Körper, Organ, sensation

Was wir soeben besprochen haben liegt, wenn man es nur für sich nimmt, ein wenig quer zu unserem Thema: die Fragen von Abbildlichkeit und Ausdruck waren nicht direkt betroffen. Jene sogenannte Strukturbeschreibung ist für uns aber wichtig gleichsam als Austragungsort oder Voraussetzung für gewisse Thesen von Deleuze, auf die ich jetzt abschießend komme. Man könnte, anknüpfend an einen Punkt, wo wir gerade waren, sagen: Da haben wir also einen menschlichen Körper, der will durch seinen Mund oder durch ein Waschbecken in eine flache Materialität hinaus fliehen. Eine eigenartige Geschichte, aber immerhin eine Geschichte. Wenn wir das so ausdrücken, können wir aber nicht mehr so einfach bei der Behauptung bleiben, daß es sich um nicht-figurative Malerei handelt. Nämlich wenn diese Beschreibung richtig ist, wenn sozusagen die Geschichte zutrifft, dann wäre das ja Repräsentation in genau dem Sinn, den Bacon so entschieden ablehnt:

... the moment the story is elaborated, the boredom sets in; the story talks louder than the paint...

Also wenn die Beschreibung stimmt, dann darf sie jedenfalls nicht so verstanden werden, daß diese Geschichte abgemalt ist in den Bildern. Und wir müßten für die Beschreibung eine Deutung suchen, die solche Fragen gar nicht erlaubt wie: Aha, da sind also Körper dargestellt, und wie erkennt man, daß das Körper sind - na ja, weil er eben doch bis zu einem gewissen Grad den Gesetzen folgt, die es in der Malerei für die Darstellung des Körpers gibt. Die Geschichte darf sich, mit einem Wort, nicht dramatisierend auf etwas beziehen, was aufgrund einer anderen Vorgeschichte, einer anderen Gesetzlichkeit schon da ist. Sondern man muß diese Geschichte so auffassen können, daß sie die erste, die primäre ist, und alles andere sich gleichsam in ihrem Rahmen abspielt. Pointiert gesagt: Wir müssen diese Geschichte so auffassen, daß die Fläche, von der sie sagt, daß der Körper dort hinaus will, eben die Fläche ist, auf der wir das alles abzulesen gemeint haben, die Fläche der Leinwand.

Das ist jetzt natürlich eine schwierige und subtile Sache, auf die wir nicht gleich in voller Breite eingehen können; es gibt sehr viel Problematisches und Klärungsbedürftiges in diesem Ansatz, zB allein schon die Frage, ob in seiner Konsequenz das, was wir auf der Leinwand sehen, also als eine Art Allegorie seines eigenen Entstehungsprozesses aufgefaßt werden muß etc. Wie gesagt, dem will ich mich jetzt nicht gleich konfrontieren, sondern ich greife nur eine einzelne konkrete Frage heraus, die Frage: Wie wissen wir denn, daß das da ein Körper ist auf der Leinwand? Wie ist der Körper auf die Leinwand gekommen?

Allgemein genommen ist diese Frage ziemlich vieldeutig, da könnte Verschiedenes gemeint sein, und wenn man verschiedene Antworten ansieht, dann weiß man oft nicht, ob sie auch die Antworten auf dieselbe Frage gewesen sein können. Ich gebe drei Beispiele einfach mithilfe von Bildern.

Abbildung 3-9. Yves Klein 1960: Anthropometrie

Da sehen wir endlich einmal ganz genau, wie der Körper aufs Bild kommt. Wir sehen den Vorgang, und wir sehen auch, wie das Resultat aussehen wird. In einem gewissen Sinn können wir diese Antwort in der bisher benützten Sprache würdigen: Was dann auf der Leinwand zu sehen sein wird, ist tatsächlich die Figur dieses Körpers. In anderer Hinsicht ist aber gewiss die Frage nicht so gemeint gewesen, daß das die einzig richtige Antwort wäre. Schauen wir auf einen ganz anderen Fall:

Abbildung 3-10. Südansicht von Schloß Königstein, Bernardo Bellotto gegen 1760

Es ist klar, daß der Maler die Körperlichkeit dieser Gebäude in einer außerordentlich intensiven und überzeugenden Weise ins Bild gebracht hat, und es ist auch klar wie: mithilfe des Kodes der Perspektive. Das ist also eine Antwort auf unsere Frage, aber gewiß eine, die für Bacon keine Gültigkeit hat. Und jetzt noch ein abschließendes Beispiel:

Abbildung 3-11. Komposition mit Rot, Gelb und Blau, 1927 von Mondrian

Ich weiß nicht sicher, ob da überhaupt ein Körper ist auf der Leinwand. Aber es könnte sein - man müßte sich halt entweder damit auskennen oder näher damit beschäftigen oder vielleicht einfach nur ein paar Stunden meditieren. Es könnte sein. Und wenn, dann wäre er dahin aber auf sehr eigene Art gekommen: durch eine Art Auffaltung oder Zerlegung, vielleicht eine Zerlegung in seine Flächen, seine Farben, sein Gerüst. Wie gesgt, ich will da nicht weiter herumtheoretisieren, ich hätte vielleicht lieber ein Bild besorgen sollen wie Picasso's Mädchen mit Mandoline von 1910, das sind nur Beispiele dafür, wie vielfätig unsere Frage ist - Wie kommt der Körper auf die Leinwand?

Die Antwort jedoch, die Bacon gibt, die vor allem Deleuze aus ihm herausliest, lautet so: Im Körper ist eine Kraft, mit der er aus sich heraus will, in die Materialität, in die Fläche. Diese Kraft auszuagieren, ist der Akt des Malens. Wenn der Körper in der Fläche angekommen ist, wenn Sie mir gestatten, das so direkt auszudrücken, also wenn er angekommen ist, dann ist er Figur. Aber es ist noch immer der Körper, dh diese Kraft ist noch immer in ihm, sie wirkt noch in dem Bild selbst, sie ist nicht erstorben in dem Augenblick, wo das Bild fertig ist. Es gibt eine Stelle in den Unterhaltungen mit Sylvester, wo vielleicht nicht ganz exakt dieser Punkt, aber doch die Sache, um die es dabei geht, getroffen wird. Bacon sagt etwas zu dem Verhältnis des Bildes - im Sinne von image oder Anblick, also im inhaltlichen Sinne - zu seiner materiellen Realisierung. Und er meint, daß die entscheidende Sache um die es da geht, die Dauer ist, das Verleihen von Dauer an das Bild. Damit meint er aber überhaupt nicht Statik oder Unveränderlichkeit, sondern etwas Dynamisches:

And, of course, images accumulate sensation around themselves the longer they endure...

Sensation heißt hier Empfindung, da ist der Bereich des Affektiven angesprochen, das macht Bacon dann auch gleich noch einmal klar, wenn er sagt:

Why, after the great artists, do people ever try to do anything again? Only because, from generation to generation, through what the great artists have done, the instincts change. And, as the instincts change, so there comes a renewal of the feeling of how can I remake this thing once again more clearly, more exactly, more violently...

Er sagt nicht einfach: Die Zeiten ändern sich, die Sensibilitäten ändern sich, also muß der Papst Innozenz X jetzt wieder frisch gemalt werden, sondern er sagt: Durch die Leistung der großen Meister ändern sich die Instinkte. Also in ihrer Haltbarkeit durch die Zeit stehen die Werke in einer dynamischen Beziehung zu unserer Sensibilität. Am Rande, das ist jetzt nur nebenbei angemerkt, erinnere ich daran, daß in dem Buch Qu'est-ce que la philosophie? Deleuze das Kapitel, wo es um die Affekte geht, genau mit diesem topos beginnen läßt:

Le jeune homme sourira sur la toile autant que celle-ci durera. ... Dans un roman ou dans un film, le jeune homme cessera de sourire, mais recommencera si l'on se reporte à telle page ou à tel moment. L'art conserve, et c'est la seule chose au monde qui se conserve. ... Ce qui se conserve, la chose ou l'oeuvre d'art, est un bloc de sensations...

Also das war nur eine Anmerkung nebenbei, zurück zu Bacon.

Und zwar gehen wir zurück zu diesem Grundelement seiner Antwort, daß der Körper nicht dadurch ins Bild kommt, daß er sich auf der Leinwand abdrückt und auch nicht durch Vermittlung einer vorgegebenen Gesetzlichkeit wie der Perspektive, sondern durch eine passage sui generis. Und da kommt das eigentliche Schlüsselwort: Empfindung, sensation. Nicht als Abdruck, nicht als Abbild, sondern als Empfindung kommt der Körper ins Bild.

Gerade hier muß man besonders vorsichtig sein, um nicht in die ärgsten Mißverständnisse zu fallen. Denn in gewisser Weise ist es natürlich immer Empfindung, durch die der Körper auf der Leinwand lokalisiert wird: daß irgendwelche Marken sind auf der Leinwand von denen wir eine Empfindung haben, und aufgrund irgendwelcher zusätzlicher Regeln können wir nicht anders als da einen Körper zu sehen (diese Regeln können die der Perspektive sein oder irgendeine semantische oder sozio-semio-öko-grammatische Tiefenstruktur, das ist ganz egal); das würde ich sagen ist eine rekonstruktive Perspektive, und das interessiert uns nicht. Die Frage, die in Hinblick auf Bacon ausschlaggebend ist, liegt dazu quer: Wie kann ich einer Empfindung, die in meinem Körper ist und ihn determiniert, Existenz auf der Leinwand geben?

Da sind wir jetzt bei einer Frage gelandet, die ganz unmittelbar unser Interesse an dem Begriff des Ausdrucks berührt. Und Sie sehen jetzt, so hoffe ich, daß jener zweite Komplex, den ich angesprochen habe als Strukturbeschreibung (Körper, Ort, Raum und Kraft) - daß der außerordentlich wichtig ist, weil er Einiges vorgibt für die Formulierung des Problems des Ausdrucks.

Also natürlich, diese Frage: Wie kann ich einer Empfindung, die in meinem Körper ist und ihn determiniert, Existenz auf der Leinwand geben? - das ist schon eine Frage, die einen hohen theoretischen Aufwand lohnen wird, und bei Deleuze wird sie auch ziemlich systematisch behandelt und mit einigen philosophiegeschichtlichen Bezügen. Das heben wir uns für später auf, ich deute jetzt nur zwei Ideen an, die einerseits für Bacon, anderseits für Deleuze besonders charakteristisch sind in ihrem jeweiligen Zugang zu dieser Sache.

Also wenn diese passage stattfindet vom Körper ins Bild, in die Fläche, und dann kommt der Körper dort sozusagen als Empfindung an (wir dürfen übrigens nicht vergessen, daß ein eigenes Problem die Doppelung sein wird, daß er ja auch als Figur ankommt!) - also er kommt als Empfindung an: Ist da die Empfindung erhalten worden, die ursprünglich im Körper war, ändert die sich, erzeugt sie weitere Empfindungen, oder wie soll man sich das vorstellen? Und da ist es nun so, daß Bacon selbst einen wichtigen Hinweis gegeben hat. Er spricht immer wieder von der Empfindung als etwas, was von einer Ordnung zu einer anderen, von einer Ebene auf eine andere, von einem Bereich in einen anderen übergeht. Und das muß man dann analysieren, was das bedeuten mag, und da muß man dann versuchen, etwas für das Problem des Ausdrucks herauszuholen.

Genau so eine Auseinandersetzung führt Deleuze, aber jetzt deute ich eine Idee an, die er da gewissermaßen noch draufsetzt, die für ihn charakteristisch ist. Er meint, wir brauchen in diesem Zusammenhang überhaupt eine neue Sicht des Verhältnisses von Leben, Körper, Empfindung. Man muß den Körper noch tiefer sehen als wenn man ihn als Organismus sieht. Die Beziehung von Empfindung und Organ muß anders gedacht werden. Um die Möglichkeiten jener Kraft, um die es sich bei dieser passage handelt, abschätzen zu können, muß man über die Bestimmung des Körpers als Organismus hinausdenken - dépasser l'organisme. Man muß mit einer Kraft rechnen, die tiefer ist als der lebende bzw gelebte Körper - Kraft eines organlosen Körpers, un-organische Vitalität. Wir stellen uns eine Welle oder Kraft vor, die den organlosen Körper durchläuft, Sensationen auslöst, dann Organe sich bilden und wieder verschwinden läßt. So kann man sich vorstellen, daß eine sensation sich im Körper deplaziert gewissermaßen, von einer Ordnung in eine andere übergeht und schließlich in der Figur auf der Leinwand präsent ist, aber zugleich noch immer dem Körper angehört. Deleuze spricht dann auch von einer parallelen Befreiung des Auges - also Befreiung des Auges aus seiner organischen Einschränkung, seiner Fixierung in einen so und so organisierten Körper. Vielleicht verstehen wir diesen letzten Gedanken leichter, wenn wir von einer Befreiung des Sehens sprechen - jedenfalls können wir dann sehen, daß er in einer historischen Dimension der Entwicklung der modernen Malerei bestimmt fruchtbar gemacht werden kann.

Ich möchte jetzt zum Abschluß den letzten Punkt, den wir eben besprochen haben, noch einmal aus einer etwas veränderten Perspektive aufnehmen, weil ich auf diese Weise noch zwei Themen oder Begriffe ansprechen kann, die wichtig sein werden. Wir haben das ja jetzt aus einer theoretischen Perspektive angesehen, ich meine auch die Redeweise Bacon's vom Wechsel der Empfindung aus einer Ordnung in eine andere, das ist ja ein theoretisches statement. Jetzt schauen wir uns dieselbe Sache aus der Perspektive der Beschreibungen an, die der davon gibt, wie er tatsächlich vorgeht beim Malen, zB eines Porträts.

Es ist zunächst keineswegs eine weiße Leinwand im Sinne von Leere da, sondern eine Empfindung, ein Affekt - verbunden sagen wir mit einer Person. Und zweitens sind natürlich auch da tausenderlei clichés, fest etablierte Beziehungen: also durchaus figurative Gegebenheiten, wie Fotos, aber auch malerische Stereotype wie die Vorhangquasteln. Die können mit der Empfindung genau so verbunden sein wie die Person. Wenn man jetzt auf den Akt des Malens als solchen schaut, dann sind das alles Faktoren, die den Zustand der Leinwand von Anfang an determinierern; vielleicht nur virtuell, aber sie können auch wirklich hingemalt werden, um für den Maler diesen Zustand irgendwie zu markieren, als Merkzeichen oder dergleichen. Und dann kommt dazu eventuell eine Skizze der Umrisse. Das sind alles Gegebenheiten. Aber für Bacon geht die Sache eigentlich erst los mit dieser Aufgabe: eine Falle stellen für das lebendige Faktum. Einschaltung des Zufalls. Und es beginnt, was wir eben angesprochen haben - Entdifferenzierung, Entorganisiserung. Es war ursprünglich vielleicht so: eine Empfindung in meinem Körper, die einschließt ein Bild vom Körper eines anderen Menschen in einer bestimmten Situation usw. Aber jetzt wird das alles von einem Zufallsakt durchfahren und so geht die Empfindung in eine andere Ordnung über. Ein Darüberwischen mit einem Fetzen zB kann so ein Zufallsakt sein. Also da haben wir dieses Thema Zufall, das ich glaube ich schon in der ersten Stunde erwähnt habe. Aber jetzt ist mir auch wichtig gewesen, den Begriff des cliché untergebracht zu haben. Denn das ist ein Scharnier, das uns eine Wendung erlaubt zu de Kooning hin, und ganz besonders zu dem Bild, das in Wolfram Pichler's Seminar behandelt wird.

Der zweite neue Begriff ist der des Diagramms. Das hat einen Anhalt in Bacon's eigenen Äußerungen, glaube ich, aber vor allem hat Deleuze sehr viel daraus gemacht. Und zwar geht es da um Folgendes: Was sich hergestellt hat, sagen wir auf der Leinwand selbst, nachdem so ein Zufallsakt stattgefunden hat, das ist das Diagramm. Das Diagramm ist sozusagen die Katastrophe oder das Resultat der Katastrophe, die über die Gesamtheit der Gegebenheiten (= clichés) hereinbricht. Und von diesem Punkt an wird weitergearbeitet. Das Diagramm gibt eine Dynamik vor, eine Farbe vielleicht, oder einen Komplex von Mehrerem dieser Art. Daran wird alles Weitere orientiert. Also insbesondere wenn es um die Ähnlichkeit geht: die wird durch das Diagramm sozusagen hindurchgesteuert. Das Diagramm ist kein Code: es zerlegt die Sachen, die durch es durchgehen, nicht in konstante elementare Einheiten oder Aspekte, um sie daraus dann wieder zusammenzubauen. Sondern es wirkt als Ganzes auf die durchgehenden Sachen als ganze. Es moduliert, statt zu codieren. Eine analoge Sprache.

In der Literaturliste habe ich diesmal, weil wir uns ja an Deleuze angelehnt haben heute, die Sachen zusammengeschrieben, die auf ihn Bezug haben.

Insgesamt haben wir nun eine erste Phase der Vorlesung, die vorbereitende Phase, abgeschlossen. Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, Ihnen einen vorläufigen Überblick zu vermitteln über Möglichkeiten des Zugangs zum Thema (das war in der ersten Stunde), über den Maler Francis Bacon, das war vorige Woche, und schließlich noch über theoretische Schwerpunkte, die sich für uns aus seinem Werk ergeben. Nächste Woche fangen wir mit der Arbeit an dem ersten dieser Schwerpunkte, Repräsentation, an.