Vorlesung 6. Repräsentation III

Inhalt
Die Meninas-Interpretation von Foucault (abschließend) und Leonhard Schmeiser
Abschließende Bemerkungen zu den Meninas

Ich habe vorige Woche mit Deutungen der 'Meninas' begonnen, mit Victor Stoichita und mit Michel Foucault. Ich zeige heute noch einmal das Bild:

Abbildung 6-1. Las Meninas (Vergrößerung in einem separaten Fenster)

Bei Stoichita haben wir uns vor allem interessiert für seine Behandlung der Frage, was der Spiegel im Hintergrund reflektiert. Er meint, es sei ein Teil des uns nicht sichtbaren Bildes, an dem der Maler arbeitet. Ich habe gesagt, sowohl in diesem Fall wie auch in dem anderen, wo es eine Reflexion des Herrscherpaares selbst ist, ergibt sich der gleiche Effekt: Daß das Bild, der Anblick, in eine Schwebe kommt gegenüber seinem Ursprung. Unter Umständen kann man das noch weiter präzisieren und sagen: In eine Schwebe zwischen natürlichem und technischem Ursprung. Ich habe gesagt: Wenn wir annehmen, daß Velazquez auf der Vorderseite der Leinwand etwas malt, wovon wir auf irgendeine Weise einen visuellen Eindruck auch in den 'Meninas' bekommen, dann müssen wir gleichwohl eine Kluft zwischen dem was er malt und dem was wir sehen akzeptieren. Wenn er das Herrscherpaar malt, dann sehen wir es weder auf dem Bild, das er malt, noch sehen wir es direkt in dem Bild das wir betrachten, sondern wir sehen es in einem Spiegel. Und wenn er die Infantin malt, dann sicher nicht zugleich so wie wir sie sehen. Es handelt sich um einen Bruch, dessen Überwindung vollständig in seiner Hand liegt, zu dessen Überwindung wir allein auf ihn vertrauen können. Also dieses unbeteiligte Schweben des Anblicks über der Alternative seiner Ursprünge wird für uns, als Interpretinnen des Bildes, zu einer sehr spannenden Frage, zu der Frage, ob Velazquez in den 'Meninas' uns sehen läßt, wie er diese Aufgabe löst.

In genau dieser Richtung hat Foucault uns dann noch weiter geführt. Seine Deutung, soweit wir sie bisher kennen, hat uns plausibel gemacht, daß die Inkongruenz zwischen dem, was Velazquez malt, und dem was wir sehen, etwas zu tun haben muß mit einer Inhomogenität in jener ersten und fundamentalen Linie des Sehens, in der unser Blick und der des Malers sich kreuzen. Das möchte ich jetzt auch noch eigens betonen, das ist nicht nur so hingesagt, daß diese Linie fundamental ist. Sondern in der Tat ist es einzig auf dieser Linie, daß man wirklich Kontakt mit dem Bild aufnehmen kann. Ich meine klarerweise ist es denkbar, daß sich jemand davor hinstellt und sich das eine Stunde anschaut und gar nicht registriert hat, daß da der Maler selber steht. Sondern diese Person hat vielleicht die ganze Zeit nur das Kleid der Infantin angestarrt; oder den Hund, weil das der einzige Hund auf der Welt ist, der meinem armen verstorbenen Hasso so ähnlich schaut. Das ist möglich. Aber wenn wir ernsthaft sagen, dieses Bild ist ein Werk der Reflexion (oder Metamalerei), dann ist ein entscheidender Punkt die Präsenz des Malers in dem Bild, und ebenso entscheidend ist, daß er zu mir her schaut, und daher werde ich den Kontakt mit dem Bild (als das was es sein will und soll) genau in dem Moment aufnehmen, wo ich mich auf diese Linie einstelle.

Sie wird von Foucault genannt die Linie der Sichtbarkeit (ligne de visibilité), obwohl wir ja wissen, daß das Besondere an ihr die Mischung, die Spannung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ist: Unsichtbarkeit des Bildes, Sichtbarkeit des Malers, Unsichtbarkeit meiner selbst, Unsichtbarkeit meines Blickes für mich selbst. Man könnte schon an dieser Stelle sagen: Die 'Meninas' zeigen den Maler bei der Arbeit der malerischen Repräsentation, wo es wesentlich immer darum geht, etwas sichtbar werden zu lassen; hier ginge es im Speziellen darum diesen Prozeß des Sichtbar-Machens sichtbar zu machen, und die Aussage scheint zu sein, daß dabei Unsichtbarkeit eine große Rolle spielt; wenn das so ist, dann ist eine der großen Herausforderungen, denen sich die 'Meninas' stellen, Unsichtbarkeit als Unsichtbarkeit sichtbar zu machen.

Die Meninas-Interpretation von Foucault (abschließend) und Leonhard Schmeiser

Abschließend zur 'ersten Linie'

Ich nehme zuerst noch den einen oder anderen speziellen Punkt hinzu von Foucault, und dann fasse ich zusammen zu dieser sog ersten Linie.

Generalisierung der Betrachterin

Ich habe schon einmal angedeutet, daß bei ihm der Unterschied sehr wohl eine Rolle spielt, ob ich als Betrachterin in der Einzahl ins Spiel komme, oder gleich als die Vielzahl aller möglichen Betrachter. Ich gebe dem Blick des Malers Bestimmtheit, gleichsam als Belohnung nimmt der Maler mich, den Unsichtbaren, in seinen Blick auf. Aber in der speziellen Weise seines Blickens werde ich aus dieser Linie zugleich auch schon wieder verdrängt. Das ist deshalb so, weil die Bestimmtheit, die ich zur Verfügung stelle, jeder andere auch zur Verfügung stellt und jeder von uns auf jeden Fall von Einem verdrängt wird, der schon vorher da war, nämlich dem Modell. Und das ist in der Tat ein Gedränge, das unmöglich aufzuheben scheint. Da gibt es keinen Zeitpunkt, an dem alle auseinandergehen und einer bleibt über - weil wir eben die andere Seite der Leinwand nicht sehen. Wir wissen ja nicht einmal, ob wir nicht selbst das Modell waren - dann verdrängen wir uns eben selbst. In diesem Sinn sagt Foucault: Wir wissen, vor diesem Gemälde stehend, und auf diese Linie fixiert, wir wissen da nicht, wer wir sind. 'Weil wir nur diese Rückseite sehen, wissen wir nicht, wer wir sind und was wir tun.'

Da schiebe ich jetzt etwas ein, einen Einspruch, den Jonathan Brown genau zu dieser Sache macht. Er scheint zu denken, daß es Foucault wesentlich darauf ankommt, daß das eine Vielheit von Betrachtern ist, und dagegen führt er ins Treffen, daß das Bild ursprünglich in einem ziemlich kleinen Raum aufgehängt war, wo man extra hingeführt worden ist, und wo man es allein oder zu zweit angesehen hat. Also das will ich nicht eingehend kommentieren, ich meine nur: Diese Generalisierung der Betrachterin, die Foucault im Auge hat, die ist nicht unbedingt davon abhängig, ob die Zahl der Betrachterinnen empirisch irgendwie beschränkt wird. Ich will damit nicht sagen, daß es nicht auch wesentlich wäre für die Möglichkeit solcher Fragestellungen, wie die faktische Praxis der Ausstellung, der Zurschaustellung von Bildern sich entwickelt hat; ich denke halt, daß Foucault offenbar voraussetzt, daß sie sich zu jener Zeit schon so weit entwickelt hat, daß auch vor einem Bild, das für eine exklusive Gruppe von Betrachtern gehängt wird, die Reflexion auf die Generalisierung der Betrachterin unausweichlich ist.

Insgesamt würde ich Foucault's Deutung bis hierher mal akzeptieren. Das ist meines Erachtens, wenn wir uns bewußt halten, daß wir die ganze Zeit nur diese eine erste Linie thematisieren, und daß in dem Bild noch ganz andere Dynamiken stecken - also unter dieser Voraussetzung halte ich das für eine recht plausible Beschreibung. In diese Position sind wir geraten, wenn wir das Bild - auf dieser einen Linie - betrachten.

Abbildung und Porträt - ein Vorgriff

Das andere ist eine Sache, die Foucault selbst nicht explizit macht. Etwas, was er in seiner Wichtigkeit glaube ich nicht erkannt hat, aber ich kann es Ihnen jetzt auch nicht erklären, sondern da muß ich noch darüber nachdenken und nachforschen. Ich habe nämlich immer gedacht, auf diese Frage würde ich erst viel später kommen in meiner Vorlesung. Es handelt sich darum, daß er zumindest an einer Stelle annimmt, daß es um ein Porträt geht. Er sagt da über das Spiegelbild im Hintergrund:

Reflet qui montre naivement, et dans l'ombre, ce que tout le monde regarde au premier plan. Il restitue comme par enchantement ce qui manque à chaque regard: à celui du peintre, le modèle ... à celui du roi, son portrait qui s'achève sur ce versant de la toile qu'il ne peut percevoir...

Sodaß also Foucault, wenn er sagt wir stehen da als Betrachter an der Stelle des Modells, das uns irgendwie fast transzendental schon immer verdrängt hat, daß er da automatisch annimmt, daß das Modell für ein Porträt sitzt. Diese Annahme ist aber alles andere als trivial. Wenn da ein Modell sitzt, dann stimmt im Prinzip seine Beschreibung, mit dem Kreuzen der Blicke etc - aber es ist überhaupt nicht klar, daß das, was entsteht auf der Leinwand, ein Porträt des Modells ist. Ich meine, ich habe das noch mit Wolfram Pichler kurz besprochen, der junge Mann, der für Caravaggio's Bacchus Modell gesessen hat, der ist ja nicht nur nicht für sein eigenes Porträt Modell gewesen, sondern für überhaupt keines. Man kann doch nicht einen Gott porträtieren. Einen Papst schon, einen Gott nicht. Aber was macht dann das Porträt zum Porträt? Da tauchen eine Menge sehr knifflige Fragen auf, habe ich den Verdacht. Also zB könnte es ja so sein, rein theoretisch, daß dieser 'Bacchus' von Caravaggio doch ein Porträt ist. Ich weiß nicht, ob der junge Mann von der Kunstgeschichte identifiziert worden ist, ich weiß also seinen Namen nicht, sagen wir er hat Sepperl geheißen. Sepperl war der Freund Caravaggio's und dieser hat sich eines Tages entschlossen, von ihm ein Porträt zu malen. Er hat sich überlegt, wie bring' ich den Sepperl am besten ins Bild, so wie er ausschaut wenn er gerade Tischfußball spielt, oder so wie er ausschaut wenn er die Kronenzeitung liest, oder so wie er ausschaut in seinem Bacchus-Kostüm? Und dann hat er das Bild gemalt und hat es 'Bacchus' genannt. Auf genau dieselbe Weise befindet sich in einem Fotoalbum bei mir zu Hause ein Foto von mir, wo ich gerade den Misthaufen im Garten zerlege, mit der großen Heugabel, Schweißtropfen auf der Stirn etc, und darunter steht groß: 'Herkules'. Das ist - wenn überhaupt eines - ein Porträt von mir, nicht von Herkules. Wenn das möglich ist, dann kann auch Caravaggio's 'Bacchus' ein Porträt von Sepperl sein. Aber es ist sehr unwahrscheinlich. Nur: Gibt es da jetzt Grenzen oder nicht? Die Porträts, die Velazquez von Philip IV gemalt hat, die sind alle eindeutig Porträts - aufgrund wovon? Das sind Fragen, die an den Nerv des Begriffes Repräsentation gehen, ganz klar. Die ganze Frage der Repräsentation spitzt sich dramatisch zu, wenn wir nicht nur von Abbildlichkeit, von mir aus getreuer Abbildlichkeit sprechen, sondern vom Porträt, der Referenz auf Einzelnes. Das ist der Grund, warum ich diese Bemerkung überhaupt mache, da kommen wir gleich noch einmal darauf. Aber generell zu Problemen des Porträts muß ich mir noch Genaueres überlegen, wie gesagt, und da werde ich auch den direkten Zusammenhang mit Bacon herzustellen versuchen.

Zusammenfassung zur ersten Linie

Zusammenfassend zu der sog ersten Linie würde ich also sagen, daß das, was wir bis jetzt von Foucault gehört haben, als Präzisierung aufgefaßt werden kann eines Gedankens, den wir bei Stoichita gefunden haben. Ich habe das genannt die Loslösung des Bildes (im Sinne von Anblick) aus seinem genetischen Zusammenhang - der Anblick schwebt sozusgen über allen alternativen Möglichkeiten seines Herkommens, unbekümmert. Da gibt es diesen paradoxen Abstand zwischen dem Bild im physischen Sinn der Leinwand, die bemalt wird, und dem Anblick, dessen man darauf gewahr wird - oder eben in einem Spiegel oder aufgrund sonst irgendeiner Verdrehung der Lage: Der Anblick ist immer derselbe. Der Maler synthetisiert das, die Technik. Aber wie, das ist das Geheimnis. Und jetzt haben wir endlich wieder einmal ein Bild vor uns, das dieses Geheimnis auszuplaudern verspricht, das uns zu zeigen verspricht, woraus dieser Abstand eigentlich besteht, was für eine Art von Kluft es ist. Ist es ein Wassergraben, über den ein Pferd springen kann? Ist es die Grenze von Diesseits und Jenseits? Ist es der Unterschied zwischen dem Namen und dem Ding, dieser unendliche Unterschied? Die 'Meninas' zeigen es her, in der Tat, ganz offen. Das ist die gute Nachricht. Die andere Nachricht, ich will nicht sagen daß es eine schlechte ist, aber sie ist anders - die andere Nachricht also ist: Was den Abstand zum Abstand macht, das ist die Unsichtbarkeit. Die Differenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Er zeigt her, was es ist, aber leider: es ist halt die Unsichtbarkeit. Die Synthese, die der Maler meistert, ist eine Passage von einer Unsichtbarkeit zu einer anderen Unsichtbarkeit, die durch eine Sichtbarkeit hindurchgeht gewissermaßen, und in dieser Passage besteht das Sich-Loslösen des Anblicks. Meine oder unsere Unsichtbarkeit, am anderen Ende die Unsichtbarkeit der Vorderseite der Leinwand; beide sind koordiniert durch den Meister den Maler, der sozusagen den sichtbaren Anblick aus dieser Passage zu pflücken gelernt hat und ihn schweben lassen kann wo er will.

Das ist eine Präzisierung, dem werden wir weiter nachgehen. Abbildlichkeit, erzielt durch eine Passage durch mehrfache Unsichtbarkeit hindurch. Und ich glaube, irgendwann werden wir auch diese Einsicht auf Bacon zurückbeziehen können; ich glaube, seine Parole, daß er direkt von seinem Nervensystem abmalt, die hat vor allem einen negativen Sinn. Daß er nämlich einer Versuchung nicht nachgeben will, der Versuchung, den Platz dieser Unsichtbarkeit durch Surrogate der Sichtbarkeit zu besetzen. Es gibt eine Sehnsucht, diese Unsichtbarkeit zu verleugnen, sie auszumalen gewissermaßen. ZB das sogenannte Sehbild, oder alle möglichen Sachen wie Körper- oder Bewegungsschema: Das sind Versuche, wenigstens kontinuierliche Übergänge sich einzubilden oder auszudenken, die diese Kluft mildern.

Eine zweite Linie

Aber das lasse ich für später, jetzt nehmen wir mal eine Erweiterung vor. Wir nehmen eine zweite Achse hinzu: Die Verbindung zu dem Spiegel im Hintergrund. Diese Linie läuft quer zu der ersten, sie schneidet sie in einem fast rechten Winkel. Sie trifft auf den vorderen Bildrand senkrecht auf, aber die Verlängerung der verkehrten Leinwand wird sie schon vorher in einem Winkel von sagen wir 40 Grad getroffen haben, schräg. Sie geht durch den ganzen Raum hindurch, der von der schrägen Leinwand dominiert wird. Es ist wichtig, in welchem Maß diese Achse quer zu dem ganzen Realitätsanspruch des schrägen Raumes steht. Auf dem Spiegel ist nichts zu sehen, was in diesem Raum ist. Ich möchte nicht sagen, daß der Spiegel den Realitätsanspruch dieses Raumes verneint oder dergleichen, er ist nur in auffälliger Weise nicht um ihm bekümmert. Das wird dadurch verstärkt, daß auch die Umkehrung gilt. Also nicht nur ist in dem Spiegel nichts zu sehen, was in dem Raum zu sehen ist, sondern das was er spiegelt, kann in diesem Raum auch der Möglichkeit nach nicht untergebracht werden. Wäre das Spiegelbild ein normaler Teil des Raumes, gehörte es dem Raum an, dann müßte es sich natürlich den Gesetzen dieses Raumes fügen, und dann müßte es, das steht ohne allen Zweifel fest durch alle entsprechenden Untersuchungen, auch wenn ich es Ihnen jetzt nicht demonstrieren kann - ja dann müßte es also etwas zeigen, was wir auch so in dem Raum verorten können. ZB den Rücken der Infantin.

Ich habe vorige Woche gesagt, der Raum in Verlängerung der vorderen Bildwand ist ein realer Raum, historisch real. Das war in der Diskussion der ersten Linie. Und das gilt natürlich auch weiter, das ändert sich nicht. Aber das, worauf der Spiegel reflektierend bezogen ist, kann diesem realen Raum nicht angehören - sonst müßten wir eben die Rückseite der Infantin sehen oder noch ein paar andere Dinge, die in diesem realen Raum für uns entweder direkt sichtbar sind oder aufgrund dessen, was wir in ihm sehen, eindeutig verortbar. Aber so ist es nicht. Diese Linie ist imaginär. Sie ist nicht primär, wie die andere, eine Linie der Sichtbarkeit, sondern eine Linie der Imagination. Ich kann das vielleicht noch durch einen Kontrast ein wenig deutlicher machen, der gegenüber einem anderen berühmten Bild von Velazquez besteht, 'Venus und Cupido', ich weiß nicht von wann das ist, aber auch ein späteres Werk jedenfalls:

Abbildung 6-2. Velazquez: Venus und Cupido

Hier ist auch sehr delikater Gebrauch gemacht von dem Spiegel, nämlich wenn man da nachmißt kommt man drauf daß der Spiegel, wenn die Venus hineinschaut, eigentlich nicht ihr Antlitz, sondern ganz was anderes zeigen müßte, einen anderen Teil ihres Körpers. Ihr Gesicht kann in dem Spiegel nur von einem anderen Standpunkt aus gesehen werden, und damit ist also die Anwesenheit einer weiteren Person in dem realen Raum des Bildes impliziert. Ich will dieses Bild jetzt überhaupt nicht interpretieren oder mich auch nur der Frage nach irgendwelchen Zweideutigkeiten stellen, ich zeige es nur um des Kontrastes willen: Hier zeigt der Spiegel etwas, was im realen Raum des Bildes sichtbar ist, und daß er in diesem Zeigen eine Abweichung eingebaut hat sozusagen, das bedeutet noch lange nicht, daß er uns in ein Reich des Imaginären verweist, sondern das verlangt von uns nur, daß wir in unsere Rekonstruktion dieses realen Bildraumes gewisse zusätzliche Elemente oder Strukturen aufnehmen. Bei der imaginären Linie in den 'Meninas' ist das anders.

Das heißt aber nicht, daß sie nicht eine eigentümliche Macht hätte. Ganz und gar nicht. Sie hat zB die Macht eine Vieldeutigkeit aufzulösen, die in dem Raum unauflösbar ist, der von der schrägen Leinwand und der sog Linie der Sichtbarkeit abhängt: Das Gedränge an der Stelle, wo wir sind. Ich bin es, den der Maler anblickt; aber er blickt jeden anderen, der die 'Meninas' betrachtet, genau so an, also ist es auch jeder andere; und jeder andere, mich eingeschlossen, muß denken, daß auf jeden Fall vor ihm oder ihr schon ein Bestimmter oder eine Bestimmte da war, das Modell; wobei aber nicht klar ist, wer dieses Modell ist. Das habe ich als unaufhebbares Gedränge beschrieben. Dieses Gedränge wird durch die Linie der Imagination disambiguiert. Der König war das Modell. Egal, ob sich jetzt in dem Spiegel der König selbst oder das Porträt des Königs auf der unsichtbaren Seite der Leinwand spiegelt: Das Modell ist der König. Der König ist dadurch definiert, daß nicht einer vor ihm da gewesen sein kann. Oder anders ausgedrückt: Wo der König zu sehen ist, da ist nicht ein anderer das Modell gewesen, und der König ist nur zufällig auch im Bild. Das gibt es nicht.

Wenn dieser Umstand einmal registriert ist, muß man vor allem zwei Konsequenzen beachten. Das erste ist eine Problemstellung eher als eine Tatsache. 'Der König ist das Modell gewesen' - dh einerseits, daß er der Erste gewesen ist und immer bleiben wird an dieser Stelle, wo für uns andere ein Gedränge ist. Und irgendwie ist er damit der Ursprung in jener Repräsentationsbeziehung, die in den 'Meninas' die Dramatik ausmacht. Ich meine klarerweise ist der Ursprung des Bildes der Infantin, das wir hier auch sehen, die Infantin. Aber da liegt nicht die Dramatik der 'Meninas'; die 'Meninas' sind nicht eine Addition eines Bildes wie das im KHM, das ich schon vorige Woche erwähnt habe, und eines Bildes von Velazquez, und eines Porträts des Herrscherpaares, und des Porträts eines Zwerges, und des Porträts noch eines anderen Zwerges - ich sage das gerade deshalb, weil Velazquez so bedeutende selbständige Porträts von Zwergen am Hof gemalt hat. Die Dramatik der 'Meninas' ist eben nicht die, daß ein Gott eine unangenehme Nachricht bringt, wie in der 'Schmiede des Vulkan', oder daß ein Lauser die anderen zwei Lauser beim Kartenspielen beschwindelt, sondern die Dramatik ist die der Repräsentation selbst, das steht außer Zweifel. Und da kennen wir nun einen Ursprung, einen relevanten Ursprung. Das Vertrackte ist allerdings, daß dieser Urprung nur auf einer Linie der Imagination fixiert werden kann. Aber dieses Vertrackte hat auch etwas Realistisches, nämlich wenn wir sagen der König war das Modell im Sinne des Ursprungs, dann steckt da ja auf jeden Falle eine Spannung drin: Modell und Original zugleich zu sein. Das ist eine wesentliche Botschaft der 'Meninas', glaube ich, uns auf diese Spannung aufmerksam zu machen. Ein Modell einer Sache oder Sachlage, das ist ja gerade das Andere des Originals, ein Bild das wir uns behelfsmäßig davon machen, wie es sein könnte. Und zugleich haben wir uns total daran gewöhnt, daß in der Malerei alles anders herum liegt: In ihrer Sprache treten Modell und Bild auseinander, ist das Modell das Original; und wer da durcheinanderkommt, diese Verschiebung nicht mitkriegt und etwa glaubt, daß daher das Bild das Original ist, der wird damit bestraft, daß er zur Figur in einem Roman von Oscar Wilde wird oder so. Das Bild selber kann man natürlich aus einem anderen Gesichtspunkt auch als Original betrachten, aber daß das ein völlig anderer Gesichtspunkt ist erkennt man ja schon allein daran, daß niemand sagen würde, es sei das Original seines Modells.

Gerade weil wir so daran gewöhnt sind, daß in der Sprache der Malerei sich alles umkehrt, sollten wir die Gelegenheit nutzen uns daran zu erinnern, daß das alles andere als selbverständlich ist. Ich will jetzt bewußt den Begriff des Porträts als solchen, wie ich ihn am Anfang der Stunde angesprochen habe, aus dem Spiel lassen. Auch mit dieser Einschränkung bleibt es doch eine enorm spannende Frage: Wenn ich da Modell sitze, und der Maler malt mich ab - wer garantiert mir, daß ich als Modell auch das Original der Darstellung bin, und daß ich nicht nur, wie man so sagt, meinen Anblick hergebe, leihe, für die Darstellung eines oder einer Anderen? Ich will nicht sagen, daß das nicht garantiert werden kann, aber es ist eine nicht-triviale Frage. Der Bub, der für Caravaggio gesessen hat, was hat dessen Rolle als Modell für einen Anspruch, das Original zu sein?

Und jetzt schauen Sie sich diese Sache aber mal von der anderen Seite her an, von der des Königs: Wer garantiert dem König, daß das Bild, für das er das Modell ist, als ein Bild seiner selbst aufgefaßt werden wird, unzweideutig? Wer garantiert ihm das, daß er nicht bloß Modell, sondern als Modell auf jeden Fall auch Original ist? Das garantiert ihm kein Naturgesetz; das garantiert ihm seine Macht, und zwar insbesondere die Macht, die er über die Repräsentation hat. Diesen Punkt wollen wir uns unbedingt merken, die Überlegenheit der Macht gegenüber den natürlichen Voraussetzungen der Repräsentation: Quer zu allen natürlichen Voraussetzungen, die mit der realistischen Darstellung des Raumes in den wir hier schauen gegeben sind, quer zu allen diesen Voraussetzungen dringt die Macht vor in das Zentrum der Repräsentation. Und das ist alles sehr real auszubuchstabieren, zu dieser Macht gehört der Herr Velazquez, der andere Herr Velazquez, deren Aufgaben, die Strukturen innerhalb derer diese beiden ihre Aufgaben wahrnehmen, der ganze Hof etc. Und wohlgemerkt, es ist eine Macht, der noch wir uns fügen, wenn wir so ein Bild anschauen wie das Porträt Philips in Braun und Silber. Da wissen wir genau, daß nicht einer sich hingestellt hat um es möglich zu machen daß es von einem anderen ein Bild gibt. Aber die 'Meninas' sind nicht einfach ein weiteres Exempel dafür, die stellen das dar, und insofern stimmt es auf jeden Fall, was Foucault da an weiter gehenden Ansprüchen angemeldet hat:

Vielleicht gibt es in diesem Bild von Velazquez gewissermaßen die Repräsentation der klassischen Repräsentation und die Definition des Raums, den sie eröffnet. Sie unternimmt in der Tat, sich darin in all ihren Elementen zu repräsentieren, mit ihren Bildern, den Blicken, denen sie sich anbietet, den Gesichtern, die sie sichtbar macht, den Gesten, die die Repräsentation entstehen lassen. ....

Also wir haben den König als Ursprung, aber nur auf der Linie der Imagination. Das ist wesentlicher Teil der Botschaft: Ich, der König, muß mich nicht den Gesetzen einer vorgegebenen Realität unterwerfen; ich brauche keine Garantien von einer realistisch darstellbaren Realität; auch wenn ich auf einer imaginären Achse eindringe in das Geschehen, kann ich mich als Ursprung geltend machen. Und vergessen Sie nicht, die Fixierung des Königs als Ursprung, als Modell, die hebt keineswegs auf jene Ablösung seines Anblicks im Spiegel von seinen beiden alternativen Ursprüngen.

Nun, wir haben die Besonderheit der 'Meninas' hervorgehoben als eines Bildes, das diese Komplexitäten selbst darstellt. Insofern könnte man sagen, daß Velazquez auch schon etwas ausplaudert über diese Machtverhältnisse der Repräsentation, und womöglich daß er kritisch sich verhält ihnen gegenüber. Lassen Sie mich deshalb eigens hervorheben, daß er selbst auf der Ebene der reflexiven Darstellung der Machtverhältnisse dem König noch immer die zentrale Position zuweist. Auch für den tatsächlichen Aufbau der 'Meninas' selbst ist die Erscheinung des Königs im Spiegel der Schlüssel.

Ich habe schon mal gesagt: Wenn wir von reflexiver Malerei oder von Metamalerei reden hier, dann ist ja noch immer die Frage, was ist der Punkt, die Dimension der Reflexion? Und ich habe bemerkt: Es kann ja nicht das Faktum allein sein, daß man einen Mann sieht, von dem wir wissen, daß es der Velazquez war, und der hält Pinsel und Palette in den Händen. Da gibt es tausenderlei Möglichkeiten, was Reflexivität sein und heißen kann, ich erinnere an meine Erinnerung an Wolfram Pichler's Arbeit über Caravaggio, wo es um den Rückbezug auf die Materialität geht, in der die Malerei sich realisiert. Hier aber ist es doch was sehr viel anderes, und ich glaube es ist inzwischen ein Gefühl in uns allen erwacht dafür, was es ist. Der Witz des Bildes besteht darin, daß es uns einen ganz bestimmten Punkt anbietet, von dem aus wir es sehen sollen, und dann macht es uns klar, daß dieser Punkt sozusagen multipel ist: Da steht das Modell, der Maler und der Betrachter. Das Modell, der Maler und der Betrachter sind elementare Konstituentien der Repräsentation. Man kann nicht mit derselben Sicherheit sagen, daß sie Konstituentien der Malerei sind - vielleicht ist eine Malerei ohne Modell (in diesem Sinne von Modell) möglich; hier geht es speziell um die repräsentative Malerei. Alle drei aber sind prinzipiell ausgeschlossen aus dem Bild - gerade so weit ein Bild die Wirklichkeit abbilden will, kann es die alle drei nicht abbilden. Sie stehen außerhalb in einem fast transzendentalen Sinn. Aber wie macht Velazquez uns das klar, bei gleichzeitigem Anspruch auf Realismus? Wie bezieht er dieses Transzendentale in den Bildraum ein? Es ist der König, der hier entscheidet. Er ist das Modell plus Original, rechts und links von ihm der Maler und der Betrachter. Das ist hier ein Punkt, den besonders deutlich Leonhard Schmeiser in dem Essay gemacht hat, den ich in die Literaturliste aufgenommen habe. Er stellt fest, daß zunächst einmal diese drei Ausgeschlossenheiten in den 'Meninas' tatsächlich manifest werden als drei Elemente, die auf je eigene Weise aus dem Raum hinaus weisen oder ragen oder dgl - die Geschlossenheit des Raumes sprengen. Das ist vielleicht der beste Ausdruck: Sie sprengen die Geschlossenheit des Raumes, haben daher etwas mit Ausgeschlossenheit zu tun. Die Rückseite der Leinwand als eine Grenze der Sichtbarkeit; der Spiegel als Erweiterung des Raumes nach hinten; und die offene Tür, die tatsächlich einen anderen Raum sehen läßt. Und diesen drei Ausgängen aus dem Bild sind die drei Funktionen seiner Konstitution, der Konstitution seiner Repräsentation, exakt zugeordnet: Wenn einmal der König als Modell fixiert ist, dann ist Velazquez der Maler - und der andere Velazquez ist der Betrachter. Ganz klar: Er steht an der Schwelle zu einem anderen Raum; dem König genügt die Einflugschneise durch einen imaginären Raum, um die Repräsentation zu begründen; und der Maler steht zwar mitten im Raum drin, aber genau an einer Grenze von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit (direkt neben dieser Leinwand!) und realisiert die Repräsentation technisch. Vergessen Sie nicht: Der Jose de Nieto Velazquez ist ja vor allem insofern Betrachter, als er als Einziger, den man auf dem Bild sieht, sehen kann was auf dem Bild ist, an dem der Maler Velazquez arbeitet. Schmeiser führt das dann weiter vor allem im Sinne des Gegensatzes von Theorie (Betrachtung) und Technik, aber das verfolgen wir nicht mehr. Mir ist es darauf angekommen zu zeigen, daß die Dramatik der imaginären Linie gleichwohl sehr reale Folgen hat im Aufbau der 'Meninas'.

Es gibt noch einen weiteren Punkt des Zusammenhanges zwischen der imaginären Linie und dem realen Raum des Bildes: Das ist die Beziehung des Herrscherpaares zur Infantin. Die Eltern stehen oberhalb der Tochter, sie sind der Ursprung der Tochter. Aber in der Logik des Bildes findet das einen sehr scharfen Ausdruck, an der Grenze der Paradoxie: Denn in der Logik des Bildes ist die Tochter selbst vorhanden, sie selbst ist gemalt, während von den Eltern da nur ein Spiegelbild ist - gemalt ist. Die Infantin ist sozusagen als Sproß der Kopien der Eltern dargestellt. Das ist noch einmal ein zusätzliches Gewicht auf der realen Bedeutung des Imaginären.