Übergang zu: Raum und Ort

Zusatz zu: Figur und Grund

Wir kehren jetzt in den Gang unserer Überlegung zurück, aber ich bleibe noch einen Augenblick bei Elkins, weil es bei ihm nämlich ein ganzes Kapitel gibt zu dem Thema 'Figur und Grund', das wir behandelt haben. Mit der Figur/Grund-Unterscheidung setzt er sich deshalb so ausführlich auseinander, weil sie historisch als einer der gewichtigsten Anwärter gelten kann für das Elementare am Bild; und zwar vor allem in jenen Strängen der Theoriebildung, die explizit philosophische Ansprüche stellen. Das ist also ein kritisches Interesse und man kann eine Menge lernen über Ansätze von Aristoteles über verschiedenste psychologische Theorien bis Merleau-Ponty und Heidegger. Dazu würde ich sagen, daß die meisten dieser Ansätze in zweierlei Hinsicht von dem abweichen, was ich Ihnen nahelegen wollte. Erstens darin, daß sie eben die Unterscheidung als Ganze, die ganze Figur/Grund-Beziehung als elementar annehmen, während ich zunächst mal den Begriff Figur ins Spiel gebracht habe und die Existenz eines Grundes (in scharfem Unterschied zum bloßen Träger, dem Wollheim'schen support!) als ein weiteres Element von Figuralität bezeichnet habe. Der andere Unterschied liegt darin, daß fast alle diese psychologischen, aber auch die philosophischen Theorien, sich in der Perspektive der Wahrnehmung halten: Die Figur/Grund-Differenz ist für sie deshalb elementar, weil sie eine fundamentale Strukturgegebenheit der Wahrnehmung ist. Das ist natürlich eine Dimension von großer Bedeutung, aber ich habe sie eigentlich noch nicht thematisiert. ZB diese vielen Experimente, mit denen gezeigt wird, unter welch eigenartigen, extrem unwahrscheinlichen Umständen wir noch immer eine Figur von einem Grund sich abheben sehen: Dafür haben wir uns gar nicht interessiert, sondern nur für den einfachsten denkbaren Fall, wo am Träger durch Auftrag der Figur die Wandlung zum Grund sich vollzieht.

Anderseits entwickelt Elkins in diesem Kapitel natürlich auch eine Menge hoch anregender eigener Ideen, zB über den Zusammenhang der besteht zwischen der Aufmerksamkeit auf die Relation Figur - Imagination einerseits, und der Entwicklung der Zeichnung in der Zeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Ich hebe keine einzelne dieser vielen wertvollen Anregungen hervor, sondern nur den wesentlichen allgemeinen Punkt: Daß alle relevanten Übergänge, die es da gibt, von der Marke zur Figur, von der Figur zur Figur/Grund-Differenz, vom Grund zum Raum - daß alle diese Übergänge immer hochkomplex und nie selbverständlich sind. Wenn der Grund, der gerade erst noch überhaupt in malerische Intention aufgenommen worden ist, zum leeren Raum wird, dann kann das erstens auf vielerlei Weise geschehen (siehe Ende der letzten Vorlesung), und es ist immer schwierig und prekär. Es kann nicht nur so gehen, wie ich beispielhaft gesagt habe, daß die Figuren sich in sich selbst abschließen und dadurch eine Leere um sich herum schaffen, einen Abstand auch zum Grund, es kann insbesondere in der Zeichnung auch genau umgekehrt gehen: Daß die partielle Auflösung von Konturen andeuten kann, daß gewisse Teile der Figur tiefer in den Grund hineinreichen, der damit anfängt als Raum zu erscheinen. Also jetzt haben wir endgültig wieder den Anschluß gefunden.

Raum und Ort

Sagen wir also, wir haben nicht nur Figur, Grund und Flächen, sondern auch einen Raum. Sei es daß wir ihn haben als Folge einer künstlich herbeigeführten Trennung von Boden und Hintergrund, oder sei es aufgrund von Farbwirkungen (in deren Folge sich dann eventuell Boden und Hintergrund trennen), oder aufgrund komplexerer Lösungen wie der Zentralpserspektive. In der Gestaltung dieses Raumes können dann zB Flächen eine eigene Schlüsselrolle übernehmen. Und jetzt sage ich eben, daß von hier aus der Ort noch einmal etwas Zusätzliches, eine eigene Erweiterung darstellt. Daß es eine Rolle spielen kann, und zwar eine wesentliche Rolle spielen kann, daß die Figur nicht nur in einem Raum ist, sondern darüber hinaus auch einen Ort hat. Etwas in dem Bild - das kann seinerseits Fläche sein oder Figur oder Boden oder sonstwas, was wir noch nicht in Betracht gezogen haben -, wo sie auf privilegierte Weise anwesend ist. Sie erinnern sich ja, daß das in der Strukturbeschreibung von Deleuze das zweite wesentliche Datum war: Es gibt die Figur, es gibt einen Ort für sie, und es gibt (drittens) dazu eine Umgebung, die charakteristischerweise flächig ist.

Möglichkeiten der Unterscheidung

Aber eine ganz andere Sache, als diese Aussage durch ein paar schöne Beispiele plausibel zu machen, ist es natürlich den Unterschied zwischen Ort und Raum ein bißchen zu erklären. Wir haben nicht die Möglichkeit hier, das auf eine verbindliche Weise zu tun, und ich gebe Ihnen also wieder nur Richtungen an, in die zu denken sich lohnt meiner Meinung nach.

Das erste ist sich klarzumachen daß es in der Tat mindestens eine Betrachtungsweise gibt, unter der die beiden Begriffe Raum und Ort aufeinander reduziert werden können (in welcher Richtung man beliebt). Die uns geläufigere Reduktion ist die des Ortes auf den Raum. Daß sie uns geläufig ist heißt nicht, daß wir alle verstehen wie und warum eine Angabe über Verhältnisse im Raum die Frage nach dem Ort eines Dinges beantworten kann. Solche Verständnisschwierigkeiten machen sich meist bemerkbar als terminologische Bauernschläue. Diskussionspartner A sagt: 'Wenn in Frage steht, wo ein bestimmtes Ding ist, dann ist die richtige Antwort die Angabe des Ortes (was immer ein Ort genauer betrachtet sein mag).' B dagegen: 'Auf den Begriff des Ortes können wir modernen Menschen verzichten, wir beanworten solche Fragen, indem wir eine Stelle im Raum angeben.' Wenn A nicht eine (speziell) g'studierte Person ist, wird sie jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit triumphierend sagen: 'Na so ein billiger Unsinn, da sieht doch ein jeder, daß Du mir in Wahrheit nur Recht gegeben hast, denn Stelle ist ja nun wirklich nichts anderes als ein anderes Wort für Ort. Und ganz im Gegenteil zu Deiner angeberischen Modernität werde ich Dir jetzt sagen, weil wir gerade dabei sind, daß es genau umgekehrt ist: Den Raum können wir vergessen, denn der ist ja nichts als die Gesamtheit der Orte - oder Stellen, wenn's beliebt und die Niederlage mildert.' Das klingt, wie gesagt, vielleicht ziemlich toll und und schlau, aber es hat keinen Wert. Was die meinen, die in dieser Frage für den Primat des Raumes optieren, ist natürlich von vornherein was anderes, als daß der Raum die Gesamtheit der Stellen oder von sonstwas ist, was es schon unabhängig von ihm gibt. Worauf die sich beziehen, das sind Theorien, in denen so ein Begriff wie Stelle seinerseits aus anderen, grundlegenderen Begriffen entwickelt wird gemeinsam mit dem Begriff des Raumes und wo es schon seine Richtigkeit hat zu sagen: Die Frage nach dem 'Wo' eines Dinges wird durch Angaben über eine bestimmte Art von Verhältnissen gemacht. Leibniz zB hat so eine Theorie entwickelt, aus Grundbegriffen wie Relation, Veränderung und Identität. Also aus dieser Sicht kann man den Begriff Ort eliminieren. Wenn's um das Wo geht, geht es um räumliche Beziehungen. Ich sage damit nicht, daß diese Option keine Folgeprobleme hat. ZB kann jemand sagen: Na ja, wenn das so abstrakte Beziehungen sind, so mathematisches Zeug vermutlich, wie kann man auf deren Grundlage Aussagen über das Wo-Sein konkreter, einzelner Dinge machen? Das ist doch nicht möglich wenn man immer nur über Verhältnisse redet und niemals darüber, wovon das die Verhältnisse sind oder vor allem: wozu! Wenn ich sage: Der Fettfleck ist 5cm vom oberen und 7cm vom linken Rand meiner Hemdbrust, dann kann jemand, der nicht weiß wo das Hemd und also die Begrenzungen seiner Vorderseite sind, den Fleck nicht finden und wegputzen. Wenn aber die nächste Angabe, die jetzt die Hemdbrust betrifft, wieder nur eine Relation zu etwas anderem herstellt usw usw - dann drängt sich doch der Gedanke auf, daß es da irgendwelche Sachen - oder zumindest eine Sache - geben muß, die man quasi an sich finden kann. Das ist schon richtig, daß es da ein Problem geben kann. Leute wie Newton und Kant haben aus diesem Grund recht inständig an der Vorstellung eines universalen Gravitationszentrums zB herumgekaut. Aber kein Mensch sagt, daß die Wiedereinführung des Begriffes 'Ort' dieses Problem löst.

Anderseits ist in der Tat, bis zu einem gewissen (bescheidenen) Grad der Einbeziehung weiterer physikalischer Fragen, auch die umgekehrte Reduktion möglich. Die aristotelische Ortsdefinition bietet ein Beispiel, eigentlich schon mehr als ein Beispiel. Sie lautet in etwa so: Wenn ein Ding A gegeben ist, und wir fragen nach dem Ort dieses Dinges, dann ist das die konkave Innenfläche des nächstgelegenen nicht-beweglichen umhüllenden Dinges. Ein wenig deutlicher buchstabiert: Der Ort des Dinges A ist die Innenwand eines Dinges B, von dem A eingehüllt wird, mit dem zusätzlichen Vorbehalt, daß dieses Ding B unbeweglich sein soll. Ich kann jetzt auf Motive, Vorteile, Nachteile und Geschichte dieser auf den ersten Blick so eigenartigen Definition nicht eingehen. Im Grund geht es um eine gewisse Balance zwischen verschiedenen Schwierigkeiten, die man mit dem Ortsbegriff auf jeden Fall hat; Aristoteles will einerseits darauf bestehen, daß Orte prinzipiell etwas anderes sind als die Dinge, von denen sie die Orte sind; im Speziellen ist sein Ort eine Abstraktion von einer bestimmten Art von Ding, er ist die Innenwand eines Gefässes, betrachtet als eigene physikalische Entität. Anderseits ist durch die Struktur der Definition auf jeden Fall die Existenz eines zweiten Dinges oder Körpers (zusätzlich zu A) impliziert, nämlich eben des Gefässes. Wenn es überhaupt nur ein Ding gäbe im Universum, dann könnte man grundsätzlich die Frage nach seinem Ort nicht beantworten.

Wie dem auch sei, diese Ortsdefinition legt mehr oder weniger indirekt natürlich auch ein gewisses Bild von Raum nahe, nämlich von Raum als Zwiebel. Ding A hat einen Ort, der wird sozusagen zur Verfügung gestellt von B, das für A eine Schale darstellt, seinerseits aber auch einen Ort hat in der Schale, die C zur Verfügung stellt usw. Das ist jenes Bild vom Kosmos insgesamt als einer Folge um einander herum gelegter Sphären, und verschiedene Gegenden im Kosmos sind dann zB voneinander verschieden dadurch, daß sie mehr oder weniger weit aussen liegen.

Die Gegensätzlichkeit hat in der Tat einen historischen, ideen-, wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Sinn. Der Übergang von dem sogenannten konzentrischen Weltbild des Aristoteles zu dem des homogenen Verhältnis-Raumes war ein gewaltiger Umbruch. Pascal ist, im 17. Jahrhundert und nach Abschluß dieses Überganges, ein herausragender Zeuge für seine Bedeutung, mit seinem Lamento, daß in diesem unendlichen, leeren Raum der Moderne wir nirgends Halt und Schutz finden können, verzweifeln müssen:

Le silence eternel de ces espaces infinis m'effraye...

Man könnte es auch so ausdrücken: In dem modernen Raum, diesem unendlichen, leeren, und letztlich nur durch Verhältnisse bestimmten Raum hier zu sein, an dieser Stelle zu sein im Unterschied zu einer anderen, heißt im Grund immer nur: Soundso weit von dort, soundso weit von dort etc entfernt zu sein; es heißt grundsätzlich entfernt zu sein. Während in dem alten, aristotelischen Schalen-Raum hier zu sein heißt: Von diesem und jenem und noch jenem eingehüllt sein, in dieser bestimmten warmen Höhle zu sitzen, in diesem Uterus. Das heißt natürlich nicht, daß es in der modernen Welt auf jeden Fall kalt, ungemütlich und einsam zugeht; wenn der Raum als solcher die ersehnte Geborgenheit nicht bietet, dann wird sie halt auf andere Weise organisiert, typischerweise zB durch die sogenannte Geschichte oder eine moderne Zentralheizung.

Möglichkeiten der Gestaltung

Es ist klar, daß das jetzt Unterscheidungen sind, die sich in gar keinem auch noch so schwachen Sinn umsetzen lassen in Malerei oder in die Interpretation von Malerei. Sie können erst auf einer zweiten Stufe Anregungen bieten, wenn zuvor schon gewisse Elemente in der spezifischen Räumlichkeit der Malerei analysiert sind. In diesem Ausdruck hängen nämlich gewissermaßen innerlich verschiedene Dinge zusammen, die in Wirklichkeit weit auseinandertreten können.

Letztes Mal habe ich zB unverbindlich den Raum zum Thema gemacht mit dieser Phrase vom Lösen der Figur vom Grund; ich habe - unter Vorbehalt - von der Leere um die Figur herum gesprochen, und dann eben jener Trennung von Boden und Hintergrund. Diese Zugangsweise nimmt aus der Vorstellung der Räumlichkeit ein spezifisches Element heraus und macht es zum dominierenden, nämlich die Plastizität. Daß die Figur sich gewissermaßen in sich selbst rundet und abschließt und auf diese Weise vom Grund löst (was nicht heißt, daß sie den Kontakt zu ihm verliert!). Natürlich hat das was mit Räumlichkeit zu tun, in gewissen Sinn ist das Räumlichkeit. Eine plastische Figur, egal ob als Statue oder auf der Leinwand, kann Raum erzeugen, unter Umständen mit Wirksamkeit für das ganze Bild. Sehen wir uns mal eine solche Figur von Bacon an, auf einem Bild, das jetzt sowieso sehr wichtig wird für uns, den Three Studies for the Human Body von 1967:

Abbildung 11-1. Bacon, Three Studies... (Vergrößerung in einem separaten Fenster)

Schauen Sie auf den Körper links unten: Das ist nicht weiß Gott wie raffiniert gemacht, die Mittel sind recht einfach, das Weiß der highlights sehr unbekümmert hingesetzt und so weiter; aber das ist Plastizität. Natürlich habe ich es als Beispiel auch deshalb ausgesucht, weil es meine Ausdrucksweise von der Figur, die sich in sich selbst abrundet, auch noch semantisch verifiziert, weil dieser Körper in so einer Haltung oder Bewegung erfaßt ist, wo er sich in sich selbst verschränkt. Ich zeige ein zweites Bild, sehr willkürlich, weil ich nicht nach was Besonderem suchen wollte: Die Schmiede des Vulkan noch einmal.

Abbildung 11-2. Die Schmiede des Vulkan (Vergrößerung in einem separaten Fenster)

Da sehen Sie zB zuerst einmal auf den weißen Krug rechts oben auf dem Bord, als ein Beispiel für solche Plastizität, aber dann vor allem auf den noch nicht ganz fertigen Panzer, den der Gehilfe rechts vorne bearbeitet. Unglaublich, mit welcher Intensität von diesem einzelnen, gebogenen Ding aus nicht nur Plastizität suggeriert wird - nein, diese Plastizität erzeugt richtiggehend einen Raum um die Figur herum. Und jetzt nehmen wir als drittes noch einmal den Pablo de Valladolid von Velazquez:

Abbildung 11-3. Velazquez, Pablo de Valladolid (Vergrößerung in einem separaten Fenster)

Die Figur, der Herr Pablo de Valladolid, ist in einheitliches Schwarz gekleidet; es existiert keine Linie, die den Boden vom Hintergrund trennte; und trotzdem ist die Figur ungeheuer plastisch. Zum Teil wird das durch den Einsatz der Farbe erreicht. ZB die Zeigegeste mit der rechten Hand, die ja in gewisser Weise auf etwas hinter der Figur weist, da hat er um diese Hand herum mehr Blau verwendet. Blau ist Ferne, also liegt diese Hand weiter hinten als zB die linke Hüfte des Körpers, und damit wird eine Bewegung suggeriert des ganzen Körpers, wo er auf etwas hindeutet, was rechts hinten neben ihm liegt, während er selbst sich von dort im Uhrzeigersinn nach links vorn bewegt: die rechte Hüfte scheint nach links zu schieben, die linke geht nach vorn, der linke Fuß steht schon wesentlich weiter vorn, die linke Hand weist schon wieder, in Vollendung der Spirale, auf die rechte zurück, freilich von viel weiter vorne aus. Also eine Bewegung, die ganz typisch das Freimachen eines Raumes ist, um etwas sehen zu lassen. Aber nichts von dem, von dem Raum, von dem, was hergezeigt werden sollte, etc, ist zu sehen. Es ist nur die unheimliche Plastizität der Figur da.

Aber wenn man es mit dem Körper aus den Three Studies for the Human Body vergleicht, dann ist eine auffällige Differenz, daß dort die Figur des Körpers selbst für ihre Plastizität verantwortlich ist, während hier zusätzlich die Umgebung des Körpers, mittels der Farbe, auf ihn Plastitzität überträgt.

Denken Sie ein wenig nach, und Sie werden sehen, daß in beiden Fällen noch ein weiterer Faktor eine wesentliche Rolle spielt, den wir bisher total außer Acht gelassen haben - die Bedeutung. Das ist eine große und lehrreiche Gemeinsamkeit dieser Bilder: Daß der Eindruck der Plastizität auch von einem semantischen Faktor abhängt. Wir kennen den menschlichen Körper, seine Funktionalitäten etc. Wir wissen zB - ob wir uns das je bewußt machen, ist völlig egal - um die spezielle Funktion der Gelenke für die Bewegung und damit die Orientierung im Raum. Das spielt bei dem Velazquez-Bild eine mindestens ebenso große Rolle wie die Farbe: Die Zeigegeste, das linke Knie, das auf der linken Körperseite wegstehende Dreieck des Ellbogens, der da ausfährt in der Bewegung nach vorne. Und erst recht bei dem Bacon! Da weise ich nur auf das Auffälligste hin, die Ambiguität von Oberarm und Schenkel, die als solche schon eine ungeheure innere Bewegtheit suggeriert.

Aber das will ich jetzt nicht mehr vertiefen, die Sache mit der Bedeutung. Ich weise zunächst nur hin auf die Gemeinsamkeit, die in der Plastizität besteht. Und da mache ich jetzt zwei Bemerkungen dazu, die in ganz verschiedene Richtungen gehen, von ganz verschiedenem Gewicht auch sind. Das eine ist nur eine Nebenbemerkung in unserem Gedankengang, eine wichtige Sache freilich in der Kunstgeschichte: Sie dürfen nicht völlig fraglos und umstandslos Plastizität, so wie sie hier gemeint ist, und Dreidimensionalität gleichsetzen. Ich meine, vielleicht ist letztlich kein Kraut gewachsen gegen diese Gleichsetzung, und vielleicht ist das auch ganz in Ordnung; aber es gibt Probleme und Fragen, die man sich gemacht und gestellt haben muß, um das Recht auf die Gleichsetzung zu haben.

Adolf von Hildebrand hat einen wichtigen Text geschrieben, Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893), wo er die Auffassung vertritt, daß das Auge zwei wesentliche Funktionen erfüllt bei der Wahrnehmung von Bildern: Nicht nur Sehen, sondern auch Tasten. Die Idee ist kurz gesagt diese: Wenn wir ein großes Bild von weit weg sehen, dann sind die Sehstrahlen weitgehend parallel, wir sehen einfach was da ist, wir sehen das Bild - auf einmal. Aber wenn wir ein großes Bild von sehr nahe sehen, dann sehen wir es nicht auf einmal. Selbst wenn keine Bewegung des Kopfes notwendig sein sollte, müssen wir doch die Augen bewegen, um sukzessive einen Gesamteindruck uns zu erarbeiten. Unsere Augen tasten das Bild ab. Wir sagen natürlich gleich: Claro, distincto, das ist der Unterschied von analoger und digitaler Info. Aber diese Sprache hat Adolf von Hildebrand nicht drauf gehabt. Der hat gesagt: Das ist der Unterschied von optischer und haptischer Info. Und wenn das Auge tasten muß, dann hat es den Eindruck von Räumlichkeit. Wenn man anderseits als Malerin versteht, entsprechende Reize zu setzen auf der Leinwand, die das Auge zum Tast-Verhalten bringen, auch wenn das Bild nicht besonders groß ist, dann kann man Plastizität provozieren. Das ist die Idee: Daß es sozusagen in der Figur selbst so etwas wie plastische Werte geben kann. Welche das sind, muß man natürlich erst einmal herauskriegen.

Jetzt kommt meine zweite Bemerkung, die ist sehr viel prinzipieller und wird uns weiter führen in unserem Gedankengang. Sie bezieht sich auf eine negative Gemeinsamkeit der Bilder - des Pablo de Valladolid und der Three Studies.... So intensiv räumlich im Sinne des Plastischen sie nämlich auch sind, ein anderer Sinn von Räumlickeit mangelt ihnen total. Wenn Sie sich fragen: 'Wo ist denn diese Figur?' sind Sie einfach im Rathaus. Keine Ahnung. Vergleichen Sie doch mal in dieser Hinsicht den Pablo de Valladolid mit den 'Meninas'! Erinnern Sie sich an meine langweiligen Erläuterungen darüber, welches Zimmer das ist; erinnern Sie sich an meine Erläuterungen über die wechselseitige Position der dargestellten Figuren! Herr Velazquez steht in einem seiner Zimmer, neben seiner Leinwand etc. Pablo de Valladolid steht im Raum, das ist klar, das ist meisterlich klar gemacht worden - aber wo in diesem Raum? Keine Antwort. Und bei den Three Studies... ist es genau so, wenn nicht ärger.

Also da gibt es eindeutig noch ein anderes Element in unserer Vorstellung von Räumlichkeit, das mit dieser Wo-Frage angesprochen ist. Die Zentralperspektive ist ein Mittel sozusagen, um auf einmalige Weise beides zugleich zu lösen. Die Plastizität der Dinge zu garantieren durch die Art ihrer Einbeziehung in einen Raum, der gleichzeitig die Wo-Frage erledigt.