Begriff habe, dann liefert mir die Syllogismustheorie automatisch die richtige Schlußform. Den Begriff muß ich nach dieser Anweisung zwar noch immer selbständig finden, aber ich weiß genau wie ich dabei vorzugehen habe. Insofern scheint die Welt ganz in Ordnung, insofern scheint noch zu gelten, daß wir auf beiden Wegen dieselbe Struktur haben. Aber das ist nur ein Anschein. Er verschwindet sofort, wenn wir die völlig künstliche Vereinfachung aufgeben, daß wir nur einen Mittelbegriff suchen müssen. In der Wirklichkeit ist es aber nie so. Das habe ich bereits letzte Stunde angedeutet als wir über den Unterschied sprachen zwischen der darstellenden Struktur und der argumentativen Struktur. In Wirklichkeit haben wir es immer mit Problemen zu tun, wo wir gar nicht wissen, wie viele Syllogismen wir beim Beweis werden ineinander schachteln müssen, wieviele Mittelbegriffe also gefunden werden müssen, die zwischen Subjekt und Prädikat einer vorgelegten Konklusion vermitteln. Descartes hat erkannt, daß das genau der Unterschied ist, der zwischen der Aufgabe besteht zwischen zwei Zahlen eine mittlere Proportionale zu finden, und der Aufgabe sagen wir drei sieben mittlere Proportionale zu finden. In der Mathematik ist das ein enormer Unterschied, das ist einfach ein anderer Schwierigkeitsgrad, eine höhere Komplexitätsstufe. Wenn man das eine kann, kann man das andere noch lange nicht. Aber man kann es immerhin lernen, man kann den Übergang schaffen. In der Logik ist es noch viel ärger. Da sagt uns die Syllogismustheorie nämlich gar nichts. Die hat da nichts zu sagen dazu. Die sagt höchstens: “Na da mußt du halt schauen, daß du irgendwie auf den Fall zurück kommst, wo nur ein Mittelbegriff fehlt, und dann helfe ich dir weiter”. Aber genau das war ja die Frage, wie man es macht, daß man auf diesen einfachen Fall zurück kommt. Also ist das gar keine Antwort. Genau vor einer Aufgabe dieser Art steht man aber immer, wenn der methodische Prozeß der Wissenschaft beginnt. Also diese Darstellung, die ich da vorhin gegeben und vorausgesetzt habe, ist in Wahrheit gar nicht realistisch gewesen. Daß man eine notwendige Bedingung nach der anderen sucht, und dann integriert man die auf irgendeine mystische Weise zu einer hinreichenden. Das gibt es nicht. Wenn wissenschaftliche Forschung methodisch möglich sein soll, dann hat diese Methode auf jeden Fall eine prinzipiell andere und vor allem komplexere Struktur als die aristotelische Syllogistik.

Also das war jetzt nur ein Hinweis.